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Ein Tag schreibt Geschichte: Die Erfindung des Kunststoffs

5. Februar 1909: Es fällt der Startschuss für den Plastic Planet, auch wenn das Material, das Leo H. Baekeland vorstellt, vorerst ein wenig unerotisch ausschaut.
Text: Wolfgang Hofbauer, Fotos: akg-images/picturedesk.com / 4 Min. Lesezeit
Ein Datum schreibt Geschichte der erste Kunststoff Bakelite Foto: akg-images/picturedesk.com
Leo H. Baekeland: 1909 präsentierte er das Bakelite und im September 1924 schaffte es der smarte Erfinder sogar auf das Cover des TIME Magazins.
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ES WAR AM BITTERKALTEN 5. FEBRUAR 1909, als die Welt in ein neues Zeitalter trat, wir nennen es heute das Plastikzeitalter. In den vornehmen holzgetäfelten Räumen der New York Local Section der American Chemical Society in der 55. Straße hielt ein 46 Jahre alter Mann einen Vortrag: Leo Hendrik Baekeland.

Als er fertig war, sprangen die Honoratioren der Chemie (und ein paar Journalisten) auf und spendeten standing ovations. Sie hatten begriffen, dass hier Außerordentliches verkündet worden war. Baekeland hatte ihnen den ersten vollsynthetischen Kunststoff gezeigt.

Die Lage damals war nämlich diese: Die Welt stand am Beginn einer vollkommen von Technologie und Konsum geprägten Zeit. Allein: Es fehlte das Material. Die Vielfalt der Produkte war buchstäblich am Explodieren, alles stand unter Strom – auch das im Wortsinn. Die einzige alternative zu Holz oder Eisen oder Glas war Schellack, ein schrecklich umständlicher Stoff, gewonnen aus den Ausscheidungen von Lackschildläusen – für ein Kilo Schellack 300.000 Läuse! Und auch das Problem mit dem Strom war noch nicht gelöst – wie nämlich die gefährlichen Leitungen isolieren? Diese fortschrittsbehindernden Probleme konnten am Abend des 5. Februar 1909 als gelöst bezeichnet werden.

Leo Hendrik Baekeland, der Schöpfer des neuen, die Welt verändernden Materials, besaß ausreichend Selbstbewusstsein, es nach sich selbst zu benennen, und bis heute heißt es so: Bakelit. Es ist Baekelands Verdienst, dass dieser erste echte Kunststoff, ein Gemisch aus Phenol und Formaldehyd, verwendbar auf den Markt kommen konnte. Es ist aber nicht so, dass er ihn aus dem nichts heraus geschaffen hätte.

Baekeland stand auf den Schultern mehrerer Chemiker, die vor ihm nur aufgrund von Details nicht zum gewünschten Ergebnis gelangt waren. Er war jedoch um jene Nuance smarter, die manchmal dem einen den großen Erfolg sichert und die anderen in die Bedeutungslosigkeit schickt.

Er war auch konditionell stärker als die Konkurrenz. Schon sein Entschluss, Chemiker zu werden, musste gegen Widerstände durchgesetzt werden. Der Vater des 1863 im belgischen Gent geborenen Baekeland war Schuster, die Mutter Dienstmädchen. Der Vater wollte, dass auch der Sohn Schuster wird. Die Mutter aber hatte Ambitionen, als Dienstmädchen kommt man ja herum und sieht, wie es anders geht. Leo Hendrik ging also aufs Gymnasium, begann mit 17, Chemie zu studieren, war mit 21 Doktor (summa cum laude) und mit 26 Professor.

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Es war eine Art Zufall: Ich hatte nicht vor, Plastik zu erfinden.

Leo H. Baekeland, Erfinder des Bakelite

Dem ein wenig provinziellen Gent entfloh er für ein Studienjahr in die USA – und kehrte nicht mehr zurück. Baekeland heuerte als Chemiker in einer fotochemischen Fabrik an, wurde dann Professor an der Columbia University, gründete ein eigenes Chemie­Unternehmen, das sich mit Fotografie beschäftigte und nicht besonders gut lief, erfand dabei aber ein Fotopapier, das auch bei Kunstlicht funktionierte. Und es ließ sich schnell entwickeln. Baekeland nannte es Velox.

George Eastman, der Gründer und Besitzer von Kodak, war beunruhigt vom Konkurrenzpotenzial der Erfindung, also versuchte er, Baekelands Firma und die Rechte an dem Papier zu kaufen. Baekeland hatte vor, sich vom großen Eastman keinesfalls über den Tisch ziehen zu lassen und nicht unter 25.000 Dollar zu gehen. Eastman bot 750.000 Dollar.

Und hier beginnt das zentral Ungewöhnliche in Baekelands Biografie. Mit einem Schlag, im idealen Alter von 35 Jahren, war er reich und vor allem: unabhängig. Es begann, wie er selbst sagte, die glücklichste Zeit in seinem Leben, und sie führte geradlinig zu jenem Abend in der 55. Straße. Baekeland kaufte eine komfortable Villa in Yonkers nördlich von New York und richtete sich in einem Nebengebäude ein Labor ein, um mit einem Assistenten, man kann es so einfach ausdrücken: das Bakelit zu erfinden.

Ich versuchte etwa sehr Hartes zu machen, aber dann dachte ich, ich sollte stattdessen etwas richtig Weiches erfinden, dass man in verschiedene Formen modellieren konnte. Dann wurde es der erste Kunststoff – ich nannte ihn Bakelite.

Leo H. Baekeland, Erfinder des Bakelite

In einem großen, natürlich Bakelizer genannten Kessel, der aussah wie ein U­-Boot in einem Jules­Verne-Film, experimentierte er mit Druck und Hitze, fügte Natronlauge und andere Stoffe hinzu. 1907 war es so weit. Baekeland hatte ein Material geschaffen, das nicht brannte, nicht schmolz, sich in Säuren nicht auflöste, sich gut formen ließ und elektrischen Strom nicht leitete. Noch im selben Jahr ließ er den Stoff als Bakelit patentieren.

Nach der Präsentation im Februar 1909 ging er an die wirtschaftliche Verwertung seiner Erfindung und gründete die Bakelite GmbH mit Sitz in Deutschland sowie die General Bakelite Company in New Jersey. Von Anfang an wurde Bakelit kopiert, doch Baekeland klagte jeden wegen Patentverletzung und bekam stets Recht. Er war jetzt nicht mehr reich, sondern steinreich. 1915 kaufte er eine 20­Meter­Yacht und ein Haus in Florida. Er betrieb Weinbau, beriet die amerikanische Regierung, züchtete exotische Pflanzen und ließ auf Nachfrage stets verlauten, dass ihm an Luxus eigentlich nicht viel liege. 1939 verkaufte er sein amerikanisches Unternehmen um 16,5 Millionen Dollar.

Schon 1927 war der Patentschutz ausgelaufen, und von da an wurde Bakelit von tausenden Herstellern auf der ganzen Welt für eine Unzahl von Produkten hergestellt und verwendet: Steckdosen, Lichtschalter, Radios, Telefone, Bürogeräte, Schüsseln, Aschenbecher waren aus Bakelit, sogar die Karosserie des DDR­Autos Trabant bestand großteils aus einem bakelitähnlichen Material. Für Gebrauchsgegenstände wurden mit der Zeit bessere Werkstoffe erfunden, zum Beispiel Polyethylen, PVC, PET und viele andere. In Isolatoren, Fassungen, Bindemitteln und Schaltern lebt Bakelit aber bis heute fort. Und es lebt, wie alle Kunststoffe, die nicht recycelt werden, als nahezu unverwüstliches Material in den ökologischen Kreisläufen fort.

Baekeland war so gesehen auch der Erfinder des Kunststoffproblems. Im Pazifik etwa treiben viele Millionen Tonnen Kunststoffmüll im Kreis, darunter natürlich auch Bakelit­Teile. Sie werden zwangsläufig von Tieren aufgenommen, die daran verenden. Davon konnte der Schustersohn aus Gent, der 1944 ebenso wohlhabend wie hoch geachtet starb, natürlich noch nichts ahnen.

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