Querschnittlähmung heilen: Die revolutionäre Idee des Professor Courtine

TERRA MATER: In der ersten Phase haben Sie STIMO, den im Bauchraum implantierten Elektrostimulator, drei Patienten implantiert. Wie geht es weiter?
COURTINE: Jetzt sind die nächsten 20 dran, um auf einer statistisch breiteren Basis zu zeigen, dass unser Modell tatsächlich funktioniert. Dazu bekommen wir ein zweites Zentrum wie in Lausanne (Courtine ist Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, speziell am Zentrum für Neuroprothetik; die Red.), brandneu und in den Bergen gelegen.
Wie kamen Sie von einer Idee zur Therapie?
Durchbruch eins: Zeige, dass es bei Tieren funktioniert. Verstehe, was du tust. Generiere robuste Daten. Durchbruch zwei: Zeige, dass es auch bei Menschen funktioniert. An diesem Punkt sind wir gerade. Durchbruch drei: 1.000 Patienten. Das wollen wir in den nächsten fünf Jahren erreichen. Zuvor brauchen wir die perfekte Hard- und Software: Wir müssen den Apple-Computer der Elektrostimulation entwickeln.
Wie viele Leute arbeiten für Sie?
In Summe sind wir hier rund 100 Spezialisten.
Warum konzentrieren Sie sich aufs Gehen?
Weil wir es am besten verstehen. Zusätzlich reduziert die Verbesserung motorischer Funktionen andere Probleme Kreislauf. Wundsitzen oder Wundliegen. Temperaturregulierung. Blasenfunktion. Im nächsten Schritt werden wir auch diese Themenfelder gezielt angehen.
Was bedeutet das konkret?
Gerade die Daten bezüglich Kreislaufstabilität lesen sich vielversprechend. Vereinfacht gesprochen könnte man eine Aufwachfunktion in unser Gerät integrieren. Der Patient drückt morgens auf die Smartwatch, die sein STIMO steuert, und der Kreislauf fährt hoch.
Wir müssen den Apple-Computer der Elektrostimulation entwickeln.
Professor Grégoire Courtine, Entwickler von STIMO
Wie kamen Sie auf die Idee mit Elektrostimulation?
Wir haben herausgefunden, dass die Nerven in der Lendenregion Bewegungen steuern. Liegt die Verletzung anderswo, kann das Gehirn die Nerven in der Lendenregion nicht mehr anregen. Vor 15 Jahren haben wir überlegt: Können wir diesen Reiz irgendwie ersetzen? Da kamen wir auf elektronische Impulse.
Wie ein Froschschenkel, den man an eine Batterie klemmt?
Im Prinzip ja, aber viel spezifischer. Wir haben gelernt, wie man präzise Impulse setzt und wo genau die ansetzen müssen. Amerikanische Forscher haben ebenfalls daran gearbeitet, aber nur unsere Stimulation ist so präzise wie einer Schweizer Uhr. Zweiter Punkt: Durch intensives Training wecken wir Nerven unterhalb der verletzten Stelle auf – plötzlich kommen wieder Impulse zu den Muskeln durch. Jetzt kombinieren wir Elektrostimulation und erwachende Nerven – und plötzlich wollen die beiden dasselbe! Nervenbahnen wachsen wieder: Das ist die Magie dahinter.
Kann man dieses Nervenwachstum zeigen?
Ja, und die Ergebnisse sind spektakulär. Wir haben sie mit fluoreszierenden Proteinen eingefärbt, um es anschaulich zu machen. Man kann Ergebnisse aber auch in der Elektrophysiologie messbar machen.
Welche Rolle spielt FLOAT, der Gewichtsassistent?
Ganz wichtig: Was wir hier machen, ist kein automatisiertes Gehen. Wir machen den Patienten nicht zum Roboter, den wir einschalten. Wenn er geht, arbeitet sein Gehirn mit. Unser Prozess ist so natürlich wie bei einem Kind, das Gehen lernt. Und wie hilft man einem Kind? Man reduziert anfangs das Gewicht, das auf seinen Beinen lastet und stabilisiert es, bevor es umfällt. Das macht FLOAT.
Wer hat STIMO entwickelt?
Die Komponenten waren vorhanden, die Programmierung kam von unserem Labor in Lausanne. Mit entscheidend ist die exakte Positionierung der Elektroden an der Wirbelsäule. Bevor wir die implantieren, machen wir ein hochpräzises MRT-Bild der Region und lokalisieren, welche Nervenbündel wo an den Lendenwirbeln andocken. Dort „montieren“ wir die Elektroden – eine Arbeit im Millimeterbereich.
Wie lang dauert die Operation?
Zwei, drei Stunden. Nach zehn Tagen dürfen die Patienten versuchen aufzustehen.
Wir machen den Patienten nicht zum Roboter, den wir einschalten. Wenn er geht, arbeitet sein Gehirn mit.
Professor Grégoire Courtine, Entwickler von STIMO
Sie arbeiten seit 15 Jahren an dieser Idee. Gab es auch Rückschläge?
Täglich – und nicht nur auf der rein wissenschaftlichen Ebene. Ich musste ständig die Idee an sich verteidigen. Es waren die wissenschaftlichen Durchbrüche, die uns immer wieder gerettet haben.
Wie sind Sie ursprünglich auf dieses Themenfeld gestoßen?
Ich habe mich immer gern bewegt, war Extremsportler. Zuerst habe ich Neurologie studiert, danach wollte ich Astrophysiker werden und habe noch ein Physikstudium angehängt. Meine Diplomarbeit hat sich mit den Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Bewegungsapparat in der MIR-Raumstation beschäftigt. So bin ich nach Los Angeles gekommen, um Fortbewegung genauer zu untersuchen. Das wiederum hat mich mit der Christopher-Reeve-Foundation in Verbindung gebracht, die sich ja mit Querschnittlähmung auseinandersetzt. Die Wissenschaftler dort waren in meinem Alter und hatten ebenfalls ein Faible für Extremsport. Ich habe mich in diesem Umfeld sofort wohlgefühlt und bin beim Thema geblieben.
Wo stehen wir in zehn Jahren?
Ich zitiere meine Neurochirurgin Jocelyne Bloch, die überzeugt ist, dass unsere Behandlungsmethode Standard werden wird. Der nächste Schritt ist, STIMO direkt über ein Brain-Interface zu steuern. Alles, was man dazu braucht, sind ein paar Elektroden, die man ins Gehirn implantiert und die die Geh-Befehle an den Stimulator weiterleiten. Bei präklinischen Versuchen habe ich das bereits zum Funktionieren gebracht. Als Nächstes will ich es auf den Menschen umlegen.


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