Gefährliches Tauwetter

WIE IN EINER DÜSTEREN VORAHNUNG HAT SICH DER HIMMEL ZUGEZOGEN. Bald wird es regnen. Büsche und rußgeschwärzte Bäume ragen auf, rotgelbe Gräser biegen sich im Wind, der Horizont wird trüb. Die ewige sibirische Tapete aus Wasser, Bäumen, Gras und Himmel.
Sergej Zimow stapft durchs Gebüsch, das Dickicht knackt unter seinen schweren Stiefeln, es hallt in der Stille nach. Für den 64jährigen Forscher mit seinem wilden Bart ist es kein Spaziergang durch die Tundra. Vor knapp 20 Jahren hat er hier, im nordostsibirischen Tscherski, ein Freiluftexperiment gestartet. Auf einem Hochplateau von drei Hektar, 240 Kilometer nördlich des Polarkreises, wollte er zeigen, welche Kräfte schon bei geringer Erderwärmung auf den Permafrost-Bodens, hier Jedoma genannt, wirken, jene Mischung aus Sediment und ewigem Eis, die in den Böden eingelagert ist.
Russland ist das Land des Permafrosts: Mehr als 60 Prozent des größten Flächenlands der Erde ist permanent gefroren. Vor allem das nordöstliche Sibirien ist die Region des ewigen Eises: Auf mehr als einer Million Quadratkilometern, einem Viertel der Fläche der EU, erstreckt sich der Jedoma, der sich während der letzten Eiszeit vor 11.000 Jahren gebildet hat. Die Eisschichten reichen bis in 1.500 Meter Tiefe. Doch bald könnte es vorbei sein mit der Eiszeit: Der Boden taut auf und ist in immer tieferen Lagen nicht mehr ganzjährig gefroren.
Zimow hat sein Ziel erreicht: Bulldozer Site. Ein Ort, benannt nach der Methode, mit der er den Boden bearbeitet hat: mit der Planierraupe. Vor 20 Jahren hat Zimow hier die obere Schicht entfernt. Der Boden ist seither der Wärme des Sommers stärker ausgesetzt. Triumph und Zorn liegen in Zimows brummiger Stimme, wenn er das erzählt. Triumph, weil er mit seiner düsteren Prognose recht behalten hat: Schon wenig Wärme reicht, um die Landschaft völlig zu verändern. Das Eis, das den Permafrost wie dicke Knochen durchzogen hatte, war an manchen Stellen schon im ersten Sommer geschmolzen. Und Zorn, weil es nicht gut aussieht für diesen Flecken Erde: Wo früher eine eisige Ebene war, durchziehen jetzt Gräben die Landschaft, sechs, acht, zehn Meter tief, sumpfig, der Rest mit Pfützen übersät.

Der auftauende Permafrost schlägt nicht nur Kerben in die Landschaft: Kleine Blasen steigen immer wieder aus den Pfützen auf, Methangas. Im Permafrost sind neben Eis und Sedimenten auch Pflanzen-und Tierreste eingelagert, die der Druck von Zeit und Raum in Kohlenstoffhydrate gewandelt hat. Taut der Permafrost auf, zersetzen Mikroben den in der Biomasse gebundenen Kohlenstoff. In trockener Umgebung entweicht er als Kohlendioxid in die Atmosphäre, unter Feuchtigkeit wird er in Methangas umgewandelt. Während die Blasen jetzt schüchtern blubbern, wird das Gas im Winter unter einer Eisschicht eingeschlossen. Zerschlägt man diese und entzündet das Methangas, züngeln meterhohe Flammen in den eisgrauen Winterhimmel. Spektakuläre Bilder für das russische Fernsehen, doch ein Menetekel an der Wand: Methan ist ein besonders gefährliches Treibhausgas, 23-mal umweltschädlicher als Kohlendioxid.
Wenn das hier alles auftaut, dann könnt ihr einpacken mit all euren Klimakonferenzen!
Sergej Zimow, russischer Klimaforscher
Das Projekt von Zimow mag eigenwillig erscheinen. „Aber“, so sagt er, „ihr Europäer und Amerikaner seid zu höflich, politisch viel zu korrekt. Mein Leben ist zu kurz, um darauf zu warten, dass mir die Natur ihre Geheimnisse erzählt. Nein! Man muss der Natur seinen Willen aufzwingen.“ Taut der Permafrost weiter auf, entweichen all diese Treibhausgase in die Atmosphäre und forcieren den Klimawandel noch weiter. Ein irreversibler Prozess, warnt Sergej Zimow: „Wenn das hier alles auftaut, dann könnt ihr einpacken mit all euren Klimakonferenzen!“
PUZZLESTEIN PERMAFROST
Auch andere Wissenschaftler sprechen von einer „Büchse der Pandora“, wenn der Permafrost in großem Stil auftaut und dabei stetig Kohlenstoff entweicht. Noch ist dieser in den Polargebieten weitestgehend gebunden. Die Forschung schätzt, dass der gefrorene Boden weltweit rund 1,7 Billionen Tonnen Kohlenstoff (1.700 Gigatonnen) enthält. Allein im Jedoma sollen rund 370 Gigatonnen gespeichert sein. Zum Vergleich: Die gesamte Atmosphäre enthält aktuell rund 800 Gigatonnen Kohlenstoff. Permafrost sei somit „einer der wichtigsten Puzzlesteine im Klimasystem der Erde“, beschrieb das deutsche Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar-und Meeresforschung bereits vor Jahren.
In Sibirien kennt den Dauerfrostboden und das Eis keiner besser als Sergej Zimow. Schon in den 1970er-Jahren besuchte der Geophysiker das erste Mal den äußersten nordöstlichen Zipfel der Jakutischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, wie die sibirische Republik Sacha damals hieß. Eine Gegend, so unwirtlich, dass die Hauptstadt Jakutsk als kälteste Großstadt der Welt gilt, deren Sommer nur zwei Monate dauert.Für die Zwecke des jungen Forschers war die Gegend perfekt: 1980 zog der damals 25-Jährige nach Tscherski, einer sowjetischen Vorzeigesiedlung 240 Kilometer nördlich des Polarkreises, gründete die Forschungsstation North-East Science Station (NESS) und forschte in diesem gottverlassenen Winkel vor allem am Permafrost.

Permafrost ist einer der wichtigsten Puzzlesteine im Klimasystem der Erde.
Aus einer Analyse des deutschen Alfred-Wegener-Instituts für Polar-und Meeresforschung
Als Sergej Zimow die ersten Bodenproben nahm, regierte im 5.500 Kilometer entfernten Kreml noch Leonid Breschnew. Nicht nur das hat sich verändert: Vor 30 Jahren war Permafrost hier durchschnittlich minus 7 Grad kalt. Inzwischen zeigen die Messstellen rund um Tscherski minus 4 Grad, an manchen Stellen nur noch minus 1,5 Grad. Zimows Beobachtungen decken sich mit anderen internationalen Forschungsergebnissen: Nach den Daten des Intergovernmental Panelon Climate Change erwärmten sich etwa die Permafrostböden in Alaska von den 1980er-Jahren bis in die Mitte der 2000er-Jahre um 2 bis 3 Grad. Noch bedrohlicher: In der Arktis sollen die Temperaturen doppelt so stark steigen als im globalen Durchschnitt.
EINE STADT RUTSCHT AB
Viele Berechnungen sind ungenau und umstritten, die Forschung steckt teilweise noch in den Kinderschuhen. Doch dreht man eine Runde durch die Stadt Tscherski, erkennt man die Auswirkungen auf einen Blick. 1931 für die Exploration der Gegend gegründet, gleicht Tscherski heute einer Geisterstadt. Von damals 11.000 Bewohnern sind nur knapp 3.000 geblieben, die einstigen Goldminen sind geschlossen. Blinde Fenster, bröckelnde Fassaden – und schiefe Häuser: In Sibirien werden Gebäude auf Pfählen gebaut, die mehrere Meter weit in den Boden gerammt werden. So haben die Häuser auch im Sommer Halt, wenn die oberste Schicht des Permafrosts, der bis zu zwei Meter dicke Active Layer, auftaut.




Doch längst kriecht die Wärme tiefer, die Pfähle verlieren ihren Halt, in den Mauern bilden sich Risse, die Bauten versinken. Die Stadt rutscht auf dem Gletscher in Richtung Abgrund.
Zwei Autostunden tiefer im Landesinneren, am Ufer eines Nebenarms des Flusses Kolyma. Der Fischer Leonid Nalotow sitzt müde im ärmellosen Shirt in seinem Holzhaus. Gerade hat er seine Fischernetze ausgelegt. Es ist Mitte September, in einer Woche werden die Gewässer zufrieren und die Fische in Scharen strömen. Und in Leonids Netzen landet Vorrat für den Winter.
Irgendwann ist die Stelle völlig überflutet.
Leonid Nalotow, Fischer am Fluss Kolyma, über die Lage seines Wohnhauses
Leonid bringt kaum je etwas aus der Fassung: weder die Abgeschiedenheit noch die Bären, die ihn bisweilen besuchen. Doch als im Frühling vor neun Jahren das große Wasser kam, packte ihn die Angst. Das Hochwasser schlug eine Schneise in sein Grundstück. Leonid musste seine Holzhütte dreißig Meter weiter weg neu aufbauen. Seither wird die Schneise immer tiefer, jeden Frühling. Leonid deckt sie notdürftig mit Zweigen ab, damit der Permafrost im Sommer weniger Wärme abbekommt und der Boden nicht weiter absackt. Doch Leonid ahnt, dass er wenig Chancen hat: „Irgendwann ist die Stelle völlig überflutet.“
BETRUNKENE BÄUME
Nicht nur Häuser holt sich der auftauende Permafrost, auch Straßen und Schienen. Ufer verändern sich, Inseln verschwinden oder werden zu Mondlandschaften aus Schlick und schmelzendem Eis. So wie Duwanni Jar, die windige Küste, eine Stunde mit dem Motorboot von Leonids Haus entfernt: eine graue Wüste, gespickt mit zerborstenen Ästen, Schlammkrusten, die wie Pudding unter den Füßen federn, Stämme, liegend oder im Fallen erstarrt, „betrunkene Bäume“ nennt der Volksmund sie. Immer wieder ragen einzelne Steilwände aus dem Boden, aus grauem Sediment, dazwischen eingelagert Eiskeile. Vertikale Spalten aus Eis, spektakuläre Formationen von bis zu zehn Meter Höhe, die in der Sommerwärme schmelzen, krachend abbrechen, umspült von Rinnsalen aus Schmelzwasser.

Dass Permafrostböden auftauen und die Landschaft massiv verändern, ist nicht nur auf Sibirien beschränkt. Insgesamt besteht die Landmasse der nördlichen Hemisphäre zu 25 Prozent aus Dauerfrostböden; vor allem Grönland, Alaska und das nördliche Kanada sind reich an ihnen. Aber auch in Europa treten sie auf: in höheren Lagen, nahe den Gletschern. Während in den Alpen Einigkeit darüber herrscht, dass die Bergrutsche eine Folge der globalen Erwärmung sind, macht man in Sibirien nicht den Menschen dafür verantwortlich. Selbst am Permafrostinstitut in der Provinzhauptstadt Jakutsk neigt man dazu, alles einer Laune der Natur zuzuschreiben, einem harmlosen Hin und Her von Wärme- und Kältezyklen.
Sergej Zimow widerspricht: Der Mensch sei sehr wohl das Maß aller Dinge. Das war schon vor 11.000 Jahren so, als das Pleistozän-Zeitalter mit dem Tod der Mammuts und anderer großer Pflanzenfresser zu Ende ging. Nicht weil eine neue Klimaepoche sie hingerafft hätte, sondern weil der Mensch sie ausgerottet hat, so Zimow.
FORSCHEN AUF FESTEM FUNDAMENT
Bereits 2005 hatte Zimow dazu im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ publiziert und Versuche in seinem Pleistozän-Park beschrieben. Auf einer Fläche von 160 Quadratkilometern versucht Zimow seit damals, das Steppensystem von einst zu rekonstruieren – Jakutenpferde, Rentiere und Moschusochsen inklusive. Seine spektakuläre These: Durch das Grasen, Trampeln und die Exkremente der Pflanzenfresser werde auch die Vegetation angeregt und somit könne das Ökosystem des Pleistozän wiedererrichtet werden. Angenehmer Nebeneffekt: Der Boden kann länger kühl gehalten werden. Mit Paarhufern für den Permafrost? Kühne Überlegungen, die Zimow über Nacht in der Wissenschaftswelt bekannt machten, auch wenn diese Thesen äußerst angreifbar klingen.
Über Nacht ist der erste Schnee gefallen. Die Kälte kriecht schon durch die Wände des Gästehauses, das nun eingewintert wird. Damit endet wieder eine Forschungssaison auf der NESS in Tscherski, in wenigen Tage frieren die Flüsse und Seen zu. Weiß legt sich für die nächsten acht Monate über die Ebene, fünf Wochen lang wird die Sonne überhaupt nicht aufgehen.

2020 gehen die Forschungen weiter. Die Station lebt von internationalen Projekten, sagt Sergej Zimows Sohn Nikita, der die NESS mitseinem Vater betreibt: etwa Kooperationen mit dem Max-Planck-Institut, der University of Alaska Fairbanks und der Datenbank Global Terrestrial Network for Permafrost, die erstmals weltweit Daten zum Permafrost zur Verfügung stellt. Die Ukraine-Krise und der Konflikt zwischen Russland und dem Westen haben nach 2014 die US-Forschungsgelder merklich reduziert, doch hat sich die Situation entspannt. Die Zimows werden bleiben, vor allem, weil sich die NESS durch die Sturheit und Expertise Sergej Zimows etabliert hat und ein Hitzesommer dem anderen folgt.
Selbst wenn seine apokalyptischen Visionen Realität werden und Sibirien im Schlamm versinkt: Seine Station wird überdauern, aus einem einfachen Grund – sie steht auf einem Felsen.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 6/2019.

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