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Biblioburro: Wenn die Bildung mit dem Esel kommt

Ein Mann und eine Idee: zwei Esel und zwei Kisten Bücher. Luis Soriano bringt Bildung in die entlegenen Dörfer Kolumbiens. Geldsorgen, Paramilitärs, selbst ein schwerer Unfall können ihn nicht stoppen.
Text: Hilmar Poganatz, Fotos: Marco Vernaschi / 13 Min. Lesezeit
Luis Soriano bringt Bildung in die entlegenen Dörfer Kolumbiens. Geldsorgen, Paramilitärs, selbst ein schwerer Unfall können ihn und seine Mission nicht stoppen.
Luis Soriano bringt Bildung in die entlegenen Dörfer Kolumbiens. Geldsorgen, Paramilitärs, selbst ein schwerer Unfall können ihn und seine Mission nicht stoppen.
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Es ist noch dunkel, als Luis Soriano sein Haus verlässt, um wieder seinen Kampf aufzunehmen. Auf dem Kopf trägt er einen Cowboyhut aus Stroh, in seinen Händen ein Eselsgeschirr und einen Stapel Bücher. Seit 17 Jahren bringt der kolumbianische Grundschullehrer Bücher in die vernachlässigten Winkel seiner Provinz, um sie zu verleihen und aus ihnen vorzulesen. Dazu sattelt er an seinen freien Tagen seine beiden Esel. Sie heißen Alfa und Beto, ein kleiner Hinweis auf den Inhalt seiner Mission.

Die Weiler, die Luis Soriano besucht, liegen häufig weit entfernt von der nächsten Schule. Gedrucktes besitzt dort niemand, rund ein Drittel der Bewohner kann weder lesen noch schreiben. Dafür sprechen die Namen ihrer Orte Bände: Sie heißen Pueblito, Dörfchen, El Difícil, die Schwierigkeit, El Silencio, die Stille, oder El Tormento, die Qual.

Soriano selbst lebt in La Gloria. „Die Herrlichkeit“ ist allerdings nicht mehr als eine Reihe Bretterbuden entlang einer Landstraße zwischen Cartagena und Valledupar. An diesem Morgen liegen die Hütten aus Schilf, Lehm und Wellblech unter einer warmen Decke aus Nebel. In den Schwaden blinken viele kleine Lichter, es ist, als knipse jemand die Sterne ein und aus – Glühwürmchen verabschieden die tropische Nacht, die feuchten Weiden atmen aus. Das Land am Magdalena-Strom erwacht wie jeden Tag im Fieber. Luis Soriano legt einen Schalter um, Neonlicht vertreibt die Nacht. Irgendwo kräht ein Hahn.

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Wenn ein Mensch Zugang zu Büchern findet, verändert das die Gesellschaft.

Luis Soriano, der Biblioburrista
Die Eselsbibliothek: Der Biblioburro bringt Bücher in entlegende Gegenden Kolumbiens

Es ist Samstagmorgen um vier, als der 41 Jahre alte Lehrer die Bücherkisten auf seine zwei Esel packt. „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist darunter, ein paar Disney-Märchen, ein Mathe- und ein Geschichtsbuch, aber auch Laura Esquivels „Bittersüße Schokolade“. Ein paar Extras legt er noch dazu: Eine Organisation aus New York hat ihm 40 Exemplare „Super-Katharina und die Superinsekten“ geschickt, ein modernes Kinderbuch, das in bunten Bildern von einer Verkleidungsparty erzählt. Als letztes packt er einen Block Eis von der Größe einer Wassermelone in eine Kühlbox. „So was haben die da draußen noch nie gesehen“, meint Soriano.

Ein klein wenig Magie für die, die sonst nichts haben. Er setzt sich auf einen Plastikstuhl und zieht sein linkes Hosenbein hoch. Keine Haut, nur hautfarbener Kunststoff kommt zum Vorschein – ein künstlicher Unterschenkel, den Soriano noch einmal festzurren muss, damit er beim Reiten nicht verrutscht. Ein letzter Schluck Kaffee, dann steigt er auf Beto und lässt wie an so vielen Wochenenden seine Frau und die drei Kinder zurück, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.

„Mit 70 Büchern habe ich angefangen, heute kann ich aus fast 4.000 auswählen“, beschreibt Soriano die Geschichte seines außergewöhnlichen Projekts. Die Idee sei ihm als junger Lehrer gekommen, weil er immer öfter an seinen Schülern verzweifelte. Eines Tages habe er die Familien seiner Schützlinge dann in ihren Häusern besucht. „Die Leute besaßen überhaupt keine Bücher – nicht einmal eine Bibel!“ 1997 nahm er also all seine Bücher, lud sie auf zwei Holzböcke und schnallte sie auf die Rücken seiner Esel. Auf einen Klapptisch malte er dann in großen roten Lettern das Wort BIBLIOBURRO – Bücheresel.

Geduldspiel: Gebüsch, Schlangen und ein störrischer Partner machen die Reisen zu anstrengenden Abenteuern.
Geduldspiel: Gebüsch, Schlangen und ein störrischer Partner machen die Reisen zu anstrengenden Abenteuern.

Die Eselsbibliothek

Seit diesem Tag ist die Eselsbibliothek die einzige Bücherei in dieser armen und vernachlässigten Region im karibischen Norden Kolumbiens. Die Viehzüchtergegend in der Provinz Magdalena litt jahrzehntelang unter der Willkürherrschaft von Paramilitärs. Den Nordblock der Vereinigten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) hatten die Großgrundbesitzer ursprünglich als Abwehr gegen linke Guerilleros gebildet. Die Auflösung dieser Terrorgruppen begann erst, als die Regierung 2006 zu einem Abkommen mit ihren Anführern kam.

„Deshalb war der Biblioburro schon immer mehr als nur eine Hausaufgabenhilfe“, sagt Soriano mit Überzeugung. „Wenn ein Mensch Zugang zu Büchern findet, verändert das die Gesellschaft. Die Kinder sehen, welche Möglichkeiten es gibt, sie lernen ihre Rechte und Pflichten kennen und werden später stark genug sein, Nein zu sagen zu Krieg und Gewalt.“

Neben seinem Haus in La Gloria hat Soriano mit Spendengeldern auch einen großen Lesesaal gebaut. Noch ist die einfache Halle ziemlich leer. Hier gibt es zwar viel Platz für neue Bücher, aber zu wenige Regale für die vorhandenen. Dafür stehen seit Neuestem fünf Computer mit Internetanschluss herum. Die hat die Regierung geliefert. Für seine Leistungen ist Luis Soriano schon in den kolumbianischen Präsidentenpalast eingeladen worden; Journalisten sind nach La Gloria gekommen; und ausländische Organisationen haben ihn eingeladen – nach Spanien, Kenia, Singapur und Osttimor. Der Biblioburro ist eine kolumbianische Ikone geworden – seine Geschichte gibt es inzwischen sogar als Kinderbuch zu kaufen.

Der Stiftung Fundación Biblioburro, die Soriano 2010 gegründet hat, habe das alles wenig geholfen, klagt Soriano. Spenden seien vor allem aus dem Ausland gekommen, während in Kolumbien 35.000 Euro Fördermittel versickerten: „Ein korrupter Senator hat das Geld genommen – in La Gloria ist davon nicht ein Peso angekommen.“

Doch Schwierigkeiten ist Luis Soriano gewohnt, in Wahrheit schon seit seiner Geburt. Er wird als viertes von fünf Geschwistern geboren. Als die Wehen schon zwei Tage andauern, will der Arzt das Baby aufgeben. Doch Carlota del Socorro, Luis’ Mutter, gibt nicht auf. „Dieses Kind wird nicht sterben“, soll sie gestöhnt haben. „Dieses Kind wird ein Doktor werden.“ Am dritten Tag löst Carlotas Bruder das Problem: Er setzt sich so lange auf ihren Bauch, bis sie ein schmächtiges Baby in die Welt drückt.

Diese Hartnäckigkeit liegt bei den Sorianos in der Familie: Seine Eltern waren noch nie bereit, vorschnell aufzugeben. Auch nicht, als ihr 100 Kilometer westlich von La Gloria gelegenes Heimatdorf El Salado in den Sechzigerjahren in den wieder aufflammenden Bürgerkrieg geriet. Der Konflikt hatte seine Wurzeln 1948 in der Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten, der sich für eine Landreform eingesetzt hatte. Danach war La Violencia, „die Gewalt“, über Kolumbien gefegt. In der Folge entstanden linke Guerillas wie die FARC, denen bald die paramilitärischen „Bürgerwehren“ gegenüberstanden. Ihre Auseinandersetzung um Land, Macht und schließlich auch um Drogen hält in manchen Landesteilen bis heute an und hat bis jetzt rund 220.000 Tote gefordert. Um dem Schlachten zu entgehen, hatten Sorianos Eltern 1969 eine Gruppe von Flüchtlingen auf die andere Seite des Flusses geführt.

An einer einsamen Kreuzung eröffnete sein Vater dort einen Fischladen, um den später der Ort La Gloria entstand. Der Fischladen ist längst geschlossen, doch auf dem kleinen Hof von Sorianos Eltern ist die Erinnerung an diese Zeit noch lebendig. An ihrer bescheidenen Hütte legt Luis einen kurzen Zwischenstopp ein. José Soriano, sein 82 Jahre alter Vater, ist Cowboy und Indianer in einem – ein vom Alter nicht gebeugter Mann mit weißem Hut und Machete. Er strahlt die Würde eines Mannes aus, der sein Leben lang gearbeitet hat. Seinen Sohn begrüßt er reserviert, denn für dessen Bücher- Eselei hat er wenig übrig. „Damit bringst du kein Geld nach Hause“, grummelt er, bevor er wortkarg seinen Reis löffelt.

Luis’ Mutter merkt man ihre 76 Jahre kaum an. Die Umtriebe ihres Sohnes hält Carlota del Socorro zwar ebenfalls für „Irrsinn“, dennoch ist sie stolz auf ihn. Denn sie erinnert sich noch gut daran, wie er als Kind gehänselt wurde, weil er schielte, was sich erst in der Pubertät gab. Sie weiß auch noch genau, an welchem Tag die Gewalt sie wieder einholte: „Luis war sieben Jahre alt, als Milizionäre unsere Nachbarin erschossen, direkt vor ihrem Haus.“ Die resolute Carlota will die Schergen aus dem Dorf jagen, doch die Männer in den Kampfanzügen drohen: „Dein Grab ist schon geschaufelt!“ Am nächsten Morgen packt Carlota eine große Tasche und schickt ihre Kinder zu ihrer Mutter in die Stadt. So wird Luis, das Kind von Vertriebenen, selbst zum Flüchtling. In Valledupar leben Ende der Siebzigerjahre schon mehr als 100.000 Menschen. Für den Dorfjungen Luis wird die 150 Kilometer entfernte Stadt nahe der venezolanischen Grenze zur Offenbarung. „Meine Großmutter war eine strenggläubige Pfingstkirchlerin und hatte 17 Enkel bei sich aufgenommen“, erzählt Luis. „Dort machte ich die wichtigste Entdeckung meines Lebens: ein Bücherregal.“ Dann beschwört er die Bilder herauf, die ihn sein Leben lang begleiten sollten: die schöne Kleopatra mit der Schlange an der Brust, Ali Baba vor der Räuberhöhle und Don Quijote mit Sancho Panza vor den Windmühlen … „Für mich war das die Entdeckung einer neuen Welt“, sagt Soriano. Und der Anfang einer langen Reise.

Soriano verabschiedet sich von seinen Eltern und spornt seine Esel an. Der Morgen ist vorangeschritten, und das Land beginnt zu schwitzen. Erbarmungslos brennt schon um sieben die Sonne. Die Feuchtwiesen mit den weidenden Buckelrindern lassen die Grüntöne funkeln, in Jade und Minze, Kiwi und Avocado, Absinth­ und Smaragdgrün. Die unbefestigten Wege sind lang und beschwerlich. Rundreisen von bis zu 60 Kilometern legt Soriano auf seinen Eseln zurück, das sind pro Tag mehr als zehn Stunden im Sattel. Für längere Touren holt er sich Unterstützung von Nachbarn mit Geländewagen. Heute hat er immerhin 30 Kilometer vor sich – nach den letzten Regengüssen eine echte Herausforderung.

Für einen kurzen Moment wird greifbar, was der Mann mit den Eseln für diese Kinder bedeutet, die keine Spielsachen haben, keine Bücher und schon gar kein Fernsehen: Hier kommt der einzige Mensch, der jemals ihr gottverlassenes Dorf besucht, um sich ausschließlich um sie zu kümmern

Esel im Einbaum: Kurz danach erlitt der Reiter Schiffbruch.
Esel im Einbaum: Kurz danach erlitt der Reiter Schiffbruch.

Der Feind der Bibliothek

„Das Wasser ist der Feind dieser Bibliothek“, sagt Soriano, während er Beto durch ein paar Schlammpfützen führt. Als er am Ende einer Schotterpiste einen Arm des weit verzweigten Río Magdalena erreicht, steht er dem Feind direkt gegenüber. Der Fährmann ist nirgends zu finden, sodass Soriano zu anderen Mitteln greifen muss, um den vielleicht 300 Meter breiten, sandbraunen Strom zu durchqueren. Zum Glück ist ein Fischer mit einem Einbaum zur Stelle.

Beto sträubt sich, den schwankenden Kahn zu betreten, doch einer Handvoll Bauernbuben gelingt es, das störrische Tier ins Boot zu zerren. Zunächst gleitet das Kanu still durch die treibenden Wasserhyazinthen, dann aber beginnt das Boot zu schwanken. Beto wird immer unruhiger, je weiter das Ufer sich entfernt. Er will sich aufrichten, während sein Herr mit aller Kraft an seinem Strick zieht. „Zurück!“, schreit Soriano plötzlich. „Ich kann ihn nicht mehr halten!“ Dann geht alles ganz schnell. Der Fischer dreht das Boot, der Esel brüllt, springt, das Kanu kentert. Soriano landet mit einem Stapel Bücher im Wasser, während Beto panisch zur Böschung zurückschwimmt.

Als Soriano seine Bibliothek in der Sonne ausbreitet, ist er schon wieder bester Dinge: „Das ist Papier, das trocknet.“ Wenn er sich an eines gewöhnt habe, meint er beiläufig, während er in trockene Kleidung schlüpft, dann an Rückschläge.

Den schlimmsten Rückschlag erleidet der Bibliothekar im Juni 2010: Eines Morgens will er seinen Esel besteigen – wie üblich mit einem beherzten Sprung von der Seite. Aber Alfa ist brünstig und hält ihn für einen Freier. Als sie bockt, stürzt Soriano und wird niedergetrampelt. Die Knochen flickt der Arzt wieder zusammen, doch es sind nicht die Brüche, die ihm zum Verhängnis werden. Der Feind ist viel kleiner, mikroskopisch, und kriecht heimtückisch in die schmutzigen Wunden. Sein linker Fuß passt bald in keinen Schuh mehr. Als er heftige Fieberschübe bekommt, lautet die Diagnose Osteomyelitis, eine Infektion des Knochenmarks. „Ich träumte jeden Tag von meiner Beerdigung“, erzählt Soriano. Er habe dann sein Testament gemacht, mit 39.

Zwei Jahre lang kommen und gehen die Schmerzen, bevor ihn sein Arzt vor die Wahl stellt: eine monatelange chemische Knochenmarkreinigung – oder die Amputation seines Unterschenkels. Soriano zögert keinen Augenblick: „Schneidet mir das Bein ab!“ Bereits einen Tag nach der Operation berichtet die Regionalzeitung El Heraldo aus der Klinik: „Der berühmte Lehrer empfing uns munter und lächelnd, mit einer bewundernswerten Charakterfestigkeit und Beherrschung.“ Die Reporter erleben einen vom Schmerz befreiten Mann. „Dies ist nur eine weitere Prüfung“, sagt Soriano zu ihnen. „Ich glaube, dass ich in weniger als 30 Tagen wieder auf meinen Eseln sitzen werde.“

Soriano prüft seine Prothese, deren Hartschaumteile sich mit Wasser vollgesogen haben. „Die ist ja so schwer wie ein Baumstamm!“, scherzt er. Endlich kommt der Fährmann zurück. Soriano führt die Esel auf die schwimmende Plattform, die bald gemächlich über die braunen Fluten tuckert. Schon sengt die Mittagssonne, doch das Ziel ist nah. Das Buschland wird hügelig, bis die Esel in einer heißen Senke die Gemeindeschule erreichen, die heute Sorianos Ziel ist. Das Haus hat keine Scheiben, keinen Ventilator, kein fließendes Wasser, keinen Strom. Aber die Bauern haben es selbst erbaut – unter Sorianos Anleitung.

Mit Milch und Esel zum Unterricht: Die nächste Schule ist eine Stunde entfernt.
Mit Milch und Esel zum Unterricht: Die nächste Schule ist eine Stunde entfernt.

Als wäre der Zirkus gekommen

Kaum bindet der Bibliothekar die Esel fest, bestürmen ihn zwei Dutzend Kinder. Alle haben schwarze Haare, einmal glatt, einmal kraus. Die Landbevölkerung besteht hier fast ausschließlich aus den Nachkommen der Enteigneten – der Ureinwohner und eingeschleppten Sklaven. Gierig greifen sie nach den Büchern, kreischen, als wäre der Zirkus gekommen. Für einen kurzen Moment wird greifbar, was der Mann mit den Eseln für diese Kinder bedeutet, die keine Spielsachen haben, keine Bücher und schon gar kein Fernsehen: Hier kommt der einzige Mensch, der jemals ihr gottverlassenes Dorf besucht, um sich ausschließlich um sie zu kümmern.

„Seid vorsichtig mit den Büchern“, ruft eine mädchenhafte Frau mit langem Zopf. Die Lehrerin Dina Luz Ospino ist eine ehemalige Schülerin des Biblioburrista. Meist arbeitet sie, ohne vom Staat dafür bezahlt zu werden. „Hier fehlt es eigentlich an allem“, sagt Ospino. „Die wenigen Bücher, die wir haben, muss ich gut bewachen.“

Weil es drinnen zu heiß ist, verlegt Soriano den Unterricht unter die Bananenstauden. Im Hintergrund kreischen Papageien, während er „Theo im Zug“ vorliest, einen Kinderbuchklassiker aus Spanien, in dem ein Kind mit der Eisenbahn durchs Land fährt. Seine Zuhörer staunen. Sie haben in ihrem Leben schon Hasen gefangen, Pferde geritten und Glühwürmchen in Einmachgläser gesteckt – aber einen Zug haben sie noch nie gesehen.

Francisco, ein ernster Junge mit Igelfrisur und abstehenden Ohren, wohnt noch nicht lange hier. In seinem Dorf konnte er nicht bleiben, weil sein Vater ein Paramilitär war und jetzt auf der Flucht ist. Als Soriano die „Super­Katharina“ Hefte verteilt, greift Francisco nur zögerlich zu. Dann aber umklammert er das Geschenk ganz fest vor seiner Brust. Es ist sein erstes eigenes Buch.

Dafür ist die Ausleihe des Biblioburro heute geschlossen: „Kinder, es tut mir leid, aber mir ist heute alles in den Fluss gefallen – so kann ich die Sachen nicht verleihen.“ Ein paar Schüler geben die Bücher zurück, die sie sich vor einem Monat geliehen haben: zwei Mathe­ Bücher, ein Wörterbuch und mehrere Disney ­Märchen wie „Aladdin“ und „Aschenputtel“.

Nach den Kindern sind die Eltern dran. Soriano dreht eine kleine Runde und spricht mit den Leuten über Schul­ und Familiensorgen. Zum Schluss holt er noch den Eisblock heraus. Großes Staunen. Alle wollen einmal anfassen, bevor es Cola auf Eis gibt. Zum Abschied noch ein Küsschen für Señorita Ospino, dann ist Luis Soriano wieder allein mit seinen Eseln auf dem langen Weg zurück.

Fenster zur Welt: Gebannt verfolgen die Kinder jede der Geschichten.
Fenster zur Welt: Gebannt verfolgen die Kinder jede der Geschichten.

Zwischen Einsamkeit und Schönheit

Die Einsamkeit ist oft genauso überwältigend wie die Schönheit und die Leere der Landschaft. Soriano will die 15 Kilometer so schnell wie möglich abreiten. Doch wenn Beto zu schnell trabt, fällt seinem Besitzer die Prothese ab, sodass er kurz absteigen muss, um sein Bein zu richten. Wo der Pfad durch ein dichtes Wäldchen führt, hält die kleine Karawane an einem Pflaumenbaum. „Hier haben mich einmal zehn Vermummte mit MGs an den Baum gefesselt, weil ich ihr Weggeld nicht zahlen konnte“, erzählt Soriano. Die Erinnerung an die vier Stunden, in denen er um sein Leben bangte, nimmt ihn noch sichtlich mit. „Einer der Paramilitärs hat mich dann zum Glück losgebunden – ich sollte ihm ein Märchen vorlesen“, sagt er. Auch ihren Wegzoll hätten die Männer schließlich noch kassiert – in Form eines Sexualkundehefts.

Als Soriano heimkommt, ist es dunkel geworden. Abgekämpft hockt er im Neonlicht seiner Bücherei und hadert mit sich selbst. „Manchmal weiß ich nicht, wie es weitergehen soll“, sagt er. „Ich bin berühmt, ich habe eine Bibliothek und eine Stiftung – aber ich kann mir kein Auto leisten, mein Haus nicht bezahlen und meinen ältesten Sohn nächstes Jahr nicht zur Uni schicken.“ Über ihm drehen sich drei Ventilatoren, von denen zwei keine Rotorblätter haben. „Sogar dafür fehlt das Geld.“

Seit einiger Zeit beschleicht ihn das Gefühl, dass er so nicht mehr weiterkommt. Auch seine Frau drängt ihn zum Aufgeben. Zumal ihn sein Brotberuf immer stärker in Anspruch nimmt. Seitdem er in der Schule zum Finanzkoordinator befördert wurde, sitzt er deutlich seltener auf dem Eselsrücken. „Ich bräuchte einen Manager. Und ein paar Eselsreiter. Und jemanden fürs Internet.“ Abends schmerze ihn oft der Rücken. „Vor dem Einschlafen denke ich manchmal, dass Don Quijote und ich viel gemeinsam haben.“ Dann muss er über sich selbst lachen: „Wir wollen halt beide die Probleme der Welt lösen.“

Der Kampf gegen die Windmühlen: Es sind die Erinnerungen an seine Kindheit in der Stadt, an denen sich Soriano in solch mutlosen Momenten festhält. „Meine Oma hat mein Herz mit Tinte beschrieben“, sagt Soriano in die Stille der Bibliothek. „Ich denke oft daran, wie ich mit meinem Bruder den Markt nach Essensresten abgesucht habe.“ Danach hätten sie am Brunnen gesessen und versucht, sich die Zukunft vorzustellen. Doch während der Bruder nur an Geld und Frauen gedacht habe, entwickelte Luis eine ganz andere Fantasie: „Ich will Lehrer werden und eine eigene Bibliothek haben.“

Soriano schaut auf die Bücher, die er überall um sich herum zum Trocknen ausgelegt hat. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Damit ein Baum in den Himmel wächst, müssen seine Wurzeln bis in die Hölle reichen“, sagt der Don Quijote mit dem Bücheresel. Dann steht er auf und legt das Eselsgeschirr bereit, die Bücher und seinen Cowboyhut.

Morgen früh reitet er wieder.

Löwen, Warzenschweine, Nashornvögel: „Der König der Löwen“ als Fenster zur Welt.
Löwen, Warzenschweine, Nashornvögel: „Der König der Löwen“ als Fenster zur Welt.

Eine Idee macht Schule: Wie der Biblioburro zum Vorbild für mobile Büchereien in aller Welt wurde.

  • Die Hände müssen sauber sein. Nur dann kann man sich bei Luis Soriano Bücher leihen – kostenlos, versteht sich. Seine mobile Bibliothek versorgt derzeit rund 15 Dörfer mit Lesestoff und Lehrmaterial. Außerdem steht neben seinem Haus eine Bücherei mit 3.840 Büchern und fünf internetfähigen Laptops. Die Computer sponsert das IT­Ministerium, den Rest finanziert die Stiftung Fundación Biblioburro. Ihre Mittel stammen von der Pensionskasse Cajamag sowie aus Spenden und Veranstaltungen. Die Stiftung ist inzwischen auch außerhalb von Luis Sorianos Einzugsgebiet tätig. In der Küstenstadt Santa Marta leisten zwölf Freiwillige Sozialarbeit in einem Armenviertel. Weitere freiwillige Mitarbeiter, gern auch aus dem Ausland, sind an beiden Orten willkommen. Gefragt sind vor allem Computerkenntnisse.

  • Auch in den Bergen hinter Santa Marta gibt es inzwischen ein Netzwerk an Büchereseln, das sich an Sorianos Idee orientiert. In der Sierra Nevada versorgen zwei einheimische Biblioburristas rund 500 Kinder der Volksgruppen der Kogui, Arhuacos, Arzarios und Cancuamos. In den Bezirken Tolima und Córdoba gibt es ähnliche Programme.

  • Darüber hinaus sind in vielen anderen Ländern vergleichbare Projekte entstanden: In Bolivien, Äthiopien und Osttimor tragen Esel die Bücher, in Venezuela Maultiere, in Kenia Kamele und in Chile Lamas.

Spenden und Kontakt:

Fundación Biblioburro, La Gloria, Kolumbien. Kontonummer: BBVA 018-0100453, Kontakt: funblibur@gmail.com

Diese Reportage erschien erstmals im Terra Mater Magazin 2/2014.

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