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Das Café zum Weißen Hai

Eine einsame Insel im Pazifik vor Mexiko hat sich als weltweit einzigartiger Tummelplatz für große Weiße Haie herausgestellt. Meeresbiologen verbringt dort viel Zeit, um ihr noch weitgehend rätselhaftes Verhalten zu erforschen.
Text: Andreas Wollinger, Fotos: Ernst Koschier / 12 Min. Lesezeit
Begegnungszone mit dem Weißen Hai. Foto: Ernst Koschier
Begegnungszone mit dem Weißen Hai.
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Der Käpt’n stellt den Motor ab und wirft den Anker. Sanft schaukelt das kleine Boot in der weitläufigen Bucht im Nordwesten der Insel Guadalupe. Vom Ufer, wo rötlich braunes Vulkangestein steil und schroff in den Himmel ragt, weht das bellende Gebrüll der Robbenkolonien herüber. Der Ankerplatz heißt Monkey Face, weil im Felsen gegenüber zwei kreisrunde Ausbuchtungen zu sehen sind, die mit viel Fantasie als Nasenlöcher eines Affengesichts durchgehen. Am Ende der Bucht erhebt sich ein einzelner Felsen aus dem Wasser, der aussieht wie die Rückenflosse eines Hais. Eine Laune der Natur, die in diesem Fall als eine Art Ortsschild verstanden werden kann. Denn hier, 240 Kilometer westlich der Küste Mexikos, findet vom Spätsommer bis tief in den Winter die weltweit vermutlich größte Versammlung von Weißen Haien statt. Im Wasser unter uns wimmelt es nur so vor ihnen, 130 Exemplare sind an dieser Stelle bereits identifiziert worden.

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Beeindruckende Nahaufnahme eines Hai-Gebisses. Foto: Ernst Koschier
Beeindruckende Nahaufnahme eines Hai-Gebisses.

Den Haien auf der Spur

Für die meisten Menschen ist das wohl eine grauenhafte Vorstellung. Nicht für Mauricio Hoyos. Der Meeresbiologe ist genau deshalb hier, es sind die idealen Bedingungen für seine Arbeit. Er sammelt Gewebeproben der großen Räuber, um damit ihre Ernährungsgewohnheiten und ihre genetische Verwandtschaft zu ermitteln. Und er bestückt sie mit allerhand Sendern, um damit ihr Verhalten unter Wasser verfolgen und wissenschaftlich dokumentieren zu können.

Doch dafür muss er die Haie erst einmal zu seinem Boot locken. Den Köder, einen großen Thunfisch, hat er vor ein paar Tagen selbst gefangen. Hoyos entspricht nicht wirklich dem landläufigen Bild des Wissenschafters: Er ist eher der Typ Naturbursch, rabenschwarzes Haar unter einer türkisgrünen Baseballmütze, Bermudashorts, T-­Shirt.

Die Menschen werden jenes Ding verfolgen, vor dem sie am meisten Angst haben.

Leonardo da Vinci

Jetzt befestigt er den Schwanz des Thunfischs an einer signalgelben Boje und wirft das Arrangement in hohem Bogen ins Wasser. Das laute Platschen soll die Haie ebenso reizen wie das Fischblut; „das macht sie ganz verrückt“, sagt Hoyos. Wären wir in Hollywood, müsste jetzt sekündlich eine rasende Bestie die Wasseroberfläche durchbrechen und gierig nach dem Appetithäppchen schnappen, wenn nicht gleich nach dem Boot.

Doch vorerst geschieht: nichts. In aller Ruhe bereitet die Bootsbesatzung ihr Werkzeug vor. Mauricio Hoyos legt sich eine etwa zwei Meter lange, golden glänzende Aluminiumstange zurecht, an deren Ende sich eine Vorrichtung befindet, mit der er später dem Weißen Hai eine Biopsieprobe herausstanzen wird. Seine Assistentin, eine angehende Meeresbiologin aus Hawaii, macht die Videokamera klar. Die Mittzwanzigerin studiert an der Uni San Diego und ist für ein paar Wochen bei Hoyos zu Besuch, um von ihm zu lernen. Sie heißt, man glaubt es kaum, Ocean. Ocean Dawn Ramsey.

Forscher Hoyos und Assistentin Ocean bei der Arbeit. Foto: Ernst Koschier
Forscher Hoyos und Assistentin Ocean bei der Arbeit.

In Wahrheit sind sie ziemlich vorsichtig und handeln sehr überlegt, außerdem sind sie sehr heikel beim Fressen.

Mauricio Hoyos, Meeresbiologe

Wider Erwarten zieren sich die Haie eine gefühlte Ewigkeit. „Oft taucht auch wochenlang keiner auf“, seufzt Hoyos, „in Wahrheit sind sie ziemlich vorsichtig und handeln sehr überlegt, außerdem sind sie sehr heikel beim Fressen.“ Immer wieder holt Ocean den Köder ein, schabt mit dem Messer ein paar Fischfasern als zusätzliche Verlockung ins Wasser. Kurz darauf landet er wieder klatschend im Meer.

„Shark! Shark! Shark!“, ruft da der Käpt’n, ein ansonsten wortkarger Mexikaner. Es klingt nicht panisch, sondern freudig erregt. Und wirklich: Aus dem Blau des Pazifiks löst sich ein riesenhafter Schatten, eine gewaltige Rückenflosse schneidet durch die Wasseroberfläche. Vorsichtig zieht der Käpt’n an der Leine mit dem Köder, bis der Hai ganz nah beim Boot ist. Sein mächtiger Körper ist kaum kürzer als dieses. Mit einer blitzschnellen Handbewegung sticht Mauricio Hoyos seine Lanze nach unten, sie trifft den Hai im Bereich der Rückenflosse. Ocean filmt indes alles mit. Die Kamera ist an einer langen Stange montiert, damit sie den Fisch auch unter Wasser aufnehmen kann – anhand der Bilder soll das Tier später zweifelsfrei identifiziert werden können. Nach ein paar Sekunden ist der Spuk vorbei. Erschrocken ist der Weiße Hai in die Sicherheit der Tiefe abgetaucht.

„Das Entnehmen der Probe spürt er fast gar nicht“, erklärt Hoyos. „Das ist für ihn nicht mehr als für uns ein Moskitostich.“ Sofort macht sich der Forscher an die Arbeit: Die Probe muss, getrennt in Haut- und Muskelgewebe, in Glasröhrchen gefüllt, dokumentiert und sauber verstaut werden. Jeder Hai bekommt einen Namen und ein eigenes ID-Blatt, auf dem Hoyos alle verfügbaren Daten vermerkt.

Ultraschallsender: Damit lassen sich die Wege der Haie verfolgen. Foto: Ernst Koschier
Ultraschallsender: Damit lassen sich die Wege der Haie verfolgen.

Das Entnehmen der Probe spürt er fast gar nicht. Das ist für ihn nicht mehr als für uns ein Moskitostich.

Mauricio Hoyos, Meeresbiologe

Zwei-, dreimal wiederholt sich das Schauspiel an diesem Vormittag, und nicht jede Aktion ist von Erfolg gekrönt. Einmal umkreist der Hai den Köder bloß unschlüssig, bevor er wieder verschwindet; ein anderes Mal dringt die Lanze nicht tief genug ein, um das für die DNA-Analyse wichtige Muskelgewebe zu gewinnen.

Vielleicht, überlegt Mauricio Hoyos in einer der langen Wartepausen dazwischen, sollte man den Gehörsinn der Haie stimulieren. Bald darauf dröhnen die scharfen Gitarrenriffe von AC/DC aus den Boxen der Bordanlage über die einsame Bucht. Es ist die Lieblingsband des Haiforschers. Und auch der Titel ist dem Anlass bemerkenswert angemessen: „Highway to Hell“.

ID-Karten für Haie und Ultraschallempfänger. Foto: Ernst Koschier
ID-Karten für Haie und Ultraschallempfänger.

Der Mytos einer Bestie

Bei den meisten Menschen löst der Weiße Hai – wissenschaftliche Bezeichnung Carcharodon carcha- rias – reflexartig Angstzustände aus, die mitunter auch in Panik kippen können. Hauptsächlich liegt das an dem Hollywoodknüller „Jaws“, den Meister-Regisseur Steven Spielberg 1975 in die Kinos brachte. Seither ist der Weiße Hai im Menschheitsgedächtnis als brandgefährliche Killermaschine, als Gottseibeiuns der Weltmeere fix verankert.

Der Spezies bekam der Ruf als menschenfressende Bestie nicht besonders gut. Jahrzehntelang wurde das vermeintliche Monster gnadenlos gejagt, Trophäen wie das furchteinflößende Gebiss mit den fünf bis sechs Reihen spitzer Zähne waren begehrt. Das reduzierte die Bestände dramatisch: Aktuelle Schätzungen beziffern das Vorkommen auf 3.000 bis 5.000 Tiere weltweit, seit 2010 steht der Weiße Hai auf der Roten Liste der gefährdeten Arten.

Blitzschnell werden dem Tier Proben entnommen. Foto: Ernst Koschier
Blitzschnell werden dem Tier Proben entnommen.

Gruselig ist dabei nicht nur, dass die kollektive Hysterie nie in einem Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr stand: Seit dem Jahr 1900 registrierte das International Shark Attack File (ISAF) an der Universität Florida gerade einmal 248 Angriffe der Raubfische auf Menschen, wovon rund 20 Prozent tödliche Folgen hatten. Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, ist deutlich höher.

Sollte hingegen der Spitzenprädator tatsächlich aus den Meeren verschwinden, da sind sich die Experten einig, dann hätte das verheerende Auswirkungen auf das Ökosystem: Die von den großen Haien gejagten Arten – in erster Linie Robben und Thunfische – würden sich dann explosionsartig vermehren und in einem Kaskadeneffekt das gesamte maritime Gleichgewicht zerstören.

Mauricio Hoyos in seinem Büro. Foto: Ernst Koschier
Mauricio Hoyos in seinem Büro.

Und ich selbst entdecke jedes Jahr auf Guadalupe neue Haie, viele von ihnen in jugendlichem Alter.

Mauricio Hoyos, Meeresbiologe

Diese beängstigende Aussicht hat in den vergangenen 15 Jahren dazu geführt, dass der Weiße Hai in vielen Ländern unter Schutz gestellt wurde. Doch einerseits erholen sich die Populationen nur langsam – wie alle Tiere, die an der Spitze der Nahrungskette stehen und prinzipiell wenige natürliche Feinde haben, pflanzen sich Weiße Haie nur gemächlich fort. Bei Männchen dauert es 8 bis 10, bei den Weibchen 11 bis 14 Jahre, bis sie die Geschlechtsreife erreichen.

Andererseits landen immer wieder Haie als unbeabsichtigter Beifang in den Netzen von Fischern. Abgesehen davon blüht der illegale Handel mit Hai­Trophäen nach wie vor: Für ein schön erhaltenes Gebiss, erzählt Mauricio Hoyos, werden auf dem Schwarzmarkt gut und gerne 50.000 Dollar gezahlt, die Flossen lassen sich immerhin für 1.000 Dollar verkaufen.

Trotzdem gebe es in letzter Zeit Anlass zur Hoffnung: Von seinen Forscherkollegen weiß Hoyos, dass die Populationen derzeit tendenziell wachsen, speziell im Atlantik. „Und ich selbst entdecke jedes Jahr auf Guadalupe neue Haie, viele von ihnen in jugendlichem Alter.“

Seit zehn Jahren forscht Mauricio Hoyos nun schon am Weißen Hai. Jedes Jahr, wenn die großen Räuber in den Gewässern um Guadalupe Quartier beziehen, verbringt der 36-­Jährige drei bis fünf Monate auf der Insel. Die Bedingungen hier sind für ihn ein echter Glücksfall: Nirgendwo sonst auf der Welt lassen sich so viele Weiße Haie in derart klarem Wasser beobachten.

Mauricio Hoyos’ Hütte auf Guadalupe. Foto: Ernst Koschier
Mauricio Hoyos’ Hütte auf Guadalupe.

Für die Tiere ist Guadalupe ein idealer Lebensraum: Die 32 Kilometer lange, 11 Kilometer breite und bis zu 1.300 Meter hohe Vulkaninsel wächst beinahe ansatzlos aus dem Pazifik, rundherum fällt der Ozean auf eine Tiefe von 3.500 Metern ab. Mit Ausnahme einer Handvoll von Fischern und einer Marinebasis im Süden ist das seit 1925 unter strengem Naturschutz stehende Eiland unbewohnt.

Und die am Strand dicht an dicht lagernden Robbenkolonien – fette Seeelefanten, Seelöwen und kalifornische Seebären – sorgen für ein Futterangebot, das ein Weißer Hai nicht ablehnen kann. Für Mauricio Hoyos ist die Lebensqualität hingegen nicht so toll: Er bewohnt ein Haus, das vor Jahrzehnten einmal von der Marine benutzt wurde. Die Einrichtung ist karg: grob zusammengezimmerte Stockbetten aus Holz, ein schäbiger Arbeitstisch, die Lebensmittel lagern in einem Netz, das von der Decke baumelt – dort sind sie vor Mäusen, Käfern und sonstigem Ungeziefer sicher. Seit ein heftiger Sturm im vergangenen Winter das Dach weggeblasen hat, scheint die Sonne durchs Gebälk. Strom gibt es derzeit leider auch nicht. Der Generator hat vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben, er ist auf dem Festland zur Reparatur. Und die Toilette besteht aus einem an die Wand gelehnten Spaten, auf dem eine Klopapierrolle thront.

Luftiges Lebensmitteldepot, die Vorratskammer einfach aufgehängt. Foto: Ernst Koschier
Luftiges Lebensmitteldepot, die Vorratskammer einfach aufgehängt.

Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass es in Mexiko so viele Weiße Haie gibt.

Mauricio Hoyos, Meeresbiologe

Das Haiwunder vor Guadalupe

Man ahnt es: Würde Mauricio Hoyos seine Arbeit bloß als Job begreifen, er stünde das hier wohl kaum durch. Aber für ihn ist die Forschung am Weißen Hai kein Beruf, sondern eine Berufung. Eine Leidenschaft, die in ihm schon sehr lange lodert. Sie hat ihre Wurzeln seltsamerweise in demselben Film, der alle anderen Zuschauer in Angst und Schrecken versetzte: „Als ich ein Kind war, habe ich Jaws gesehen – und mich auf der Stelle in den Hai verliebt“, erzählt Hoyos. „Es gibt ein Bild von mir, das mich mit drei Jahren zeigt – da habe ich einen großen Plüschhai in den Armen.“

Hoyos, in Mexiko-Stadt geboren, übersiedelte als junger Mann nach La Paz auf die Halbinsel Baja California, um an der dortigen Uni seine Lieblingstiere studieren zu können. „Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass es in Mexiko so viele Weiße Haie gibt. Doch 2003 rief mich ein Tourismusveranstalter aus San Diego an. Er sagte: Sie sind doch Haiforscher. Wissen Sie eigentlich, dass sie eine große, stabile Population an Weißen Haien vor Ihrer Haustür haben? Sie sind vor Guadalupe.“ Mauricio Hoyos strahlt über das ganze Gesicht, seine meerblauen Augen leuchten. „So kam ich hierher. Und sah, dass es das Paradies für mich ist.“

Überhaupt sind die Touristen ein Segen. Seit die Reisebranche um die Jahrtausendwende entdeckte, dass mit Weißen Haien eine Stange Geld zu machen ist, indem man Tauchern die Möglichkeit bietet, die Tiere aus sicheren Käfigen in freier Wildbahn zu beobachten, gibt es eine Menge Leute, die an möglichst vielen lebenden Exemplaren interessiert sind. Außerdem kommt so jede Woche mindestens ein Schiff – wie in unserem Fall die Nautilus Explorer – mit Cage-Divern von der Küste herüber, das Hoyos mit Lebensmitteln und Wasser versorgt; anders wäre die Logistik wohl kaum zu schaffen. Nach Ensenada, dem nächstgelegenen Hafen, sind es immerhin 22 Stunden Fahrzeit.

Haie zum Boot locken, Probe entnehmen, Sender montieren. Foto: Ernst Koschier
Haie zum Boot locken, Probe entnehmen, Sender montieren.

Als Steven Spielberg in den Siebzigern seinen Film drehte, wusste man praktisch noch nichts von Weißen Haien, das erleichterte dem Regisseur doch einiges. Man ahnte zwar, was für eine perfekte Killermaschine die Evolution geschaffen hatte (siehe auch Schaubild: „Hai Tech“), die Mittel zu seiner Erforschung fehlten jedoch. Erst seit die Wissenschafter leistungsfähige Sender einsetzen können, lassen sich die Wege der Tiere nachvollziehen. Ultraschallsender liefern die Daten von lokalen Bewegungen, sogenannte Pop-up satellite archival transmitting tags (PAT) begleiten die Raubfische bei ihren langen Wanderungen auf hoher See. Befestigt an der Rückenflosse eines Hais, zeichnen die rund 1.000 Dollar teuren Instrumente Wasserdruck, Licht, Temperatur und geografische Lage in regelmäßigen Abständen auf. Nach einer gewissen Zeit löst sich das Gerät auf vorausberechnete Weise, schwimmt an die Wasseroberfläche und funkt von dort die gesammelten Daten an einen Satelliten, von wo sie auf den Computer des Forschers weitergeleitet werden.

Ein paar von den einschüchternden Ergebnissen: Weiße Haie verbringen im Schnitt 234 Tage des Jahres auf hoher See und legen dabei zwischen 2.000 und 5.000 Kilometer zurück. Sie können bis zu 1.000 Meter tief tauchen und bei der Jagd bis zu 40 km/h schnell sein.

Hai-Maskottchen auf dem Boot. Foto: Ernst Koschier
Hai-Maskottchen auf dem Boot.

Außerdem können die durchschnittlich 4,37 Meter langen und eineinhalb Tonnen schweren Tiere auch Extrembedingungen problemlos aushalten. Das legen die gesammelten Daten eines Weibchens nahe, das über 12 Stunden in einer Tiefe von über 500 Metern und einer Temperatur von 7 Grad verbrachte. Bei diesem Tauchgang war das Tier einmal in sauerstoffarmem Wasser bei 3,9 Grad auf 928 Meter Tiefe ganze 28 Minuten lang unterwegs. Über zwei Stunden verzeichneten die Sensoren die völlige Abwesenheit von natürlichem Licht

Mauricio Hoyos hat mittels Magensensoren, die er den Haien in einem Köder versteckt verabreicht, ein Detail herausgefunden, das erklärt, wie die Fische der Kälte trotzen: Sie verfügen über eine Art Körperheizung, die es ihnen erlaubt, ihre Kerntemperatur stets auf etwa 26 Grad zu halten – bis zu 14 Grad über der Wassertemperatur.

Je mehr die Forschung über das Leben der Weißen Haie zutage fördert, desto mehr weicht die Furcht der Ehrfurcht. Dennoch sind längst noch nicht alle Rätsel gelöst. Ungeklärt ist etwa, wo und wie sich die Weißen Haie paaren, es dürfte aber eine martialische Angelegenheit sein – das schließt man aus den Bissnarben, die sie nach der vermuteten Paarungszeit aufweisen. Niemand weiß mit Sicherheit, wie lange die Schwangerschaft dauert – Schätzungen gehen von einer Zeit zwischen 13 und 18 Monaten aus. Ebenfalls im Dunkeln liegt, wo die Weibchen ihre Jungen zur Welt bringen, eine Geburt wurde noch nie beobachtet.

Verletzte Seerobbe. Foto: Ernst Koschier
Verletzte Seerobbe.

Das White Shark Café

Und dann ist da noch das bis jetzt ungelüftete Geheimnis ihrer jährlich wiederkehrenden Migration. Im Frühling verlassen sämtliche Weißen Haie der nordostpazifischen Population ihre Futterplätze an der Küste, um in 10 bis 20 Tagen zu einem Ort mitten im Pazifik zu pilgern, gelegen ziemlich genau zwischen Hawaii und Kalifornien. Die Forscher nennen dieses scharf abgegrenzte, ellipsenförmige Gebiet „White Shark Café“, weil es für seine Anziehungskraft, so Mauricio Hoyos, nur zwei Gründe geben kann: „entweder Futter oder Sex“.

Besucht wird das Café hauptsächlich von Männchen, die Weibchen treiben sich nur gelegentlich an dessen Rändern herum. Während ihres Aufenthalts zwischen Mai und Juli zeigen die Haie ein bemerkenswertes, einzigartiges Tauchmuster: Bis zu hundertmal am Tag tauchen sie schnell und schnurgerade in Tiefen zwischen 200 und 400 Metern ab, um dann gleich wieder an die Oberfläche zu kommen. Ist das ein Balzverhalten? Oder geschieht es, um Beute, etwa Tinten­ oder Thunfische, zu jagen? Mauricio Hoyos hofft, das Rätsel im Lauf dieses Jahres zu lösen: mit speziellen Sendern, die untereinander Kontakt aufnehmen können. So könnte man erstmals zweifelsfrei feststellen, ob, wann und wo Weibchen und Männchen auf Tuchfühlung gehen.

Käfigtaucher auf Hai-Safari. Foto: Ernst Koschier
Käfigtaucher auf Hai-Safari.

Weißen Haien unter Wasser zu begegnen ist ein beeindruckendes, bewusstseinsveränderndes Erlebnis. Natürlich gilt es dabei zunächst, sich seiner Angst zu stellen. Aber spätestens wenn die mit faustdicken Metallstreben bewehrten Käfige wie Aufzüge zehn Meter tief in den Ozean hinabgelassen werden, ist das kein Thema mehr. Friedliche Stille umfängt einen, nur unterbrochen vom Blubbern der Luftblasen.

Zuerst sind da Schwärme von Gelbflossenmakrelen, die sich um die in Jutesäcken mitgebrachten Fischabfälle balgen. Und dann kommen – angelockt von dem verführerischen Duft der Köder – die Haie: Körper wie Torpedos, so groß wie Autos. Elegant, fast wie in Zeitlupe, umkreisen sie die Käfige, mit den sparsamen, majestätischen Bewegungen eines Wesens, das sich seiner Kraft bewusst ist. Mit Bedacht mustern sie die Köder, nur hin und wieder entschließt sich einer, zuzuschnappen.

Beeindruckende Haifütterung für Hai-Touristen. Foto: Ernst Koschier
Beeindruckende Haifütterung für Hai-Touristen.

Wären Weiße Haie an den Menschen im Käfig wirklich interessiert, sagt Mauricio Hoyos, dann würde auch der kein großes Hindernis für sie darstellen: Man müsse sich nur einmal die Energie vorstellen, die freigesetzt wird, wenn eineinhalb Tonnen auf 40 km/h beschleunigen und auf einen festen Gegenstand treffen. Doch der Weiße Hai ist an Menschen definitiv nicht interessiert, die sind ihm viel zu mager.

Mauricio Hoyos muss es wissen: Er taucht nämlich – was Touristen auf Guadalupe streng verboten ist – auch ohne Käfig mit den Tieren, um ihnen zum Beispiel Sender zu montieren. Alles halb so wild, sagt er. Man müsse nur aufmerksam auf ihre Körpersprache achten und sie zu deuten wissen. Abgesenkte Brustflossen etwa bedeuten: Halte Abstand, sonst gibt’s Ärger. Im Übrigen gelte es, sich ein Sozialverhalten der Haie zunutze zu machen.

Wann immer mehrere von ihnen zusammentreffen, bildet sich sofort eine Hierarchie. Um schmerzhafte Kämpfe zu vermeiden, schwimmen sie eine Zeitlang nebeneinander her, um sich mit allen ihren Sinnen ein Bild voneinander zu machen. Das schwächere Tier dreht in der Folge ab und lässt dem Stärkeren den Vortritt. Zum Kampf kommt es nur, wenn zufälligerweise zwei gleich starke Haie aufeinandertreffen.

Am Ende der Bucht ragt ein einzelner Felsen aus dem Meer, der aussieht wie die Rückenflosse eines Weißen Hais. Foto: Ernst Koschier
Am Ende der Bucht ragt ein einzelner Felsen aus dem Meer, der aussieht wie die Rückenflosse eines Weißen Hais.

Ich glaube meine wichtigste Aufgabe ist es, den schlechten Ruf des Weißen Hais zu korrigieren.

Mauricio Hoyos, Meeresbiologe

Für Taucher heißt das, sagt Hoyos, dass man vorsichtig auf den Hai zuschwimmen müsse, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Wer hingegen mit panischen Bewegungen versuche, dem vermeintlichen Ungeheuer zu entfliehen, müsse damit rechnen, dass dessen Jagdinstinkt geweckt wird, was in der Regel nicht gut ausgeht. Und als bedürfe es noch eines zusätzlichen Beweises für die Harmlosigkeit und die Anmut des Killers, holt Assistentin Ocean ihr iPhone hervor. Das Hintergrundbild zeigt die zarte Blondine, wie sie von einem riesenhaften Hai an der Rückenflosse durchs Wasser gezogen wird.

Das Foto wurde hier in der Bucht gemacht, der Hai heißt Bella und ist ein ziemlich großes Weibchen. „Bella hatte gar nichts dagegen“, sagt Miss Ramsey sanft. „Ganz im Gegenteil: Als ich schon auftauchen wollte, kam sie zurück und wollte weiterspielen.“

Mauricio Hoyos sieht sich inzwischen als eine Art Botschafter. „Ich glaube“, sagt er, „meine wichtigste Aufgabe ist es, den schlechten Ruf des Weißen Hais zu korrigieren. Ich habe noch keinen erlebt, den die Erlebnisse hier auf der Insel nicht verändert hätten. Was ich den Leuten sage, ist: Jetzt müsst ihr allen von der Schönheit der Weißen Haie erzählen – und dass sie keine bösen Menschenfresser sind. Und dass sie bloß ihre Rolle spielen – nämlich das Gleichgewicht des maritimen Ökosystems aufrechtzuerhalten.“

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, Februar 2014.

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