Jagen wie damals

Es war schon dämmrig, als mein Vater den Manul entdeckte. Die kleine Wildkatze kroch gerade in den Bau eines Murmeltiers. Mein Vater rief nach mir, und ich wusste, was zu tun war: Mit meinem Adler auf dem Arm kletterte ich auf den nahen Hügel. Als ich oben war, warf mein Vater Steine zum Eingang des Baus. Ich zog meinem Adler die schützende Lederhaube vom Kopf. Er blickte sich um. Von unserem Platz aus konnten wir sehen, dass der aufgeschreckte Manul in den unterirdischen Gängen einen zweiten Ausgang gefunden hatte und vorsichtig auftauchte. Mit einem Ruck hob ich meinen Adler. Der breitete seine Schwingen aus, stieg hoch, stieß dann hinunter und holte sich den Manul.“
Diese Geschichte erzählt Zamanbol, das fünfzehnjährige Mongolenmädchen, wird es nach seinem schönsten Jagderlebnis gefragt. Für Zuhörer, die zum ersten Mal im Altai-Gebirge zu Gast sind, klingt die Geschichte abenteuerlich. Doch Erlebnisse wie dieses haben sich wohl schon vor Jahrhunderten so zugetragen oder gar vor Jahrtausenden. So lange gehen Nomaden im Westen der Mongolei mit halbzahmen Adlern auf die Jagd. Bei ihrem Angriff packen die Adler die Beute am Nacken und töten sie mit ihren Klauen innerhalb von Sekunden. Die Raubvögel schlagen Hasen, Füchse und eben auch Manuls, sie überlassen die Beute aber den Jägern. Diese teilen das Fleisch mit dem Vogel; das Fell tauschen sie ein gegen Schafe oder fertigen daraus prächtige Wintermäntel für sich. So jedenfalls war das seit jeher.

Die Fotografin und die Adlerjägerinnen
Doch die Dinge ändern sich. Viele junge Nomaden wollen lieber in der Stadt leben, dort gibt es keinen Platz für Adler. Gleichzeitig scheint die Beizjagd – vom mittelhochdeutschen Begriff beizen für beißen – eine Renaissance zu erleben. Nachwuchs kommt aus unerwarteter Richtung, denn auch Mädchen gehen hier auf die Jagd.
Die Schweizer Fotografin Alessandra Meniconzi reist bereits seit Jahren immer wieder in die Mongolei, um die Jagd mit Adlern und das Leben dieser Jägerinnen zu dokumentieren. Sie drückt mit klammen Fingern auf den Auslöser, wenn die Hirten ihre Herden durch den Schneesturm zur nächsten Weide treiben und ist dabei, wenn die Mädchen mit Adlern am Arm auf exponierten Klippen balancieren, um ihren Raubvögeln einen perfekten Späh- und Startplatz zu bieten.
2017 lernt Meniconzi den Adlerjäger Dayinbek und seine damals achtjährige Tochter Aimoldir kennen. Die spielt wie selbstverständlich mit einem jungen Falken. Als Meniconzi das Kind fragt, ob es später einmal mit dem Adler auf die Jagd gehen wolle, antwortet der Vater und widerspricht vehement. Adler seien viel zu groß und zu schwer für seine Tochter. Und überhaupt sei die Jagd mit ihnen viel zu schwierig für Mädchen.
Als Meniconzi im vergangenen Herbst die Familie wieder besucht, trägt Aimoldir ihren Adler Tirnek sicher auf dem Arm. Und kein anderes Mädchen, erzählt Meniconzi, gehe mit den mächtigen Raubvögeln so selbstverständlich um wie Aimoldir. Hilfe ihres Vater braucht sie dabei keine mehr. Der ist zwar stolz auf seine Tochter – aber auch ein wenig irritiert. „Eines Tages werden nur noch Frauen auf die Jagd gehen, und die Männer erledigen den Haushalt“, sagt er. Dann lacht er laut, damit niemand auf die Idee kommt, er meine es ernst.





Und überhaupt sei die Jagd mit ihnen viel zu schwierig für Mädchen.
Die Waffen einer Frau
Tatsächlich steigt der Anteil der Mädchen in der Jägerschaft. So wie einst nur ihre Brüder, wissen jetzt genauso junge Frauen, Steinadler mit bestem Lammfleisch zu verwöhnen, damit sie die menschliche Obhut akzeptieren. Von ihren Vätern und Großvätern lernen die Jungjägerinnen, die Vögel – verwendet werden nur Weibchen – rechtzeitig vor der Jagd ein wenig hungern zu lassen, damit deren Killerinstinkt erwacht. Zamanbols Bruder hat sich einst gegen die Jagd entschieden und gegen das Nomadenleben. Was Zamanbol amüsiert. „Er glaubt ernsthaft, er sei ein Stadtkind! Also trage ich jetzt die Tradition unserer Familie weiter.“ Dass solche Karrieren in der männerdominierten Welt der Nomaden möglich sind, liegt auch an einem Kollegen der Fotografin Meniconzi: Der Israeli Asher Svidensky veröffentlicht 2014 ein eindrucksvolles Foto der damals dreizehnjährigen Aisholpan. Das Mädchen in kasachischer Tracht, angetan mit voluminöser Fellmütze und ledernem Falknerhandschuh, sitzt dabei auf einem schroffen Felsen und lacht einem imposanten Adler hinterher, der sich eben von ihrem Arm erhoben hat.
Das Foto wird weltbekannt, und auch der US-Filmemacher Otto Bell stößt auf Aisholpan. Er recherchiert und dreht dann eine Doku-Soap über sie. Der Film zeigt, wie Aisholpan einen halbwüchsigen Adler aus seinem Horst entführt, ihn großzieht und trainiert. Er erzählt von Anfeindungen männlicher Kollegen, die dem Mädchen gar nicht zutrauen, das ausgewachsene Tier zu tragen, geschweige denn, mit ihm am Arm sicher auf einem Pferd zu sitzen. Doch Aisholpan bleibt im Film trotz aller Miesepeter auf Kurs, perfektioniert ihre Jagdfertigkeiten und gewinnt schließlich – zumindest im Film – einen Jagdwettbewerb gegen die männliche Konkurrenz.
Ein modernes Märchen. Seit der Filmpremiere strömen Besucher aus aller Welt in die Mongolei, um die Adlerjagd zu erleben. Und natürlich die Adlerjägerinnen. „Der Film bringt viele Touristen ins Land, das ist gut“, sagt Zamanbols Vater Talap. Denn die Touristen lassen Geld in der Region und sie tragen Eindrücke aus einem zuvor übersehenen Winkel der Erde nach Hause.
Andererseits verändern die Gäste mit ihrer Neugierde die alten Traditionen. In vielen Gesprächen mit Adlerjägerinnen und -jägern erfuhr Meniconzi von einem Graben, der seit kurzem die Gemeinschaft spaltet. Auf der einen Seite stehen Traditionalisten, männlich wie weiblich, die das alte Waidwerk authentisch bewahren wollen. Sie wissen exakt, seit wie vielen Generationen in ihren Familien mit Adlern gejagt wird. Sie wissen, wie sie junge Adler aus dem Horst holen, ohne das Nest und die Überlebenschance für das restliche Gelege zu zerstören. Sie sind stolz darauf, dass sie mit ihren Adlern bei Schnee und Eiseskälte losziehen, um Beute zu machen.

Eine inszenierte Jagd
Auf der anderen Seite des Grabens stehen Schausteller, die sich fürs Foto selbst im Sommer in warme Pelzmäntel hüllen, Adler in die Höherecken und sie dann bloß bei Wettbewerben fliegen lassen, die sie für zahlende Touristen ausrichten. „Jedes Jahr steigt die Zahl dieser Fake-Jäger“,schimpft Talap. „Jedes Jahr gibt es mehr Mädchen, die so tun, als wären sie Adlerjägerinnen.“
Natürlich seien nur wenige Touristen in der Lage, echten Jägern tagelang in die Berge zu folgen. Aber noch weniger würden sich die Zeit dafür nehmen. Das, was für die Gäste angerichtet wird, sei einfach nicht in Ordnung, sagt Talap: „Manche Fake-Jäger fangen junge Wölfe, um sie dann in inszenierten Jagden freizulassen. Und sie legen Füchse in Ketten, damit die Gäste garantiert einen Jagderfolg zu sehen bekommen.“ Gehe das so weiter, fürchtet Talap, werde geistloses Treiben das Erbe seiner Ahnen überlagern.
Noch aber ist es nicht so weit. Noch zieht zum Beispiel Damels Clan mitsamt seinen Herden im Rhythmus der Jahreszeiten von Weide zu Weide, und der Adler reist mit. Alle kümmern sich um das Tier, es ist Teil der Familie. Gejagt wird regelmäßig – aber nie an Dienstagen, denn der Dienstag ist für die Nomaden ein Unglückstag.
Sie sollen unsere Traditionen kennenlernen und unsere Liebe für die Natur.
Nach acht bis zwölf Jahren – in jeder Familie gibt es hier andere Angaben – endet die Jagdkarriere der Vögel. Die Jäger tragen ihren Adler dann in die Berge. Sie deponieren ein totes Schaf, damit der Vogel genug zu fressen hat, und machen sich davon. Der Adler wird wohl noch eine Weile nach seinen Pflegern suchen, doch dann für immer zurückkehren in die Wildnis. Steinadler können bis zu dreißig Jahre alt werden: In der ihm verbleibenden Zeit wird das Tier für Nachwuchs sorgen. Und so sicherstellen, dass die Adlerjagd auch in Zukunft weitergehen wird.
Und die Gäste? „Wir heißen alle willkommen“, sagt Talap. „Sie sollen unsere Traditionen kennenlernen und unsere Liebe für die Natur.“ Doch eines sagt Talap auch: Die Besucher sollten sich keine Shows anschauen, sondern wenn möglich mit echten Jägern auf die Pirsch gehen.

Reisetipps: Im Wilden Westen der Mongolei
WAS MACHE ICH DORT? Die Zeit vergessen. Der Nationalpark Altai Tavan Bogd bietet dafür die Zutaten: gigantische Ausblicke, Rei- ten am Ufer des leuchtend blauen Khoton Nuur. Abends laden heiße Quellen zum Entspannen ein, und schließlich wartet ein überbordender Sternenhimmel auf seinen Auftritt. Kontakt zu Adlerjägern findet man bereits in der Stadt Ölgii.
UNBEDINGT PROBIEREN: Boodog oder Murmeltier speciale – dabei werden die Innereien entfernt und der Bauchraum mit heißen Steinen gefüllt. Von außen brennt man die Haare weg – et voilà: Essenszeit! Dazu ein Glas salziger Milchtee, und das Dinner ist perfekt.
WIE KOMME ICH HIN? Flug nach Ulaanbaatar (ab 600 Euro), dann weiter nach Ölgii (ab 200 Euro). Alternativ: zwei bis drei Tage im Bus nach Ölgii. Dort eine mehrtägige Tour buchen.
BESTE REISEZEIT: Heuer findet das Golden Eagle Festival in Ölgii am 3. und 4. Oktober statt. Gut zu bereisen ist die Region schon ab Juni, wenn die schlimmste Kälte überwunden ist.
Die Reportage erschien im Terra Mater Magazin 02-2020.

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