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Im Gespräch mit Mathematiker Sir Martin Hairer

Willkommen im Universum der Zahlen und des Zufalls: Der Mathematiker Sir Martin Hairer spricht im Interview mit Terra Mater über die Schönheit von Formeln, logisches Denken und darüber, dass künstliche Intelligenz seinen Job nie machen kann.
Text: Robert Sperl, Fotos: Rich Hardcastle / 9 Min. Lesezeit
Terra Mater Interview Martin Hairer Mathematiker Fields Medaille Foto: Rich Hardcastle
Sir Martin Hairer, 45. Der Österreicher wurde von seiner zweiten Heimat Großbritannien ob seiner mathematischen Meriten geadelt. Einer seiner Studenten beschrieb ihn einst so: „Jeder weiß, dass er brillant ist. Aber jeder findet das auch ein wenig unheimlich.“
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Aus dem Computer lächelt Sir Martin Hairer und sagt Hallo: Unsere Skype-Verbindung endet in einem mit Bücherregalen vollgeräumten Arbeitszimmer in London. In dieser Stadt lehrt der gebürtige Österreicher Hairer als Professor am Imperial College. Seit 2017 hält er den mathematischen Lehrstuhl „Wahrscheinlichkeiten und stochastische Analyse“. Hairer, 45, hat in Genf promoviert (Physik und Mathematik), seit 2002 lebt er mit seiner Ehefrau Xue-Mei Li, ebenfalls Mathematikerin, in England. Seine zweite Heimat ernennt Hairer 2019 zum Knight Commander of the Order of the British Empire.

Warum? Weil er ein profilierter Mathematiker ist. 2014 wurde Hairer von der Internationalen Mathematischen Union die Fields-Medaille verliehen, die einem Nobelpreis gleichwertig ist. Vergangenen September wurde Hairer schließlich mit dem hoch dotierten Breakthrough Prize für 2021 ausgezeichnet: drei Millionen Dollar Preisgeld für Beiträge zur Theorie der stochastischen Analyse, „insbesondere zur Theorie der Regularitätsstrukturen in stochastischen partiellen Differenzialgleichungen“. Hairer könne, so die Laudatio auf der betreffenden Homepage, damit Gleichungen lösen, die Zufallsprozesse beschreiben, „von schwankenden Aktienkursen bis zur Bewegung von Zucker in einer Tasse Tee“. Ein entspannter Besuch in der Welt der Mathematik.

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TERRA MATER: Die Bewegung von Zucker im Tee? Das klingt etwas kurios.

MARTIN HAIRER: Die Jury hat möglicherweise Milch im Tee gemeint

(lacht herzlich, nicht zum letzten Mal). Im ursprünglichen Text steht nichts von Zucker.

Bitte erklären Sie uns Ihr Spezialgebiet.

Ich kann versuchen, Ihnen zu erklären, was stochastische partielle Differenzialgleichungen sind. Also: Differenzialgleichungen beschreiben einfache mechanische Systeme, zum Beispiel die Planetenbahnen. Partielle Differenzialgleichungen wiederum beschreiben ähnliche Systeme, aber anstelle eines Systems, das von endlich vielen Zahlen beschrieben wird, hat man eines, das durch ein Kontinuum beschrieben wird. Wie Tee in der Tasse: Will ich den beschreiben,

muss ich an jedem Punkt der Tasse die Geschwindigkeit des Tees kennen. Bei stochastischen partiellen Differenzialgleichungen kommt noch der Zufall mit ins Spiel – in unserem Fall das Verhalten der in den Tee gegossenen Milch. Meine Forschung befasst sich mit diesen mathematischen Objekten.

Wie profitiert die Welt von Ihren Formeln?

Uns als reine Mathematiker interessiert vor allem, die Welt zu verstehen, oder: Wir wollen diese Modelle mathematisch beschreiben. Es geht nicht darum, daraus Konsequenzen für die Welt zu ziehen.

Wie wär’s mit einem erhellenden Beispiel?

Nehmen wir einen Magneten: Erhitzt man ihn, gibt es einen kritischen Punkt, die Curie-Temperatur, an dem sein magnetisches Feld zusammenbricht. Je näher man dieser Temperatur kommt, desto kleiner wird das magnetische Feld, aber es wird nicht uniform kleiner, sondern fängt an zu schwanken. Wie sich diese Schwankungen verhalten, wird durch stochastische partielle Differenzialgleichungen beschrieben.

Spielt also in einer Gleichung der Zufall eine Rolle, dann kommen Sie ins Spiel...

Da kommt man als Wahrscheinlichkeitstheoretiker ins Spiel, ja. Am Beispiel des Magneten: Der Punkt ist dabei nicht, bloß eine Vorhersage zu treffen. Vorhersagen treffen die Physiker. Mathematiker hingegen wollen verstehen, warum das so ist.

Brauchen wir eher Physiker oder Mathematiker?

Beide. Es ist ein sehr menschlicher Trieb, zu versuchen, für etwas ein tieferes Verständnis zu entwickeln und nicht nur Vorhersagen zu machen. Der Angelpunkt ist: Sobald man eine interessante physikalische Frage hat, führt das automatisch zu interessanter Mathematik.

Wie oft passiert Folgendes: Man forscht auf dem Gebiet A, doch am Ende sind die Erkenntnisse auf dem Gebiet B nützlich?

Der Mathematiker Godfrey Harold Hardy, der Anfang des 20. Jahrhunderts tätig war, hat viel Mathematik gemacht, aber er war ein Zahlentheoretiker. Einmal wurde er gefragt, warum ihm Zahlentheorie so gut gefällt. Seine Antwort: „Zahlentheorie ist so weit von der Welt entfernt, dass ich mir sicher bin, dass Menschen das nie zu irgendwelchem Unsinn benützen werden.“ Das war seine Logik, aber ohne diese Art von Zahlentheorie gäbe es praktisch kein Internet.

Ohne Hardy kein Internet: Was würde uns fehlen, gäbe es Ihre Formeln nicht?

Das ist noch viel zu früh, um das festzustellen. Hardy lehrte 1920, und jetzt ist es 100 Jahre später. Sehr oft ist abstrakte Mathematik an der Grenze des Wissens typischerweise nutzlos, weil man den Nutzen noch nicht gefunden hat.

Mathematiker wollen vor allem die Welt verstehen.

Sir Martin Hairer, Mathematiker, über seinen inneren Antrieb

Ein Förster pflanzt einen Baum, doch erst 50 Jahre später steht da ein Stamm, aus dem sich ein Tisch zimmern lässt. Was ist das für ein Gefühl, in seiner Disziplin über so lange Zeiträume zu denken?

Damit befassen wir Mathematiker uns recht wenig. Uns interessiert wirklich nur die Mathematik, wir wollen verstehen, was niemand vorher verstanden hat. Wir ähneln da den Kernphysikern: Wenn die jetzt am CERN etwas erforschen, hat das auch praktisch keinen Nutzen. Der Hauptnutzen ist, die Natur zu verstehen...

... und nicht, ob es jetzt das Higgs-Boson gibt.

Ja. Andererseits müssen Kernphysiker diese riesigen Milliardenmaschinen errichten. Dadurch profitiert die Technologie, weil sie Instrumente bauen müssen, die viel präziser sind als jene, die sie aktuell haben. Das ist in der Mathematik ähnlich: Man weiß nicht im Voraus, welche Teile der historischen mathematischen Forschung nützlich werden.

Terra Mater Interview Martin Hairer Mathematiker Fields Medaille Foto: Rich Hardcastle
Der Tüchtige und das Glück. Sir Martin Hairer hat nicht nur die Fields-Medaille gewonnen (2014, gemeinsam mit drei weiteren Mathematikern) und für 2021 den höchstdotierten Preis seiner Disziplin, den Breakthrough Prize, sondern auch ein weiteres halbes Dutzend hochkarätiger Auszeichnungen. Er selbst sieht das gelassen: „Das Glück spielt bei diesen Vergaben eine wichtige Rolle.“

In der Quantenmechanik ist praktisch alles immer zufällig. Sogar wenn ich ein vollständiges Wissen über das Universum hätte, könnte ich doch nur Wahrscheinlichkeiten berechnen. Es gibt einfach den Zufall, und diesen kann man nur in dem Sinn berechnen, dass man Wahrscheinlichkeiten berechnen kann.

Sir Martin Hairer, Mathematiker

Ganz laienhaft gefragt: Lässt sich die Zukunft berechnen?

Wenn ich an Quantenmechanik glaube – und es gibt mehr Gründe, an Quantenmechanik zu glauben, als nicht an sie zu glauben –, dann muss ich auch glauben, dass es unmöglich ist, die Zukunft genau vorherzusagen. In der Quantenmechanik ist ja praktisch alles immer zufällig: Sogar wenn ich ein vollständiges Wissen über das Universum hätte und einen Riesencomputer, der außerhalb des Universums sitzt und unendlich schnell alles berechnen könnte, könnte ich doch nur Wahrscheinlichkeiten berechnen. Es gibt einfach den Zufall – und diesen kann man nur in dem Sinn berechnen, dass man Wahrscheinlichkeiten berechnen kann.

Astrophysiker Mario Livio fragt: „Ist Gott ein Mathematiker?“, und braucht ein ganzes Buch, um diese Frage unbeantwortet zu lassen.

Ich werde nicht versuchen, diese Frage zu beantworten (lacht).

Meine Frage lautet ohnehin: Werden mathematische Formeln erfunden oder entdeckt?

Das kommt auf die Formeln an.

Bleiben wir bei Ihrem Fachgebiet.

Sie könnten die gleiche Frage einem Schriftsteller stellen. Beschreibt der eine Person: Hat er diese erfunden oder entdeckt? Zum Teil werden Formeln erfunden, zum Teil entdeckt, weil man irgendwo anfängt und noch nicht weiß, wo man landen wird. Wie bei einem Schriftsteller: Der fängt mit einem groben Charakter an, und während des Schreibens entwickelt sich dieser Charakter weiter.

Die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani, die 2014 mit Ihnen die Fields-Medaille bekommen hat, sagte Ähnliches über ihre Arbeit: „Es ist, als würde ich einen Roman schreiben.“

Um einen guten mathematischen Artikel zu schreiben, muss man sich irgendwie auch eine Geschichte überlegen. Natürlich ist die Sprache nicht die gleiche, aber die Struktur: Welche Teile erzählt man? Wie präsentiert man was?

Musikkritiker und Mathematiker Edward Rothstein zog in einem Buch Parallelen zwischen Musik und Mathematik. Musik ist auch für Sie etwas Vertrautes: Gibt es für Sie eine Form von Ästhetik in einer mathematischen Formel?

Die Schönheit steckt für mich im Gedankenvorgang, in den Argumenten, in der Formulierung oder in der Logik.

Für mich ist die Formel für die Kreisfläche, A = r2π, eine elegante Schönheit...

Bei einer kurzen Formel kann ich dem zustimmen. Aber in der modernen Mathematik passiert es nicht oft, dass man eine kurze, elegante Formel hat, die für sich steht.

Vielleicht ist die Zeit einfacher Formeln vorbei?

Natürlich. Die mathematischen Objekte, mit denen man sich heute befasst, sind viel komplizierter zu beschreiben. Das sind nicht mehr einfache geometrische Objekte wie Kreis oder Quadrat. Es ist selten, dass man neue Formeln entdeckt, die das ästhetische Niveau der Eulerschen Formel haben, e hoch πi + 1 = 0, die alle wichtigen mathematischen Konstanten in einer kurzen Formel verbindet.

Noch einmal zu Rothstein. Musik lässt sich im Gegensatz zu Mathematik intuitiv begreifen, auch wenn man keine Noten lesen kann. Oder ist Mathematik doch intuitiv begreifbar?

Das ist möglicherweise ein bisschen schwieriger. Es gibt aber schon nichttriviale mathematische Beweise, die sicher von Schülern – Hauptschulniveau, Gymnasiumniveau – intuitiv verstanden werden können. Ein Beispiel, das mir einfällt, ist der Beweis von Georg Cantor, dass es praktisch mehr reelle Zahlen als ganze Zahlen gibt.

Als Sie ein Junge waren: Wie hat Ihnen Ihr Vater, der auch Mathematiker ist, den Zauber der Zahlen nahegebracht?

Ich finde, Mathematik hat nicht viel mit Zahlen zu tun, Mathematik hat mit logischen Argumenten zu tun. Zahlen spielen natürlich eine Rolle und werden auch oft benützt, um mathematische Objekte zu beschreiben, aber sie sind nicht der Hauptteil der Mathematik.

Pardon: Wie wurden Sie zum Logiker?

(Überlegt.) Als Kind hat mich sehr beeindruckt, wie mein Vater mir das Vier-Farben-Problem erklärt hat. Das geht so: Nimmt man eine Landkarte her – Länder von beliebiger Form –, und man will jetzt diese Länder einfärben, sodass nie zwei gleicher Farbe aneinanderstoßen: Wie viele Farben braucht es? Denkt man ein wenig nach und spielt ein bisschen herum, sieht man: Es sind mindestens vier. Darüber hinaus ist es nicht mehr so klar, ob es möglich ist, eine Karte zu zeichnen, wo man fünf Farben verwenden muss; inzwischen wurde bewiesen, dass es in der Tat unmöglich ist. Das ist ein klassisches mathematisches Problem, das nichts mit Zahlen zu tun hat.

Mit diesem Beispiel hat Ihr Vater Ihnen Mathematik schmackhaft gemacht?

Genau. Mein Vater hat mir auch erklärt: „Wenn du es schaffst, das zu beweisen, wärst du der erste Mensch auf der Welt, der das herausfindet.“ Das Problem war damals noch unbewiesen. Das hat mich beeindruckt: ein Problem, das irgendwie einfach klingt, und es gibt kein komisches Gegenbeispiel mit 30.000 Ländern.

Mathematik hat nicht viel mit Zahlen zu tun, Mathematik hat mit logischen Argumenten zu tun. Zahlen spielen natürlich eine Rolle und werden auch oft benützt, um mathematische Objekte zu beschreiben, aber sie sind nicht der Hauptanteil der Mathematik.

Sir Martin Hairer, Mathematiker

Mittlerweile schreiben Menschen Leserbriefe an Sie. Ich habe im „Guardian“ einen gefunden – anlässlich des Breakthrough-Preises –, der fordert, die britische Regierung möge sich an Sie wenden, wenn es um Brexit und Corona geht, um sie mehr Verstand und mehr Effizienz zu lehren.

Den Brief habe ich nicht gesehen (lacht).

Sollten Mathematiker sich mehr einmischen, um die Politik vernünftiger zu gestalten?

Ein guter Mathematiker ist nicht automatisch ein guter Politiker. Man braucht logisches Denken, ja, aber schlussendlich muss man als Politiker Entscheidungen treffen mit unvollständiger Information. Ich glaube, als Mathematiker gäbe es vielleicht das Risiko, dass man nie eine Entscheidung trifft, weil man immer den Eindruck hat, das Problem noch nicht wirklich zu verstehen und dass immer noch Information fehlt.

Könnten Sie Corona lösbar in eine mathematische Gleichung packen?

Das ist wieder so ein Problem, das man nicht in eine elegante kurze Formel packen kann. Als Mathematiker kann man für die Epidemie Modelle entwickeln, kann versuchen, vorherzusagen, wie sie sich entwickeln wird – das tun Leute ja auch. Diese Modelle sind von der Mathematik her relativ primitiv – die Herausforderungen von Corona sind riesig, sind aber keine mathematischen Herausforderungen.

Welche Probleme will die Mathematik in Zukunft noch lösen?

Es gibt massenweise mathematische Probleme, etwa in der Zahlentheorie. Die haben den Vorteil, dass sie sehr schwierig sind, aber einfach zu erklären. In der Zahlentheorie gibt es das Problem, dass man jede gerade Zahl als Summe von zwei Primzahlen hinschreiben kann. Man hat noch keine gerade Zahl gefunden, bei der das nicht funktioniert, aber es gibt keinen Beweis. Dieses klassische Problem existiert schon seit fast 300 Jahren.

Warum tippt man das nicht in einen Supercomputer ein, der nach einer Woche die Lösung hat?

Supercomputer können nur prüfen und ausprobieren. Ich glaube, es gibt keinen mathematischen Beweis, bei dem ein Computer irgendwie an der Logik mitwirkt. Man kann mathematische Beweise für Computer nachvollziehbar aufschreiben, aber ein Mensch muss den Beweis finden.

Ein versöhnlicher Ausblick in die Zukunft...

Künstliche Intelligenz ist zurzeit noch nicht sehr intelligent. Sie funktioniert für gewisse Probleme extrem gut ...

... aber nicht in der höheren Mathematik.

Nicht einmal in der „niedrigeren“.

Es gibt eine Anekdote, die Kollegen über Sie erzählen: Ihre Erkenntnisse seien so schlau, die müssten Ihnen Aliens eingeflüstert haben.

(Lacht herzlich.) Ich würde sagen, dass da ein Großteil Glück dabei war. Man denkt über etwas nach, und irgendwann fällt einem zufällig etwas ein. Ich kann nicht erklären, warum mir was eingefallen ist.

Dass Sie einen Preis wie den Breakthrough Prize dem Zufall verdanken, hat Charme.

Bei der Vergabe mathematischer Preise spielt das Glück eine ziemlich große Rolle. Es gibt Mathematiker, die besser sind als andere, aber es gibt viele sehr gute Mathematiker. Der Unterschied zwischen diesen ist teilweise wirklich das Glück, im richtigen Moment über das richtige Problem nachzudenken, bei dem es auch eine Lösung gibt, die irgendwie einfach genug ist.

Der Breakthrough Prize ist mit drei Millionen Dollar dotiert. Was machen Sie damit?

Meine Frau und ich sind vor drei Jahren nach London gezogen und haben noch kein Haus, keine Wohnung gekauft.

Das Geld ist nach Ihrem Verständnis steuerfrei?

Ja. Ich habe jedoch an das Finanzamt geschrieben, um das zu verifizieren, und noch keine Antwort bekommen.

Dieses Interview erschien erstmals im Terra Mater Magazin 1/2021.

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