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Der letzte König von Amerika

Seit 22 Jahren ist Julio Pinedo y Pinedo das Oberhaupt des afro-bolivianischen Volkes. Die Königswürde gebührt ihm als Nachfahren des Prinzen Uchicho, der nach Südamerika verschleppt wurde. Doch der Monarch hat ein Problem: Ihm fehlt das Talent zur Macht.
Text: Andreas Fink, Fotos: Susana Giron / 21 Min. Lesezeit
Julio Pinedo y Pinedo – Oberhaupt des afro-bolivianischen Volkes und seine Krone. Foto: Susana Girón
Julio Pinedo y Pinedo – Oberhaupt des afro-bolivianischen Volkes und seine Krone.
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Die Sonne, Don Julio!“ – „Ja, die Sonne“, antwortet der Mann mit dem Käppi und blickt zu Boden. Er geht zurück in seinen Gemischtwarenladen und setzt sich an einen verschrammten Holztisch. Den Rücken zur Wand, blickt er in die Röhre eines Philips-Fernsehers, dessen Äußeres wohl einst silbern geglänzt haben muss, ehe sich Fett und Staub über das Gehäuse hergemacht haben. Das TV-Gerät thront mitten im Raum, als oberstes Element einer dreigeschoßigen Auftürmung, die Ladentheke und eine gläserne Vitrine bilden die beiden unteren Etagen. Das Vormittagsprogramm von Bolivisión zeigt eine mexikanische Telenovela, eines jener Rührstücke, die von großen Gefühlen erzählen – von Liebe, Trug und Hinterlist. Von Menschen, die schön sind, reich und fast immer weiß. Reglos betrachtet der schwarze Mann den Schirm. Auf seinem Käppi steht Puma.

„Die Sonne, Don Julio!“ – „Ja, die Sonne“, - antwortet der Angesprochene mit hoher und nicht sonderlich kräftiger Stimme, ohne seinen melancholischen Blick von der Mattscheibe zu nehmen. Ihm ist einerlei, dass Nachbar Don Zacarías und sein Helfer längst pralle Säcke auf den Dorfplatz schleppen. Dass sie dort ausgebreitete blaue Plastikplanen mit grünen, fruchtig riechenden Kokablättern übersäen. Anderthalb Stunden Sonnenschein braucht es, vielleicht auch zwei, bis die Feuchtigkeit aus dem Grünzeug verdampft, anderthalb Stunden ohne Regentropfen. Werden die Blätter während des Trocknungsvorgangs auch nur ein bisschen feucht, verfärben sie sich und verlieren zwei Drittel ihres Werts. Auf Don Julios Veranda liegt bereits ein Sack voll brauner Koka.

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Don Julio wartet, zögert, hadert. Es ist der vierte Monat der Regenzeit, die in diesem Jahr dermaßen viel Wasser zur Erde schickte, dass die Regierung in La Paz mehrere Departements zu Notstandsgebieten erklären musste. Auch heute blähen sich die Wolken über den Hochwäldern der Yungas an Boliviens östlichem Andenabhang. Zwischen den immergrünen Bergkuppen verhaken sich Nebelfetzen. Aus dem Wald krächzen Papageien über das Dorf, unterlegt vom Gebell zweier Straßenköter. Gegen zehn Uhr gelingt es einer hoch stehenden Sonne erstmals, auf den vollgesogenen Dorfplatz von Mururata durchzustoßen, doch weil die schweren Wolken nicht weichen, ist es ein Kampf mit unklarem Ausgang. Jeden Augenblick könnte ein Schauer auf der Plaza niedergehen und den zweiten Teil von Don Julios Ernte vernichten.

Don Julio besucht das Grab seines Großvaters Bonifacio. Foto: Susana Girón
Don Julio besucht das Grab seines Großvaters Bonifacio.

Ein unscheinbarer Monarch

Eine Telenovela-Folge vergeht, die Ausbeute des Nachbarn ist schon fast trocken, da steht Don Julio von seinem Stuhl auf. Er trägt ein weißes Hemd, eine braune Strickweste, eine Wollhose und schwarze Lederschuhe. In einem Dorf, dessen männliche Bewohner zumeist Fußballtrikots, Shorts und Plastiksandalen tragen, hebt sich der schlanke, mittelgroße Mann ab. Nur wer genau hinsieht, erkennt, dass er barfuß in seinen Schuhen steht, als er nun ebenfalls Kokablätter zum Trocknen auslegt. Don Julio schaufelt mit der Rechten seine grüne Ernte aus dem Baumwollsack und verteilt sie mit geübtem Armschwung. Später, als er die Blätter mit einem Holzstock wendet, läuft im Fernseher der Hinweis auf den Knaller des Abendprogramms: „Der Boss des Bösen“ – die 114-teilige TV-Serie über Pablo Escobar, jenen kolumbianischen Multimilliardär, den die Gringos einst „The King of Cocaine“ nannten.

Doch der echte König in dieser Geschichte ist der Bauer mit Baseballkappe, der sich heute darüber freuen kann, dass das Wetter hält und er mit den getrockneten grünen Blättern zumindest 500 Bolivianos einnehmen kann, das sind umgerechnet gut 70 Dollar. Seit 22 Jahren ist Julio Pinedo y Pinedo das gekrönte Oberhaupt des afrobolivianischen Volkes. Und er ist, seit der formellen Anerkennung durch die Behörden des Plurinationalen Staates Bolivien, der einzige offizielle Monarch des Kontinents. Der letzte König von Amerika.

Er ist, seit der formellen Anerkennung durch die Behörden des Plurinationalen Staates Bolivien, der einzige offizielle Monarch des Kontinents. Der letzte König von Amerika. Ein Monarch ohne Macht, ohne Schloss, ohne Thron.

Man könnte diese Geschichte als Posse erzählen, sich lustig machen über diesen Monarchen ohne Macht, ohne Schloss, ohne Thron. Man könnte sich erheitern über das königliche Wappen der „Casa Real Afroboliviana“, das ein naiv gemaltes Segelschiff zeigt, eine Sonne, ein Lama und den Kopf eines gekrönten Mannes dunkler Hautfarbe. Oder über den von Seiner Majestät verliehenen „Königlichen Verdienstorden des Prinzen Uchicho“. Aber das wäre respektlos gegenüber Don Julio und den Menschen von Mururata. Denn Seine Majestät ist ein Mann, den die Menschen in seiner Umgebung achten. Viele sagen, er sei ein guter Nachbar, ein anständiger Mensch, ein bescheidener Mann, der sich niemals für etwas Besseres gehalten hat. Darum respektieren ihn die meisten in Mururata, egal ob deren Vorfahren einst aus Afrika hierher verschleppt wurden oder ob sie aus dem kargen Andenhochland in diese dampfigen Regenwälder herabstiegen.

Der Monarch mit Machete. Foto: Susana Girón
Der Monarch mit Machete.

Bis heute kann der Weg in die Yungas zum Abenteuer ausarten, besonders in den feuchten Monaten zwischen November und März, wenn das Wasser die steilen Abhänge aufweicht und Erdmassen zu rutschen beginnen. Im Viertel Villa Fátima, im Osten der Hauptstadt La Paz, beginnt die Ruta Nacional 3 anzusteigen, bis sie nach etwa 20 Kilometern einen Sattel in 4.600 Meter Seehöhe passiert. Danach geht es nur noch bergab, in hunderten Kurven führt die vor ein paar Jahren gebaute neue Straße hinunter in Richtung des bolivianischen Tieflands.

Bis 2007 führte bloß eine ungeteerte, ungesicherte und stellenweise nur drei Meter schmale Piste ins Tal, die bis heute „Camino de la Muerte“ heißt, die „Straße des Todes“. Wo einst regelmäßig Lastwagen und Busse hunderte Meter in die Tiefe stürzten, rauschen heute Touristen auf Downhill­-Bikes zu Tal, 70 Dollar kostet der Spaß, inklusive Rückfahrt im Kleinbus. Doch bis zur Abzweigung nach Mururata gelangen die wenigsten Touristen. Der Regent aus dem Regenwald hat es noch nicht in die Reiseführer geschafft.

Fünf Kilometer Schotterpiste trennen das Dorf vom asphaltierten Fortschritt. In einer Serpentine beginnt die Siedlung, die sich auf einem Bergsattel duckt. Dieser lässt genug Raum für die Plaza mit Kirche, Pavillon und Kulturzentrum sowie drei Straßenzüge, die den Dorfplatz wie ein U umschließen. Bei einer Volkszählung vor ein paar Jahren wurden hier 426 Einwohner registriert, etwa zwei Drittel gehören zum Volk der Aymara, ein Drittel sind afrikanischer Abstammung. Wellblech deckt die Häuser aus Lehm und oftmals unverputzten Ziegeln. Auf vielen Fassaden wuchern Schwämme, Kartons ersetzen zerbrochene Fensterscheiben. Autos sind wenige zu sehen, dafür umso mehr Plastikkübel, mit denen die Dörfler den Regen auffangen, denn das Leitungswasser bleibt ständig aus.

Sportplatz vor der Schule in Tocaña. Foto: Susana Girón
Sportplatz vor der Schule in Tocaña.

Eine Frau von Format: Doña Angélica

Doña Angélica offeriert uns Mandarinenlimonade aus der Kühltruhe. Bis die signalfarbene Brause antaut, bleibt Zeit für einen Rundblick in diesem Haus, das strategisch günstig zwischen Hauptstraße und Dorfplatz liegt. Ein Ziegelbau, das Obergeschoß ist außen grün getüncht, während das Innere des Erdgeschoßes einst einen blauen Anstrich bekommen hat. Staub, Feuchtigkeit und kindliche Kreativität haben der Farbe schwer zugesetzt. An der Wand über dem Esstisch hängen Kalender, eine bunt illustrierte Instruktion über häusliche Hygiene und, gerahmt und hinter Glas, die Urkunde, mit der Julio Pinedo am 3. Dezember 2007 vom Gouverneur des Departements La Paz als „Rey Afroboliviano“ bestätigt wurde, dem, so Artikel 2 des Dokuments, „die gesamte Bevölkerung Respekt, Anerkennung und Wertschätzung entgegenzubringen hat“.

Das königliche Paar. Doña Angélica und Don Julio in ihrem Zuhause. Foto: Susana Girón
Das königliche Paar. Doña Angélica und Don Julio in ihrem Zuhause.

Und das ist die königliche Residenz?

Als Doña Angélica schließlich die ersten eiskalten Tropfen aus der Flasche klopft, antwortet sie mit einem Lächeln: „Ja, und ich bin die Königin.“ Diese dunkelhäutige Frau, gekleidet wie ihre indigenen Nachbarinnen – Faltenrock, Strickjacke, Melonenhut –, verströmt mit ihrem warmen und offenen Blick tatsächlich so etwas wie eine natürliche Autorität. Obwohl sie als Kind nicht zur Schule gehen durfte und deshalb nie wirklich lesen lernte, war sie zweimal Bürgermeisterin des Ortes, als dieser noch nicht von der Bezirkshauptstadt Coroico aus verwaltet wurde. Sie hat Elektrizität nach Mururata geholt und den Dorfplatz anlegen lassen. Doch dieser kümmert inzwischen ähnlich vor sich hin wie der königliche Gemischtwarenladen, der nicht konkurrieren kann mit den zwei neuen Geschäften an der Hauptstraße, die Telefonkarten anbieten, Schreibwaren und donnerstags gar warmes Essen.

Darlen, die Großnichte des Königs, bringt frisch gebackenes Brot in der Scheibtruhe zum Laden. Foto: Susana Girón
Darlen, die Großnichte des Königs, bringt frisch gebackenes Brot in der Scheibtruhe zum Laden.

„Wir verkaufen Speiseeis“ steht auf der Tür ihres Ladens, aber alle Kinder, die danach fragen, müssen enttäuscht wieder abziehen. Doña Angélica fehlt das Geld, um zu kaufen, was sie verkaufen könnte. In den Regalen stehen nur noch ein paar Flaschen Sojaöl und Sardinenbüchsen, und vor der Ladentheke lagern drei offene Plastiksäcke mit Reis und Nudeln. Früher haben sie jeden Freitag Brot gebacken, doch nun, da Missernten in Argentinien den Mehlpreis verdreifacht haben, lohnt sich die stundenlange Arbeit kaum noch, denn niemand im Dorf zahlt mehr als 50 Centavos pro Fladen, das sind umgerechnet etwa 6 Eurocent.

Das Königshaus in Mururata. Foto: Susana Girón
Das Königshaus in Mururata.

Wie alles begann

Die Dämmerung ist schon hereingebrochen, als unvermittelt der Hausherr im Türrahmen steht, schwarzes Käppi, schwarze Hose, ein löchriges helles Oberhemd, in der Rechten eine Machete. „Buenas noches, Su Majestad!“ „Guten Abend“, entgegnet der König, legt sein Schwert beiseite und erwidert den Händedruck, allerdings weit weniger kräftig als erwartet. „Sagen Sie ruhig Don Julio zu mir, das machen hier alle so.“ Acht Stunden war er auf dem Kokafeld. Kein Monarch dieser Welt dürfte heute mehr geschwitzt haben als er.

Erfrischt und umgezogen, führt er eine Viertelstunde später quer über den Platz zu dem neuen Kulturzentrum, eröffnet 2012 mit Fördergeldern der EU. Don Julio, nun im rosafarbenen Hemd, bittet in den ersten Raum links, den Königssaal. Fünf mal fünf Meter, wassergrüner Anstrich, blanker Betonfußboden, 75 Watt aus einer nackten Glühbirne. Der Monarch setzt sich an den vollkommen leeren Schreibtisch und zeigt auf die fünf Schautafeln an der Wand: „Da können Sie alles nachlesen.“

Königliche Räumlichkeiten und Arbeitsplatz. Foto: Susana Girón
Königliche Räumlichkeiten und Arbeitsplatz.

Also studieren wir die Geschichte vom afrikanischen Prinzen Uchicho, der, so der Text auf Spanisch und Englisch, um 1820 aus der afrikanischen Region Kikongo in die bolivianischen Yungas verschleppt worden ist, wo er Zwangsarbeit leisten musste – auf der Hacienda des Grafen Pinedo in Mururata. Die Chronik erzählt weiter, dass die anderen Sklaven an Tätowierungen und anderen „Körpermerkmalen“ erkannten, dass der junge Uchicho ein Königssohn war, und dass sie deshalb dem Grafen vorschlugen, freiwillig eine halbe Stunde pro Tag mehr zu arbeiten, damit der Prinz vom Frondienst befreit werde. Im Jahr 1832 sei der Prinz Uchicho, der, wie üblich im Sklavereisystem, den Nachnamen seines Besitzers Pinedo hatte übernehmen müssen, auf der Hacienda zum König der Afrobolivianer gekürt worden. Die Herrschaftsinsignien – Krone, Zepter und Umhang – habe der Vater des Prinzen aus dem Senegal in die Yungas geschickt. Der letzte König aus dieser Dynastie verstarb 1952. Er hieß Bonifacio Pinedo und war Don Julios Großvater.

Großpapa Bonifacios Ausweis. Foto: Susana Girón
Großpapa Bonifacios Ausweis.

Und das stimmt so?

Zweifel kommen schnell auf: Kikongo ist in Wahrheit eine Sprachgruppe und keine Region. Und die Gegend, wo Kikongo gesprochen wird – sie umfasst Teile des heutigen Gabun, der beiden Kongo-Republiken und Angolas – liegt tausende Kilometer vom Senegal entfernt. Verlässlichere Quellen als diese Wandtafeln besagen, dass im Jahre 1825 Andrés de Santa Cruz, der damalige Präsident Boliviens, in Peru eine Gruppe von 80 afrikanischen Familien gekauft hat, die nach der brutalen Andenpassage via Cuzco und La Paz schließlich in den Haciendas von Coroico, Tocaña und Mururata ausgebeutet wurden. Von diesem größten Kontingent afrikanischer Sklaven, das jemals ins Gebiet des heutigen Bolivien gebracht wurde, stammen die meisten dunkelhäutigen Bewohner dieses Landstrichs ab.

Also auch Don Julio? Dieser antwortet, sein Großvater, der ihn aufgezogen habe, sei tatsächlich König gewesen. Aber die Ursprünge seiner Familie seien sehr unklar, deshalb will er darüber nicht reden. Eigentlich will er gar nicht mehr reden, er ist müde. Zum Abschied empfiehlt er: „Fragen Sie doch Don Martín!“

Der Gemischtwarenladen des königlichen Ehepaares. Foto: Susana Girón
Der Gemischtwarenladen des königlichen Ehepaares.

Martín Cariaga ist jener weiße Mann mit Bart, der auf dem offiziellen Foto zu sehen ist, das 1992 anlässlich Don Julios Krönung vor der kleinen Kirche der Hacienda Mururata aufgenommen wurde. „Ich habe seinerzeit Julio Pinedo dazu gedrängt, sich wie einst sein Großvater Bonifacio zum König krönen zu lassen“, erzählt der Gutsherr. Der Spross aus der alten Oberschicht, der die Hacienda vor Jahren zu einem luxuriösen Wochenendhaus hat umbauen lassen, lebt in der Hauptstadt La Paz. „Schon als ich ein Kind war, erzählte mir meine Mutter davon, dass die schwarzen Arbeiter einen eigenen König hatten. Später begann ich dem nachzugehen und fand eine Chronik des Schriftstellers Antonio Paredes Candia, der aus Gesprächen mit den Alten der Gegend die Geschichte vom Prinzen Uchicho rekonstruiert hatte. Bonifacio war demzufolge der Enkel Uchichos, des Prinzen aus Afrika. Mich faszinierte dieser Bericht so, dass ich beschloss, diese Monarchie wiederherzustellen.“

Die Hacienda ist inzwischen vom neuen Besitzer Martín Cariaga zum Wochenendhaus umgebaut worden. Foto: Susana Girón
Die Hacienda ist inzwischen vom neuen Besitzer Martín Cariaga zum Wochenendhaus umgebaut worden.

Mich faszinierte dieser Bericht so, dass ich beschloss, diese Monarchie wiederherzustellen.

Martín Cariag, Gutsherr

Aber ist es nicht ein erheblicher Geburtsfehler, dass ausgerechnet ein reicher Nachfahre der kolonialen Ausbeuter die Monarchie der Afrobolivianer wiederbelebte – und das auf Basis einer Chronik aus der Feder eines weißen Romanciers aus der Hauptstadt? Don Julio sagt, dass er ursprünglich das Erbe des Großvaters gar nicht antreten hatte wollen. Dass Don Martín, dass seine Frau, seine Freunde ihm gesagt hätten, mit diesem symbolischen Akt könne er seinem Volk helfen. Dass sie ihn überredet hätten.

Die Straße zur Hacienda führt bergab, gleich hinter der Plaza beginnt der Schotterweg, der allmählich zu einem überwachsenen Schlammpfad wird. Wenn die Leute aus dem Dorf hier durchgehen, schlagen sie mit Macheten oder Stöcken auf die hohen Gräser ein, um Schlangen zu verscheuchen, die sich gern auf solchen Wegen sonnen. Der Marsch endet an einem Holztor, das nur mit Draht fixiert ist. Der Verwalter öffnet dieses Geflecht im Handumdrehen.

Es ist wie der Weg in das Dornröschenschloss. An diesem Morgen hat sich die Sonne durchgesetzt und illuminiert jenen gierigen Wildwuchs, der sich in der feuchtwarmen Regenzeit über das gesamte Gut gelegt hat. Der Rasen um den runden Swimmingpool steht kniehoch, das Unkraut hat sich längst über einen Bottich und die harthölzerne Gewindestange der Kokapresse hergemacht. So wurden die Blätter einst für den Abtransport verdichtet.

Das Dorf Mururata

Seit die Spanier oben in den Bergen die Gold und Silbervorkommen ausplündern ließen, wurden in den Yungas Nahrungs­ und Rauschmittel für die Minenarbeiter produziert. Die Kenntnisse der hierher verschleppten Afrikaner im Anbau von Reis, Bananen und Maniok wurden von den Gutsherren ebenso ausgebeutet wie die Fähigkeiten der Aymara, die aus Peru ihr Wissen über Kakao und Kaffee mitbrachten – und vor allem ihre Erfahrungen mit der Kokapflanze, die bis heute das Hauptprodukt der Region ist.

Hinter dem Haupthaus der Hacienda wurden die Blätter auf einem riesigen gefliesten Hof getrocknet. Heute sieht diese Fläche aus wie der Exerzierplatz einer aufgegebenen Kaserne, zwischen den Bodenplatten treiben Grashalme empor. „Ich komme leider viel zu selten da hinunter“, klagt Martín Cariaga.

Doña Angélica beim Kochen. Foto: Susana Girón
Doña Angélica beim Kochen.

Ein König ohne Aufgaben

Eigentlich war es ganz anders geplant. Cariaga wollte den Monarchen aus Mururata zum Magneten für Touristen machen. Noch heute wirbt er für jenen „Camino del Rey“, den er zwischen Dorf, Hacienda und dem alten Friedhof anlegen wollte.

Doch der Unternehmer hat ein Personalproblem: Sein wichtigster Protagonist passt nicht in den Businessplan. Pinedo, das bestätigen selbst jene afrobolivianischen Aktivisten, die dem „Onkel Julio“ wohlgesinnt sind, ist zu schüchtern, zu still, wahrscheinlich auch unterqualifiziert für seine Aufgabe. Julio Pinedo war zehn Jahre alt, als die bolivianische Revolution 1952 die Zwangsarbeit beendete. Eine Schulausbildung war bis dahin für junge Schwarze nicht vorgesehen. Er hatte keine Gelegenheit, keine Zeit und auch kein Geld, um sich zu bilden, die Welt zu entdecken oder wenigstens andere Teile Boliviens zu besuchen.

Trotzdem bekommt Julio Pinedo Rückendeckung: „Dass wir einen König haben, verschafft uns Aufmerksamkeit. Das ist hilfreich für ein Volk, das bis heute darum kämpfen muss, bemerkt zu werden“, sagt Juan Carlos Ballivián, der Vorsitzende des afrobolivianischen Verbandes Conafro. Um ihn nicht zu sehr zu entblößen, laden die Funktionäre, zumeist wesentlich jünger und besser ausgebildet, den König zu Veranstaltungen der Community ein, aber sie ersparen ihm öffentliche Ansprachen. Bei der Einweihung des Instituts für afrobolivianische Sprache und Kultur vorigen September etwa formulierte Don Julio ein Grußwort, aber die Reden hielten andere.

Don Julio bei einem öffentlichen Auftritt. Foto: Susana Girón
Don Julio bei einem öffentlichen Auftritt.

Tatsächlich ist nicht bekannt, wie viele der – laut letzter Volkszählung 16.329 – Afrobolivianer den Monarchen aus Mururata als ihr Oberhaupt ansehen. Bei den Afrobolivianern in den südlichen Yungas und in den Städten sei Julio Pinedo umstritten oder gar unbekannt, sagt Juan Angola Maconde, der nicht aus Mururata und Umgebung stammt. Der studierte Ökonom betreibt seit Jahrzehnten in der Community die sogenannte Oral History, die Geschichtsschreibung auf Basis der Überlieferungen der älteren Leute. In einem 70-­seitigen Aufsatz, den er über die Geschichte seines Volkes verfasst hat, kommt die Monarchie aus Mururata mit keinem Wort vor. „Ich habe keine einzige belastbare Quelle gefunden, die die Authentizität dieser Dynastie belegen würde. Außerdem: Julio Pinedo fehlt es an Ausstrahlung, an Kenntnissen, aber auch an Einsatz.“

Aber kann man ihm wirklich vorwerfen, dass er nicht alljährlich die ganze Gemeinschaft zusammenzutrommeln vermag für die Feiern des Schutzpatrons San Benito? Einem 72-jährigen Bauern, der nur dann Geld verdient, wenn die Kokablätter seines gerade vier Hektar großen Hains nicht beim Trocknen vom Regen verfärbt werden? Dem kein Untertan, aber auch kein Staatsorgan nur einen Centavo gibt, um sein Amt auszufüllen?

Gewiss, Don Julios Großvater Bonifacio hielt einst jährlich Hof in der Kirche von Mururata, gekleidet im vollen Ornat mit Krone, Zepter und reich besticktem Umhang. Doch Bonifacio hatte Land und Lakaien, dem Vernehmen nach gab es da ein Arrangement mit dem Grundherrn, der Bonifacio lange Leine ließ, damit dieser die schwarzen Untertanen im Zaum hielt.

Don Julio fühlt sich hingegen sichtlich unwohl mit den Insignien einer Macht, die er nie ausübte. Die Krone, ein schillerndes Ungetüm aus vergoldetem Blech mit bunten Glassteinen, hat Martín Cariaga anfertigen lassen, nachdem die antike Garnitur des Großvaters aus jenem nationalen Museum verschwand, das auf die Pretiosen achten sollte. Auch Zepter und Umhang sind Nachbildungen. Don Julio hasst es, wenn Reporter in seinem Laden aufkreuzen und ihn um Fotos mit der Krone bitten. Selbst offizielle Aufnahmen, die auf der von spanischen Helfern betriebenen offiziellen Website der Monarchie publiziert werden sollen, bereiten diesem König offensichtlichen Widerwillen. Damit der Vater für ein paar Bilder im Ornat Modell sitzt, bedarf es der heftigen Zurede seiner Gattin und seines Sohnes Rolando.

Das Königspaar in ihrer amtlichen Robe. Foto: Susana Girón
Das Königspaar in ihrer amtlichen Robe.

Die nächste Generation

Rolando ist das Gegenmodell zu seinem Vater – ein schlaksiger Junge, der ständig strahlt. Ein Kommunikator, Verführer, Computerkönner und einer, der auf dem Fußballfeld das Spiel inszeniert; sein großes Vorbild ist der Brasilianer Ronaldinho. Rolando, den seine Amigos in Mururata „Príncipe“, Prinz, nennen, wird diesen Juni zwanzig. Wenn er an Wochenenden oder in den Semesterferien von La Paz heimkommt, dann ist er ein guter Sohn, der die Wäsche wäscht, das Geschirr spült und für den Vater die Kokasäcke vom Feld den Berg heraufträgt. „Wir legen große Hoffnungen in diesen Jungen“, sagt Don Julio. Aber gleichzeitig lässt er durchblicken, welches Unbehagen es ihm bereitet, nicht zu wissen, was der Bub in der großen Stadt treibt. Wer seine Freunde sind, seine Freundinnen. Ob er wirklich so regelmäßig zur Uni geht, wie er sagt.

Der Gürtel des Jungen zeigt das Emblem von Dolce & Gabbana, das Streifenshirt jenes von Polo Ralph Lauren, die Sweatjacke das von Abercrombie & Fitch. Selbst wenn das wahrscheinlich keine Originale sind, so deuten sie schon darauf hin, dass dem Königssohn Dinge wichtig erscheinen, die nur mehr wenig zu tun haben mit der Lebenswelt seiner Eltern.

Königssohn Ronaldo auf dem Weg zu Kokaernte. Foto: Susana Girón
Königssohn Ronaldo auf dem Weg zu Kokaernte.

Der Boden ist schlammig. Nach zehn Minuten Fußmarsch haben die weißen Stoffturnschuhe des Prinzen längst die Farbe des Morasts angenommen. Es geht über einen schmalen Steig, unterhalb des verlassenen Friedhofs, wo der alte König Bonifacio begraben ist. Rolando hat eine Tasche umgehängt, in der er Stoffbeutel, eine Wasserflasche und eine Hängewaage mitführt. Es geht in den „cocal“, die Plantage seines Vaters. Nach einem steilen Abstieg über schmierige Steinflächen sind sie zu erkennen, die 60 bis 80 Zentimeter hohen Stauden, in kleinen Terrassenstufen gepflanzt wie Weinstöcke.

Das rechte Drittel des Hangs ist kahl, die Zweige bar aller Blätter. „Die haben wir letzten Monat abgegrast“, sagt der Prinz. An den Sträuchern in der Mitte des Felds sind bereits kleine Triebe nachgewachsen, das linke Drittel des Hangs ist grün und erntereif. Rolando tauscht T-Shirt und Shorts gegen Jeans und ein froschgrünes Langarmtrikot, das die Nummer 6 trägt und seinen Nachnamen. Mittelfeld ist seine Position, „gerne auch Spielmacher“ grinst er. Auf dem Feld sind bereits zwei Frauen am Werk, Nachbarinnen aus dem Dorf, später kommen noch zwei dazu und drei Kinder.

Die Kokablätter werden zum Trocknen aufgelegt. Foto: Susana Girón
Die Kokablätter werden zum Trocknen aufgelegt.

Rolando dreht das Sony-Transistorradio an, nimmt die erste Pflanze zwischen die Beine und streift mit beiden Händen die Blätter von den erstaunlich elastischen Zweigen. Die Ausbeute wandert in den Baumwollsack, den der Prinz um die Hüfte geknotet hat. Dessen Inhalt muss er alle halbe Stunde in den Schatten bringen, denn die Blätter dürfen nicht „gekocht“ werden in der Sonne. Und die Sonne, die nun auf die durchnässte Erde knallt, verwandelt den Hain in ein Hamam mit 90 Prozent Luftfeuchtigkeit und gefühlten 150 Prozent Moskitos. Trotz solcher Widernisse ist Koka das Premiumprodukt der Yungas, denn die Blätter wachsen das ganze Jahr nach. Alle drei Monate können die Pflanzen entlaubt werden, neue Züchtungen erlauben gar bis zu sechs Ernten jährlich. Darum entstehen auf diesen Hügeln ständig neue Cocales, wie auf dem Hang gegenüber, wo gerade der Urwald in grauem Rauch aufgeht.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Alles, was hier geschieht, ist vollkommen legal in diesem Land, dessen Präsident Evo Morales immer noch der Chef der Gewerkschaft der Kokapflanzer ist. Jeder Bolivianer mit einem leichten Gespür für Zahlen kann sich ausrechnen, dass jene 20 Tonnen Koka, die monatlich auf dem Markt in La Paz umgeschlagen werden, wesentlich mehr sind, als der offizielle Markt – für Kaublätter, Tee oder als Basis für religiöse oder medizinische Anwendungen – erfordert. Und jeder weiß, dass die Kokablätter aus der südlicheren Anbauregion Chapare viel zu bitter sind, um gekaut zu werden. Trotzdem wachsen auch dort die Kokafelder immer weiter. Aber reden wir nicht darüber.

Don Julio und Doña Angélica bei der Arbeit. Foto: Susana Girón
Don Julio und Doña Angélica bei der Arbeit.

Als sich die Sonne gesenkt hat, ist es Rolando, der die Ernte auswiegt. Fast 35 Kilo haben die Frauen und er gepflückt, was bedeutet, dass er heute schleppen muss wie ein Kamel. Denn die Tagelöhner – so lautet eine eherne Regel – tasten die Koka nach dem Wiegen nicht an. Beim Bier nach vollbrachtem Aufstieg sagt Rolando: „Unsere Orangen sind noch beschissener – superschwer und nur einmal im Jahr reif. Für den Kaffee zahlen sie dir einen Hungerpreis, und den Kakao fressen die Eichhörnchen weg. Außer der Koka ist hier alles sinnlos.“ Aus dem Prinzen, das hat dieser längst beschlossen, wird in diesem Leben kein Bauer mehr. Doch wird aus dem Prinzen ein König?

Das ist keineswegs gewiss. Selbst wenn Rolando Pinedo allen ausländischen Besuchern mit der Routine eines Pressesprechers versichert, wie groß der Druck sei, einmal seinen 72-jährigen Vater an der Spitze des Königshauses abzulösen, verschweigt er, dass es keineswegs klar ist, dass er die Krone, die in Papas Schrank im Obergeschoss liegt, jemals aufgesetzt bekommt.

Denn Rolando Pinedo ist nicht der leibliche Sohn des Königs Julio. Der Junge war acht Monate alt, als Don Julio und Doña Angélica ihn adoptierten. Es ist bekannt, dass Rolandos leibliche Mutter aus Don Julios weitverzweigter Verwandtschaft stammt. Aber niemand sagt, wer der Kindsvater war und welche Farbe dessen Haut hatte. Es gibt diesbezüglich viele Gerüchte. Auch darum sehen in der afrobolivianischen Gemeinschaft nicht viele den Prinzen Rolando als König der Zukunft.

„Don Julio, wir fahren!“ Als der König das hört, steht er auf von seinem Bänkchen auf der Veranda, und es huscht ihm ein erleichtertes Lächeln über die Lippen. Er akzeptiert den Handschlag zum Abschied, aber seinen Blick, den wendet er ab.

Als wäre ihm das alles furchtbar peinlich.

Don Julio bei seinem Essplatz in seinem Haus. Foto: Susana Girón
Don Julio bei seinem Essplatz in seinem Haus.

Hässliche neue Welt

Von Afrika in die Anden – die Odyssee der schwarzen Minderheit Boliviens. Allein konnten die Spanier den sagenhaften Silberschatz nicht plündern. Deshalb begannen sie schon bald nach der Entdeckung des Cerro Rico von Potosí, afrikanische Sklaven in die eiskalte Einöde des Andenhochlands zu verfrachten. Zur Ausbeutung der im Jahr 1545 entdeckten Vorkommen des „reichen Bergs“ hatten die Conquistadores zunächst die lokale Bevölkerung verpflichtet. Weil viele indigene Arbeiter jedoch die 16-Stunden Schichten in mehr als 4.000 Meter Seehöhe nicht überlebten, musste neue Arbeitskraft her, die man sich auf den Sklavenmärkten an Afrikas Westküste beschaffte, vor allem im heutigen Senegal, in Gambia und Angola. Einzelne Transporte kamen sogar aus Portugals ostafrikanischer Kolonie Moçambique.

Jenseits des Atlantiks entluden die Spanier ihre Fracht für die Bergwerke vor allem in Buenos Aires und in den peruanischen Häfen Lima-Callao und Arica. Bei letzteren Passagen fuhren die Schiffe zunächst nach Panama, dann mussten die Sklaven zu Fuß die dortige Landenge durchqueren und am Pazifik neue Schiffe besteigen. Der Fußmarsch über die Anden von Lima zum „reichen Berg“ dauerte vier mörderisch anstrengende Monate.

Wichtigster Einsatzort der Afrikaner wurde die Casa de la Moneda in Potosí, die der spanische Vizekönig Francisco de Toledo 1572 errichten ließ. Dort wurden die Münzprägearbeiten bei Kerzenlicht, ständiger Hitze und giftigen Quecksilberdämpfen ausgeführt. Zeitweise ließen die Spanier die Afrikaner sonntags nach der Messe aus ihrem Dauerdunkel an die frische Luft, manchmal wurde selbst das verboten.

Sklavenfriedhof in Tocaña. Foto: Susana Girón
Sklavenfriedhof in Tocaña.

1625 zählte Potosí 160.000 Einwohner – mehr als Sevilla, 6.000 waren afrikanischer Herkunft. Für Wohlhabende war der Besitz schwarzer Sklaven Ausdruck ihres Status.

Bis etwa 1700 boomte die Stadt, und dann begann ihr Abstieg, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einem Krieg kulminierte. Während Potosí sukzessive Bewohner verlor, stieg die Zahl der Afrikaner vor allem in den Yungas an. Historiker sind sich darüber nicht im Klaren, ob beide Vorgänge in einem kausalen Zusammenhang stehen.

Tatsache ist, dass um 1800 in den Hochwäldern am Andenabhang der Siegeszug der Koka beginnt, der bis heute anhält. Schon während des Bergbaubooms hatten die Ländereien in den Subtropen die Minenstädte ernährt – ebenfalls mit der Arbeitskraft versklavter Afrikaner. Um die steigende Nachfrage nach Koka zu bedienen, wurde dieses System ausgeweitet, und die letzten Sklaventransporte nach Bolivien führten direkt in die Yungas.

Königliches Schloss. Foto: Susana Girón
Königliches Schloss.

Die Abschaffung der Sklaverei 1851 beendete formell den Menschenhandel, doch die Ausbeutung durch die Patrones ging weiter. Zur Sicherung der Arbeitskraft gaben die Hacienderos kleine Parzellen an ihre früheren Leibeigenen – unter der Bedingung, dass diese drei Wochentage ohne Lohn für den Gutsherrn schufteten. Erst die Agrarreform 1952 beendete diesen Feudalismus und ermöglichte afrobolivianischen Kindern den Schulbesuch.

Bis heute kämpfen die Afrobolivianer um ihre Anerkennung. Nachdem bei der Volkszählung 2012 erstmals seit 1900 die Kategorie „Afrodescendiente“ geführt wurde, stellte sich heraus, dass nur 16.329 der knapp 10,4 Millionen Einwohner Boliviens sich als Nachkommen von Afrikanern deklarieren, das ist nur halb so viel wie zuvor geschätzt. Im Vergleich zu Ländern wie Venezuela, Kolumbien oder Brasilien, wo Schwarze und Mulatten zwischen 10 und 50 Prozent der Bevölkerung stellen, sind die Afrobolivianer also ein verhältnismäßig kleines Volk in einer Vielvölkerrepublik.

Die unter dem indigenen Präsidenten Evo Morales 2009 geschaffene Verfassung erklärt Bolivien zum plurinationalen Staat mit 35 Ursprungsvölkern, also indigenen Volksgruppen mit Wurzeln auf bolivianischem Territorium. In einem Sonderparagrafen gesteht das Grundgesetz den Afrobolivianos sämtliche Rechte zu, die auch die Ursprungsvölker beanspruchen können. Zumindest in der Theorie.

Don Julio blickt auf den Dorfplatz. Foto: Susana Girón
Don Julio blickt auf den Dorfplatz.

In der Praxis scheitert die Selbstbestimmung zumeist daran, dass sie in keinem der Territorien, die sie bewohnen, eine Bevölkerungsmehrheit stellen. Viele junge Schwarze sind mangels Perspektiven auf dem Land in die Großstädte gezogen, wo sie sich statistisch verlieren. Selbst in ihrem wichtigstem Siedlungsgebiet, den Nord-Yungas, ist nach konstanter Zuwanderung vom Altiplano, der ausgedehnten Hochebene im Westen des Landes, das Volk der Aymara in der Überzahl. Die Assimilation der Afrobolivianer mit anderen Volksgruppen ist in Bolivien weiter verbreitet als in den meisten Nachbarstaaten.

In den Minen und Haciendas der Kolonialzeit teilten die Schwarzen ihr hartes Los zumeist mit den unterworfenen Indigenen. Darum war das damals gebräuchliche Idiom der Afrobolivianer ein Spanisch mit indigenen Elementen, afrikanischen Einflüssen und portugiesischen Einsprengseln. 2013 wurde das Institut für afrobolivianische Sprache und Kultur gegründet, das diese fast schon vergessene Hybridsprache nun wiederbeleben soll – das ist ein ebenso kulturelles wie politisch motiviertes Projekt. Denn wer als Volk an einem plurinationalen Staat teilhaben will, muss über eine eigene Sprache verfügen.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, März 2013.

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