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Kuba: Die schrillen Boten der Götter

Die afrikanische Religion der Yoruba strandete vor Jahrhunderten mit den Sklaven in der Neuen Welt. In Kuba ist sie eine rätselreiche Mixtur aus Göttern und Geistern, Rhythmen und Klängen, verabreicht von Priesterinnen und Priestern wie Natividad Chivás.
Text: Dario Alemán Cañizares, Fotos: Núria López Torres / 10 Min. Lesezeit
kuba religion orishas Foto: Núria López Torres
Der Osha-Ifá-Kult der westafrikanischen Yoruba, dem Priester Lázaro huldigt, ist die ursprüngliche Variante: Lázaro ist der Abgesandte der kriegerischen Wassergöttin Obbá, die als Beschützerin der Familie gilt.
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Das Gespräch zwischen Nati, wie Natvidad Chivás von Freunden gerufen wird, und ihrer Mutter verläuft heute ernsthafter als sonst. Es ist für beide ein Ausflug in eine böse Vergangenheit. Die Beziehung von Natis Eltern war schlecht und zerbrach kurz vor ihrer Geburt, das Ende von langem Streit.

Natis Mutter wollte ihr Kind damals nicht: Nichts sollte sie an ihren gewalttätigen Mann erinnern. Deshalb schluckte die Frau alle verfügbaren Kräuter und Tinkturen, um dem Baby in ihrem Bauch das Leben zu ersparen, damals vor 53 Jahren.

Doch die Götter verhinderten, dass einer dieser Abtreibungsversuche gelang, davon ist Nati heute überzeugt. Tief blickt sie ihrer Mutter in die Augen. „Ich bin damals nicht gestorben, weil die Götter mir eine Aufgabe zugedacht hatten. Es ist meine Mission, für die Heiligen und die unsichtbaren Mächte zu singen“, erklärt Nati ihrer Mutter, ehe sie sich innig umarmen.

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kube religion Foto: Núria López Torres
Eine Religion mit vielen Gesichtern: Priester Ernesto ist eines davon.

Die meistverbreitete afrokubanische Religion ist die Santería, ein Gemisch aus Naturgottheiten und katholischer Religion.

Natis Mutter, die eher eine Agnostikerin ist, erkennt bald, dass die Wege ihrer Tochter von der Mystik jener Götter, die sie verehrt, bestimmt sind. Das beginnt schon im Kindesalter, als das Mädchen oft stundenlang in einer fremden Sprache voller seltsamer Wörter kommuniziert.

Für die Mutter ist es unverständliches Kindergeplapper, für die Nachbarn jedoch, die die Yoruba-Religion praktizieren, predigt hier eine schwarze Conga. Eine Priesterin, die sich jener Sprache bedient, die ihre Vorfahren vor Jahrhunderten aus Afrika mitbrachten, um ihre Götter, die Orishas, zu verehren.

Tanzritual, Religion, Fraueh, Trance Foto: Núria López Torres
Geburtstagsfeier Priesterin Nati (re.) singt ein beschwörendes Lied, während Gläubige zum Geburtstag einer Göttin zusammen-kommen. Vorn tanzt sich eine Frau in Trance.

Nati weiß nicht mehr, wann sie zum ersten Mal Yoruba-Gesang gehört hat, aber sie erinnert sich an Schallplatten mit afrokubanischer Musik, die vom häufigen Abspielen auf dem ramponierten Plattenspieler bei ihr zu Hause ganz zerkratzt waren.

Diese Musik will sie bald live hören: Sie beginnt, nach der Schule alle Winkel von Pogolotti zu durchstreifen, einem Arbeiterviertel in Havanna, das durch seinen kulturellen Reichtum die vorherrschende Armut wettmacht.

In Pogolotti gibt es viele Feste zu Ehren der Götter. Dort versammeln sich gläubige Yoruba, tanzen zum Rhythmus der Batá-Trommeln und zu Liedern über Patakíes, Geschichten über die Götter. Gepriesen wird darin Oshún, die Königin der Flüsse, oder Changó, Meister der Blitze und des Tanzes, oder Elegguá, der Gebieter über die Pfade des Lebens.

Priesterin, Frauen Foto: Núria López Torres
Vor dem Konzert für die Götter Natividad Chivás, genannt Nati (rechts), bespricht mit einer Priesterin den musikalischen Ablauf einer religiösen Zeremonie.

Nati erfährt damals, dass die Religion der Yoruba Osha-Ifá-Kult genannt wird. Ein Kult, älter als die ältesten Greise, die sie kennt. Sie lernt, dass allen Elementen der Natur eine bestimmte Magie innewohnt und dass, wird man in die Mysterien eingeweiht, eine Zeremonie bestimmt, welche der Götter man als eigenen Schutzengel willkommen heißen und respektieren soll.

Ohne zu ahnen, dass es viele Jahre später so kommen wird, wünscht sich das Mädchen damals während dieser Feierlichkeiten, dass ihr Schutzengel, ihre „andere Mutter“, Yemayá sei, jene Orisha in Blau, die über die Meere der Welt herrscht.

Damals wagt sie noch nicht, sich formell in den Osha-Ifá-Kult einweihen zu lassen.

Jahre später – Nati hat gerade ihren Schulabschluss gefeiert und eine Stelle als Reinigungskraft im Studentenwohnheim der Nationalen Kunstschule ENA angenommen – stiehlt sie sich nach getaner Arbeit in die Klassenräume der angrenzenden Akademie der Künste, ISA. Stunden verbringt sie staunend damit, die Folkloretänzer beim Üben zu beobachten, wie sie in bunten Kostümen zu den Rhythmen der Yoruba-Gesänge und Batá-Schläge tanzen.

Es bleibt nicht bei einem Besuch: Ähnlich wie die Streifzüge durch Pogolotti wird das Beobachten der Folkloretänzer für sie zu einer Art Besessenheit. Sie träumt davon, Teil dieser Truppe zu sein, für sie zu singen und den Moment zu genießen, wenn ihre Stimme und deren Bewegungen zu einer aufregenden mystischen Show verschmelzen. Damals wagt sie noch nicht, sich formell in den Osha-Ifá-Kult einweihen zu lassen. Aber sie kauft Bücher zu diesem Thema, und es gelingt ihr, einige der Zeichen zu deuten, die ihr die Götter, an die sie noch nicht gebunden ist, auf natürliche Art vermittelten.

Pristerinnen, Ritual, Frauen, Taube Foto: Núria López Torres
Opfer für den Sohn. Josefina wird von einem Babalawo mit einer Taube gereinigt. Das ist Teil eines Opferrituals für ihren Sohn, der in Spanien lebt und so zu Reichtum kommen soll.

Die auf das nigerianische Volk der Yoruba zurückgehende Religion begründet ihre Philosophie, neben üblichen Mythen und Zeremonien, auf Natur und Schicksal.

Höchstes Ziel: Jeder Mensch möge seinen eigenen Weg finden, seine Mission in der Welt erfüllen und dazu beitragen, das Gleichgewicht des Universums zu erhalten. Um diesen Weg zu finden, müssen die Menschen die Geheimnisse des Kultes verstehen und jene Zeichen, welche die Götter über Felsen, Flüsse, Kräuter und Tiere aufzeigen, mithilfe der Weisheit der Priester entschlüsseln.

Nati beginnt, ihren Weg zu suchen. Sie hat eine Vorahnung, wohin sie dieser führen soll, nämlich zum Gesang, aber sie weiß noch nicht, ob sie damit wirklich richtig liegt. Lebhaft erinnert sie sich an den Tag, als sie eine befreundete Priesterin, eine Santera, aufsucht. Sie ist noch ein Teenager, der mit unsicherem Herzen weinend vor ihrer Tür steht. Die gläubige alte Frau macht ihr Mut: „Weine nicht. Oshún, die Königin der Flüsse, sprach zu mir, und sie sagte, sie kenne keine schwarze Frau, die weint, sondern eine schwarze Frau, die singt.“

Eine andere wiederkehrende Erinnerung von Nati ist jene an die Schmach, die sie beim Singen während eines Folklorebewerbs erlebt: Sie wird disqualifiziert, weil sie sich bei einem Lied im Text irrt. Nati spricht die Yoruba-Sprache damals nur schlecht – und beschließt daraufhin, diese zu erlernen: Sie will sich ja dem Osha-Ifá-Kult anschließen und sich initiieren zu lassen.

Sie wird disqualifiziert, weil sie sich bei einem Lied im Text irrt.

Bei der gleichen Zeremonie manifestiert sich, während sie den verwegenen ISA-Tänzern zusieht, Yemayá als ihr Schutzengel, als ihre „andere Mutter“. Der Rest der Orishas spricht durch den Mund des Babalawo zu ihr, eines Wahrsagers. Oshún, so erinnert sich Nati, verspricht ihr, dass sie bald auf Reisen gehen werde, und Donnergott Changó, der ihr nach Yemayá am nächsten steht, verheißt ihr eine angenehme Überraschung.

Nati erinnerte sich an Oshúns Prophezeiung, als sie in ihrer eigenen kleinen Folkloregruppe singt, die auf Einladung der Kulturbehörden des Landes in ganz Kuba auftreten und sogar ein Konzert in Norwegen geben darf.

Fehlt noch die Überraschung von Changó: Nati erwartet sich eine weitere Reise in ein weit entferntes Land. Eines Nachmittags trifft sie den Direktor des Studentenwohnheims, in dem sie arbeitet.

Frau, Altar, Geschenke, Opfergaben, Obst, Torten, Blumen, Stoff Foto: Núria López Torres
Jahrestag einer Heiligen. Evi an einem festlich geschmückten Altar – genau ein Jahr nachdem sie Priesterin geworden ist. Der Jahrestag wird traditionell groß begangen.

Nati ist ganz in Weiß gekleidet: So ist es für die Iyawos, die Initiierten, ein Jahr lang vorgesehen. Der Direktor bittet sie, ihm mehr über den Yoruba-Kult zu verraten. Nati erzählt ihm, dass sie sich der Göttin Yemayá geweiht habe und wie alle Iyawos zum Fluss gegangen sei, um der Göttin Oshún in deren Wasser von ihrer, Natis, spirituellen Wiedergeburt zu berichten. „Wollen Sie bei einer Feier dabei sein, die ich zu Ehren meiner Schutzgöttin ausrichte?“, fragt Nati den Direktor.

Am verabredeten Tag lauscht der Direktor mit offenem Mund, wie die einfache Reinigungskraft der ENA ihre erstaunliche Stimme präsentiert, während sie die bunten Ketten um ihren Hals schüttelt und geschickt komplizierte Drehungen und Sprünge zeigt. Diese Nati hat nichts mehr von jenem verängstigten Mädchen, das sich einst auf der Bühne eines Gesangswettbewerbs blamiert hat. Sie ist sich nun ihrer selbst und vor allem des Schutzes ihrer Götter sicher.

Diese Nati hat nichts mehr von jenem verängstigten Mädchen, das sich einst auf der Bühne eines Gesangswettbewerbs blamiert hat.

Der Direktor fördert das neu entdeckte Talent seiner Mitarbeiterin, verhilft ihr zu einem Platz als Sängerin an der ENA. Es dauert nicht lange, bis sich das Schicksal erfüllt, das die Orishas für Nati vorgesehen haben: Sie ist Studierende an der ISA und tut, wovon sie geträumt hat. Changó hat wohl sein Versprechen gehalten.

Abgesehen von ihren Auftritten für die ISA-Tänzer wird Nati oft auch als Sängerin für Feste engagiert, die den Göttern gewidmet sind. Dort kommen viele Menschen zusammen, um ihre mächtige Stimme zu hören, und die Gäste tanzen fröhlich zu ihrem Gesang. Es gibt allerdings auch Menschen, die ihre Dienste ablehnen, weil sie eine Frau ist.

Nati weiß das: „Die Religion der Yoruba ist sexistisch – das lässt sich nicht leugnen. Uns Frauen wird vieles verboten, aber singen dürfen wir. Trotzdem gibt es in Havanna nicht einmal zehn von uns, die sich das trauen.“

Die Religion der Yoruba ist sexistisch – das lässt sich nicht leugnen.

Die Rolle der Frau wird im Osha-Ifá-Kult – trotz der Wichtigkeit der weiblichen Gottheiten – auf wenige indirekte und sekundäre Aufgaben reduziert. Dazu gehört die Initiierung eines neuen Santero, das Wahrsagen anhand von Schnecken, Kokosnüssen, Karten und Wassergläsern und die Kommunikation mit den Geistern. In den großen Zeremonien übernehmen sie das Nähen der Kleider für den Tanz, das Kochen der Opfergaben und die Entnahme der Eingeweide der geopferten Tiere.

Die großen Geheimnisse der Religion, die „Wege des Ifá“, sind Männern vorbehalten: Nur sie können Babalawos werden. Frauen ist es sogar verboten, die Trommeln zu schlagen. Die Kräfte der Batá-Trommeln gelten fast schon als Gottheiten: Jeder Schlag der Handflächen auf das gegerbte Ziegenleder kann Beschwörungen hervorrufen und ist ein männliches Vorrecht.

Afrikanische Religionen

Unter den religiösen Führern der Yoruba gibt es jedoch bereits Uneinigkeit hinsichtlich der Rolle der Frauen im Gottesdienst. Und immer mehr unterstützen, dass Frauen als Iyanifas, Priesterinnen, in die Wege des Ifá eingeweiht werden können, mit ähnlichen liturgischen Rechten wie die Babalawos.

Während ihrer Zeit als Eingeweihte, als Iyawá, muss Nati viele Gebote, Eggues, befolgen: So verbietet ihr Yemayá das Essen kleiner Fische. Manchmal verspeist Nati trotzdem einen, doch falls ihr eine Gräte im Hals stecken bleibt, wird ihr Yemayá nicht helfen. „Auch wenn es so klingt: Eggues sind keine Launen der Orishas, sondern Ratschläge, eine Art Prüfung. Jeder hat seine Eggues – das kann bedeuten, nicht im Zentrum von vier Ecken zu stehen, bestimmte Dinge nicht zu essen, nicht untreu zu sein oder nicht außer Haus zu schlafen“, beschreibt Nati. Und erschaudert, weil sie sich an die Geschichte einer jungen Santera erinnert, die gegen Yemayás Gebote verstoßen hatte.

Die Orisha in Blau hatte der angehenden Priesterin verboten, ans Meer zu gehen. Doch die missachtete das Eggue und ging zur Küste, um einer anderen Orisha des Meeres ein Opfer darzubringen. Gerade als sich die junge Frau vornüberbeugte, tauchte aus dem Nichts eine Welle in Form einer Hand auf und schleuderte sie minutenlang gegen die Felsen, bis sie tot war. Für Nati ist das kein Aberglaube: „Diese Dinge passieren, also muss man diszipliniert sein. Aber das bedeutet nicht, dass die Götter schlecht sind. Sie ermahnen uns lediglich, damit wir ein langes und gesundes Leben vor uns haben.“

Kostum, Tanz, Ritual Foto: Núria López Torres
Bereit für das anstehende Ritual.

Abgesehen von den Eggues können die Götter auch über Weissagungen vor einem bevorstehenden schlechten Omen warnen. Um diese Probleme zu meistern, stützt sich das Glaubenssystem auf Reinigungsrituale, Ebbós genannt. Um unter diesen Umständen die Gunst der Gottheit zu erlangen, wird auch manchmal auf Opfergaben und Tieropfer zurückgegriffen, je nachdem, was die Orisha durch ihren Vermittler, den Babalawo, verlangt.

Die Yoruba glauben, dass Götter segnen oder bestrafen können. Ihr vorrangiges Ziel sei es jedoch, die Erfüllung des Schicksals eines jeden Menschen zu sichern. „Manchmal“, sagt Nati, „erscheinen sie dabei auf dem Pfad des Lebens. Man muss nur aufmerksam sein und wissen, wie man die Zeichen deutet.“ Wie ein Bekannter von ihr, der von Elegguá, einem schelmischen und witzigen Orisha, der Süßigkeiten liebt, durch ein rechtzeitiges Stolpern gerettet wurde, als er kurz davor war, in einen Kugelhagel zu geraten.

Nach fünfzehn Jahren Erfahrung als Priesterin meistert Nati inzwischen die Momente, in denen ihre zweite Mutter Yemayá mitten im Gesang zu ihr herabsteigt, um mit ihr zu singen. In den Minuten der Trance klingt ihre Stimme klarer, die Orisha scheint durch ihre Kehle zu singen, im Zustand von Ekstase und spiritueller Euphorie. Gelegentlich fährt Yemayá bei einem Fest auch völlig unerwartet in Natis Körper und übernimmt ihn gewaltsam.

Nati fühlt dann, wie ihr Herz schneller schlägt und ihr die Haare zu Berge stehen. Kommt Yemayá aus einer Laune heraus und nicht, weil Nati sie freundlich eingeladen hat, singt und betet Nati lauter und bittet die Trommler, die Musik zu beschleunigen. Dann fordert sie ihren Schutzengel spöttisch heraus. „Yemayá, du bist nicht richtig im Kopf! Niemand hört auf dich, weil du so verrückt bist“ – und schon sucht die Göttin zornig das Weite.

Prister, Mann, Ritual Foto: Núria López Torres
Die nächste Generation William ist ein junger Vertreter der „Väter des geheimen Wissens“, wie Babalawos genannt werden. William trägt den höchsten Titel der Yoruba-Religion und darf deshalb bestimmte rituelle Handlungen vornehmen, beispiels-weise Tiere opfern.

Nati und Yemayá haben auch einen verborgenen Platz im Nichts, wo sich die beiden bisweilen begegnen. Für Nati liegt dieser Ort ohne Zeit auf halbem Weg zwischen dem astralen Universum und jener Materie, die unsere irdische Welt beherrscht. Ein Ort, den nur sie besucht und den niemand sonst wahrnehmen kann. In der sichtbaren Wirklichkeit singt Nati weiter ihre Gebete und Lobgesänge, geleitet vom Klang der Trommeln, aber im Geiste ist sie schon weit weg, auf den Knien vor ihrer Glaubensmutter.

„Liebste Mama, auf diese Frau brauchst du nicht eifersüchtig zu sein“, sagt Nati und streicht ihrer Mutter zärtlich übers Haar. „Du bist die Königin der Welt und die schönste Orisha. Und du weißt, dass ich dich liebe.“ Und dann unterhalten sich die zwei Frauen und erzählen sich all jene Geheimnisse, die nicht einmal die Götter erfahren werden.

Buch, Religion, Rituale Foto: Núria López Torres
Dieses Buch enthält Rituale und geheime Symbole der Abakuá. Es wird von Priester zu Priester weiter-gereicht.

Ein kurzer Leitfaden zur Afrokubanischen Religion

Naturreligiöses Brauchtum der westafrikanischen Yoruba – sesshaft in Benin und Nigeria – kam ab dem 16. Jahrhundert durch den Sklavenhandel nach Kuba. Dort existiert die Yoruba-Religion heute als ursprüngliche Form und als Teil der Santería (spanisch „Weg der Heiligen“). Diese erlaubt die Verehrung von Yoruba-Göttern (Orishas) und katholischen Heiligen. Während die Santería (auch Regla de Ocha) auf der Yoruba-Tradition fußt, beruft sich die auf Kuba ebenso verbreitete Regla Conga auf Traditionen aus dem Gebiet des Kongo.

Die dritte in Kuba praktizierte Variante von Naturreligionen ist die Männergeheimgesellschaft Abakuá. Wesenskern aller afrokubanischen Religionen sind die Magie von Pflanzen und Kräutern und mündlich überlieferte Mythen. Gläubige suchen Rat bei Priestern (weiblich: Santera, männlich: Santero), die ihr Leben einer Orisha gewidmet haben („gekrönt“ wurden) und die Religion praktizieren.

Die Krönung wird über sieben Tage in verschiedenen Zeremonien durchgeführt. Danach muss die/der Eingeweihte (Iyawó) ein Jahr und sieben Tage lang weiße Kleidung tragen und in dieser Zeit eine Vielzahl von Regeln befolgen. Spezielle Medizinfrauen oder -männer heißen Iyanifa (weiblich, mit weniger Rechten) und Babalawo (männlich). Sie widmen sich der Wahrsagerei und Ritualen, die Menschen von ihren Problemen befreien.

Die Philosophie der Religion basiert auf einem untrennbaren Kosmos, in dem Unsichtbares und Sichtbares sich über die universelle Lebensenergie Ashé in Balance halten. Ashé steckt in allen Lebewesen und Gegenständen, aber auch in Gebeten und Geistwesen und muss ständig mithilfe der Rituale erneuert werden. Die vier fundamentalen Rituale sind Wahrsagerei, Opfer (die Nahrung der Orishas ist das Blut geopferter Tiere), Trance-Tänze und mehrstufige Initiation: Dadurch steigen Gläubige in der Hierarchie auf.

Über allem steht der allmächtige Gott Olódùmarè. Die Götter unter ihm, die Orishas, können Wunder bewirken. Als vermenschlichte Geistwesen fungieren sie als Boten und Vermittler zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt.

In der Santería bilden etwa zwanzig Orishas den Kern; von sieben kann der Gläubige besessen sein. Orishas sind regional unterschiedlich bedeutend: Sie stehen mit den Naturkäften Erde, Wasser, Luft und Feuer in Verbindung.

Ihnen sind Farben, Zahlen und Pflanzen ebenso zugeordnet wie Klänge, Rhythmen, Speisen und Getränke. Gläubige hüten ihre Orishas in Schreinen: Diese oft bizarr dekorierten Behältnissen beinhalten Steine, Schnecken sowie andere Gegenstände, die die Existenz der Orishas symbolisieren.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, Frühling 2021.

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