Ein Tag schreibt Geschichte: Start der Automobilisierung

IM SEPTEMBER 1907, einen knappen Monat nach der Fahrt von Peking nach Paris, dem ersten großen Autorennen der Geschichte, schrieb der Sieger, der italienische Fürst Luigi Marcantonio Francesco Rodolfo Scipione Borghese, der 10. Prinz von Sulmona, einen Brief an seinen Mitfahrer Luigi Barzini: Mit diesem Rennen sei bewiesen, dass es nicht möglich ist, im Auto von Peking nach Paris zu fahren. Zumindest nicht „bei ausschließlicher Benutzung des Motors… in ununterbrochener Fahrt und in die weichen Kissen des Fahrzeugs gelehnt“.
Für den Augenblick mag das gestimmt haben. Denn was Borghese und seine Konkurrenzteams gerade hinter sich gebracht hatten, war von einer Fahrt in weichen Kissen so weit entfernt wie ein Spaziergang durch einen Park von einer Klettertour aufs Matterhorn. Dennoch war das Rennen aus heutiger Sicht so etwas wie der Startschuss zum Siegeszug des Automobils: Dieses hatte seine erste Feuerprobe bestanden.
Infrastruktur für die motorisierte Fortbewegung gab es damals nicht. Straßen, tragfähige Brücken, Wegweiser, Werkstätten, Pannenhilfe, Raststätten, Tankstellen? Negativ. Viele Menschen in abgelegenen Gegenden wussten nicht einmal, dass es so etwas wie Automobile überhaupt gab. In einem chinesischen Dorf interessierten sich die Bauern sehr für das Getriebe – sie vermuteten ein kleines Pferd in seinem Inneren.
Peking–Paris 1907: Das Autorennen um die halbe Welt wurde im Jänner 1907 von der französischen Tageszeitung „Le Matin“ ausgerufen, um die Leistungsfähigkeit der noch relativ frischen Erfindung Automobil unter Beweis zu stellen. Das Reglement war überschaubar: „Es gibt weder Formalitäten … noch Bestimmungen … Es handelt sich darum, von Peking im Automobil abzufahren und in Paris anzukommen.“
Ende März verfassten ein paar mögliche Teilnehmer des Rennens in Paris eine Art Kommuniqué: „Peking–Paris ist vielleicht ein unausführbarer Versuch.“ Die meisten Bewerber meldeten sich daraufhin nicht mehr. Im April sagte der „Matin“ das Rennen ab. Borghese sowie vier weitere Teams schifften sich mit ihren Autos trotzdem nach Peking ein und stellten somit den Veranstalter vor vollendete Tatsachen.
Am Vormittag des 30. Juni 1907 verließen vier Autos – ein 45 PS starker Itala (mit Scipione Borghese, dem Mechaniker Ettore Guizzardi und dem Journalisten Luigi Barzini an Bord), zwei De Dion-Bouton aus Frankreich, ein Spyker aus Holland sowie als fünfter Teilnehmer ein französisches Motor-Dreirad – Peking bei strömendem Regen in Richtung Nordwesten. Vor ihnen lagen 16.000 Kilometer – darunter nur 4.000 Kilometer auf einer Straße, die diesen Namen verdiente; und mindestens 200 Kilometer, die so unwegsam waren, dass die Fahrzeuge geschoben oder gezogen werden mussten.
Barzini, der Journalist, der im Itala mitfuhr, hat das Rennen in seinem Buch „Peking–Paris im Automobil“ akribisch dokumentiert. Es ist genau genommen die einzige komplette Quelle zu dem Rennen, darum weiß man Detailliertes heute auch nur von den Erlebnissen der Itala-Besatzung.
Es gibt weder Formalitäten, denen man sich zu unterwerfen hätte, noch Bestimmungen, die hinderlich sein könnten. Es handelt sich darum, von Peking im Automobil abzufahren und in Paris anzukommen.
Aus dem Reglement des ersten Autorennens von Peking nach Paris, 1907
Deren Vorbereitungen waren zum Teil akribisch, wenn auch freilich lückenhaft und im Übrigen atemberaubend umständlich: So ritt Borghese vor der Abfahrt von Peking 100 Kilometer nach Norden und überprüfte mit einem Bambusstab, der so lang war wie das Auto breit, ob dieses die zahlreichen Engstellen auf den Bergen entlang der chinesischen Mauer passieren konnte. Konnte es, allerdings musste es auf dieser ersten Etappe großteils von Maultieren und Helfern gezogen werden.
Auf dem Itala wurden 100 Liter Öl und 300 Liter Benzin mitgeführt. Das reichte für die ersten 1.000 Kilometer. In der Mongolei, wo das Dreirad schon bald nicht mehr weiterkam und seine Besatzung von Einheimischen vor dem Verdursten gerettet werden musste, hatten Kamelkarawanen alle 600 Kilometer ein Benzindepot eingerichtet. Auch in Russland gab es solche Depots mit Treibstoff und Reifen. Zahllose Stellen von größter Schwierigkeit mussten passiert werden – „endlose Tage voller Regen und Schmutz“, schreibt Borghese in einem Brief.
In einem bestimmten Punkt war das Rennen jedoch ziemlich modern: Die Teams folgten der Telegraphenleitung, die es damals auch schon in China und der Mongolei gab. An den Stationen kabelte Barzini seine Erlebnisse an die europäischen Zeitungen.
Auf die Maschine! ruft der Fürst, der damit das Kommando über die kleine Expedition übernimmt.
Der Journalist und Rennteilnehmer Luigi Barzini in seinem Buch „Peking-Paris im Automobil“, 1907
Von den Straßen in Sibirien erwarteten sich die Herrenfahrer eine gewisse Entspannung. Was sie nicht wussten: Auch diese waren in einem erbärmlichen Zustand. Besonders die Brücken erwiesen sich als vollkommen desolat. Einmal brach der Itala ein. Die Passagiere wurden in alle Richtungen geworfen, das Auto sank hecklings geradewegs in die Tiefe – und konnte von den praktisch unverletzt gebliebenen Männern nach stundenlanger Schwerarbeit unbeschädigt geborgen werden.
Erst nachdem die Grenze zwischen Asien und Europa überschritten war, änderten sich die Verhältnisse zu einer nachgerade luxuriösen Ausflugsfahrt mit Stationen in Städten, wo die Fahrer als Helden gefeiert wurden und an vornehmen Empfängen teilnahmen Am 10. August traf das Team Itala als umjubelter Sieger in Paris ein. Die DeDion-Boutons und der Spyker kamen 20 Tage danach ins Ziel. Nur das Dreirad hatte aufgeben müssen.
Das Auto hatte sich, bei allen Einschränkungen, die der harten Strecke geschuldet waren, als zuverlässiges Transportmittel bewährt. Als Siegespreis für Borghese und seine Mannschaft gab es übrigens eine Flasche Mumm-Champagner.

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