Vergessener Entdecker: Heinrich Barth und seine Afrikareisen

Im August 1850 sitzen ein Engländer und zwei Preussen in einem Zelt in der Sahara und erwarten den Tod. Es ist nicht das erste Mal, dass sie auf ihrer Reise bedroht und ausgeraubt werden. Doch diesmal scheint ihr Schicksal besiegelt zu sein, weil sie sich weigern, zum Islam überzutreten.
Die Krieger, die sie gestellt haben, beenden draußen ihr Abendgebet, dann beraten sie sich. Im Zelt weiß keiner der Gefangenen, was vor sich geht – bis einer ihrer afrikanischen Helfer hineingestürzt kommt und ihnen eröffnet, dass sie mit heiler Haut davonkommen sollen. Die Angreifer wollen sich damit begnügen, sie zu berauben.
Die drei Europäer sind der Missionar James Richardson, der Geologe Adolf Overweg und der Geograf Heinrich Barth. Richardson leitet die von der britischen Regierung finanzierte Expedition. Er will eine wirtschaftlich nutzbare Route vom Mittelmeer durch die Sahara und die Sudanregion bis zum Tschadsee finden. Britische Produkte sollen vermehrt nach Zentralafrika gelangen und den dortigen Händlern eine Alternative zum Sklavenhandel bieten.
Doch Richardson stirbt 1851 an Entkräftung, ein halbes Jahr nach den abenteuerlichen Vorkommnissen in der Sahara. Overweg schafft es noch zum Tschadsee, dort stirbt er an Malaria. Barth ist als einziger Europäer übrig und wird Expeditionsleiter. Erst nach fünfeinhalb Jahren kehrt er nach Hause zurück – mit tausenden Aufzeichnungen von unschätzbarem Wert für die europäische Afrikaforschung.

Der 1821 in Hamburg geborene Barth hat in Berlin studiert. Er ist ein Schüler der Koryphäen Carl Ritter, des Gründervaters der modernen Geografie, und des Naturforschers Alexander von Humboldt. In Afrika sammelt Barth früh Erfahrung als reisender Forscher – dazu gehört ein Überfall von Beduinen, die ihm in beide Beine schießen und ihn bewusstlos schlagen. Barth spricht zahlreiche Sprachen:
Englisch,
Französisch,
Arabisch,
das im Tschad gebräuchliche Kanuri,
den nigerianischen Haussa-Dialekt und
die Sprachen der Tuareg und Fulbe.
Und Barth hat alles gelesen, was über die Geografie Afrikas in Europa und in der arabischen Welt bekannt ist. All das hat er den meisten reisenden Wissenschaftler seiner Zeit voraus.
Barth, Overweg und Richardson treffen sich am 31. März 1850 außerhalb von Tripolis. Mit 62 Kamelen bricht die Expedition am 2. April auf. Acht davon transportieren Einzelteile eines Bootes, das auf dem Tschadsee zum Einsatz kommen soll.
Der Tross sieht beeindruckend aus, was Barth ärgert: Er fühlt sich wohler in Begleitung nur weniger Diener. Also verlässt er die Karawane und wagt ohne die anderen einen Abstecher, besichtigt die Überreste der zerstörten Stadt Dankama und besucht die Stadt Katsina, bis er schließlich die Stadt Kano im heutigen Nigeria erreicht.
Von hier reist er zum eigentlichen Ziel der Expedition: dem Tschadsee. Dort beeindruckt Barth nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die gastfreundliche Bevölkerung.
Die Erforschung des Sees stellt sich allerdings als schwierig heraus. Die überwachsenen Ufer des seichten Gewässers sind ständig in Bewegung, mehr Sumpf als See. Wäre das aus Europa mitgeschleppte Boot nicht längst verloren gegangen, hätte es sich jetzt als nutzlos erwiesen.
Umso mehr begeistert Barth, dass er als erster Europäer den Fluss Benue, einen Nebenfluss des Niger, zu Gesicht bekommt und überquert. Er unternimmt weitläufige Erkundungsreisen in der Region und begleitet auch einen arabischen Raubzug gegen die einheimischen Kanembu. Nicht überall ist er jedoch willkommen. Regionale Herrscher wollen seine Schritte lenken, einmal wird er sogar in Ketten gelegt.
Nach dem Tod von Richardson und Overweg lastet die Verantwortung des gesamten Unternehmens schwer auf Barth. Dennoch tritt er vom Tschadsee aus noch lange nicht den Heimweg an, reist stattdessen ins sagenumwobene Timbuktu.

Um sich zu schützen, gibt sich Barth als Muslim aus. Als Syrer Abd el Kerim reist er durch eine Reihe von Kleinreichen, in die noch kein Europäer vor ihm einen Fuß gesetzt hat. Vielerorts ringen muslimische und heidnische Herrscher um die Macht. Barth stößt dabei immer wieder auf Spuren des alten Songhai-Reiches, das 250 Jahre zuvor untergegangen war – einst Afrikas größtes Königreich mit einem komplexen Beamtenapparat und einer Universität in Timbuktu.
Barth sammelt mündliche Überlieferungen und spürt eine schriftliche Chronik der Songhai auf. Er kopiert wichtige Passagen daraus und verschafft der europäischen Forschung erstmals eine Ahnung von dem untergegangenen Reich.
Schließlich erreicht Barth die kleine Stadt Kabara südlich von Timbuktu, auf einem Hügel am Nigerufer gelegen. Dort erfährt er, dass Ahmad al-Bakkai, damals politisches und religiöses Oberhaupt Timbuktus, derzeit auf Reisen ist. Das bereitet Barth Kopfzerbrechen: Er hat auf den Schutz des Scheichs gesetzt. Doch nun muss er sich an dessen Bruder wenden, Sidi Alawate. Wird ihn auch der willkommen heißen? In einem Brief an Alawate lässt Barth seine Tarnung fallen und gibt an, dass er Christ ist. Alawate stört das offenbar nicht, er gestattet Barth, Timbuktu zu betreten.

Dort gibt sich Barth auch öffentlich als Christ zu erkennen. Und muss prompt feststellen, dass sein Leben in Gefahr ist. Die politische Lage in Timbuktu ist instabil, nicht einmal das Wohlwollen von Sidi Alawate ist viel wert.
Zudem wird Barth von schwerem Fieber geschüttelt. Mehrere Wochen lang verlässt er das Haus nicht, das man ihm zugeteilt hat. Er glaubt, dass Sidi Alawate ihn töten und ausrauben will.
Ob er damit recht hat oder nicht: Barths Albtraum ist bald vorbei, denn Scheich Ahmad al-Bakkai kehrt nach Timbuktu zurück. In ihn hat Barth alle Hoffnung gesetzt, und er wird nicht enttäuscht. Der Scheich schickt ihm umgehend Grüße und Geschenke. Sobald Barth sich gesundheitlich dazu in der Lage sieht, stattet er seinem neuen Beschützer einen Besuch ab. Er ist beeindruckt von der Gelehrsamkeit und dem Charakter des Scheichs. Und wie sich zeigt, tut al-Bakkai tatsächlich alles, um für Barths Sicherheit zu sorgen.
Barth saß in Timbuktu fast ein Jahr lang fest. In dieser Zeit kartierte er das Stadtzentrum mit seinen Besonderheiten.
Das ist wichtig: Sultan Ahmad III. von Massina, zu dessen Reich in jener Zeit auch Timbuktu gehört, erfährt von Barths Anwesenheit und will ihn in seine Gewalt bringen. Der gastfreundliche Scheich tut nun alles, um das zu verhindern. Mehrfach muss Barth plötzlich seinen Aufenthaltsort innerhalb der Stadt wechseln oder diese sogar kurzfristig verlassen. Wird der Scheich von seinen Leuten vor einem bevorstehenden Zugriff der Schergen Ahmad III. gewarnt, greift er sogar selbst zur Flinte.
Fast ein Jahr bleibt Barth in Timbuktu, während die Tuareg und die Fulbe ihren Machtkampf austragen. Als Barth 1854 endlich aufbrechen kann, sind noch nicht alle Gefahren ausgestanden. Noch immer ist die Region voller verfeindeter Truppen. Sklavenjäger sind überall. Barth erkrankt erneut. Dazu geht ihm das Geld aus.
Als er nach Kano zurückkehrt, sind auch dort Vorbereitungen auf eine Schlacht in vollem Gange. Auf der Weiterreise nach Norden trifft Barth überall auf Flüchtlinge. In Nordafrika ist die Lage auf den Straßen schließlich so gefährlich, dass Barth und seine Leute nur noch nachts reisen, um Räuberbanden auszuweichen. In Tripolis nimmt die Expedition schließlich ein erfolgreiches Ende. Von hier aus reist Barth nach Paris und dann nach London – begleitet von zwei freigelassenen Sklaven, die ihm bei späteren Arbeiten helfen sollen.

Barths Rückkehr fällt in eine Zeit, in der das Publikum Abenteuergeschichten aus Afrika und Asien begierig aufsaugt. Auch er hat viel zu erzählen: von den Überfällen, von legendären Städten, die er besucht hat, und von Dingen, die kein Europäer zuvor gesehen hat. Fünf Bände umfasst sein Reisebericht, doch der Verkauf läuft schleppend. Schon einem früheren Werk Barths hatte man vorgeworfen, es sei einfach schlecht geschrieben. Und auch diesmal fällt sein Bericht zu pingelig wissenschaftlich und zu nüchtern aus.
Den Ruhm, Afrika wahrhaftig „entdeckt“ zu haben, ernten Männer wie -David Livingstone und Henry Morton Stanley. Wie den meisten großen Entdeckern geht es ihnen weniger um wissenschaftliche Erkenntnis als um die Herausforderung. Ihre Reisebeschreibungen lesen sich wie Abenteuerromane.
Zudem ist Johann Heinrich Barth manchem Engländer zu deutsch, seine Expedition den Deutschen wiederum zu englisch. Wer rassistischen Theorien anhängt, dem ist Barth zu aufgeschlossen und respektvoll – ein Reisender, der weiß, wie man sich in der Ferne zu benehmen hat, der nach Freundschaft sucht und der lernen will. Wer dagegen, wie Barth, die Sklaverei ablehnt, wirft ihm vor, sich an einem Kriegszug samt Sklavenjagd beteiligt zu haben – wenn auch nur als Beobachter.
Ich bin niemals weiter vorgedrungen, ohne zu wissen, dass ich hinter mir einen aufrichtigen Freund ließ.
Heinrich Barth
Barth glaubt an eine universale Zivilisation. Während seiner Reise glaubt er auch, dass England wegen seiner Handelsinteressen ein Garant für die Freiheit Zentralafrikas sei. Doch die Briten ändern ihre Afrikapolitik. Versprechen, die Barth afrikanischen Herrschern im Vertrauen auf die hehren Absichten Londons gemacht hat, werden gebrochen. Frankreich bekommt Zentralafrika zugesprochen und macht es zur Kolonie.
Für Barth ist diese Unterwerfung der Völker Afrikas nicht zu rechtfertigen. Er sieht im Islam den Zivilisationsträger Afrikas, nicht in Missionaren und Kolonialbeamten.
Doch damit stößt er auf taube Ohren. Seinen wissenschaftlichen Verdiensten für die Erforschung afrikanischer Geschichte, Kultur und Sprache zum Trotz wird er isoliert – als naiver Abenteurer mit unzeitgemäßen Ideen.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 4/2021.

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