Ein Tag schreibt Geschichte: Der Urknall des Computerzeitalters

EIN MONTAGNACHMITTAG IM DEZEMBER 1968: Etwa tausend Computerexperten drängen in den großen Saal des Tagungszentrums der Association for Computing Machinery in San Francisco, wo gerade die halbjährliche Joint Computer Conference stattfindet.
Auf der Bühne sitzt einsam ein Mann, Douglas Engelbart vom Stanford Research Institute, an einem Computerterminal, sein Gesicht wird auf die Leinwand projiziert. Zu Beginn der Präsentation wirkt er noch nervös, er verspricht sich mehrmals, lacht verlegen. „Wir versuchen heute, Ihnen zu zeigen, was wir tun, und es nicht nur zu erklären“, sagt Engelbart schließlich, und auf der Leinwand erscheinen Buchstaben – der Inhalt seines Bildschirms.
Engelbarts Nervosität wirkt plötzlich wie weggefegt. Denn er weiß genau: Was er dem Fachpublikum heute präsentieren wird, ist die Zukunft des Computers.
Im Jahr 1968 sind Computer noch monströse Maschinen, die von geschulten Experten mittels Kippschaltern und Lochkarten bedient werden. Engelbart hat eine ganz andere Vision, und er hat viele Jahre an ihr gebrütet. Mehr als 20 Jahre vorher, als er im Zweiten Weltkrieg als Radar-Bediener im Pazifik stationiert war, hatte er zufällig einen Zeitschriftenartikel gelesen, in dem der berühmte Ingenieur Vannevar Bush seine Idee einer neuen Maschine darlegte: Der „Memex“ – kurz für memory extender – sollte durch Speicherung und Verarbeitung von Informationen auf Mikrofilm das menschliche Gedächtnis unterstützen.
Diese Idee sollte Engelbart nicht mehr loslassen. Er studiert Ingenieurswissenschaften, arbeitet an verschiedenen Forschungsinstituten, und schließlich, Anfang der Sechzigerjahre, kommt ihm ein Geistesblitz: Die Maschine, die den menschlichen Intellekt unterstützt, könnte ein Computer sein! So wie ein Töpfer seine Töpferscheibe gebraucht, würden die Wissensarbeiter der Zukunft den Computer als Werkzeug verwenden, um schneller, genauer und effizienter zu arbeiten. Alle Mitarbeiter in einem Büro würden an ihrem eigenen Bildschirm sitzen und ergonomische Eingabegeräte verwenden, um in Echtzeit mit dem Computer und mit anderen Mitarbeitern zu interagieren.
Aus heutiger Sicht wirkt der Gedanke fast banal. Doch selbst auf die einleuchtendste Idee muss erst einmal jemand kommen. Und dieser jemand ist eben Doug Engelbart.
Mittlerweile am Stanford Research Institute tätig, beschreibt er seine Idee 1962 im Aufsatz „Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework“. Der Direktor der militärischen Forschungsbehörde DARPA, Bob Taylor, wird auf ihn aufmerksam und stattet ihn mit Forschungsgeldern von DARPA, NASA und Air Force aus.
Nun arbeitet Engelbarts Forschungsgruppe daran, seine Idee in die Tat umzusetzen. Der Computer, den sie entwickeln, trägt den Namen oN-Line System, kurz NLS. Nach und nach beginnt dieses System so auszusehen, wie wir uns heute einen Computer vorstellen – mit großem
Bildschirm, Tastatur und einer neuen Art von Eingabegerät: „Mit diesem Schwanz sah es einfach aus wie eine Maus“, sollte Engelbart später sagen, „und der Name ist hängen geblieben.“
Ich weiß nicht, was Silicon Valley tun wird, wenn ihm Dougs Ideen ausgehen.
Die Meinung eines Kollegen über Computer-Visionär Douglas Engelbart
Doch Engelbart hat nicht nur Anhänger. Unter Kollegen gilt er als „crackpot“, als exzentrischer Spinner. Ein Rechner für den persönlichen Gebrauch, ein „personal computer“ – das erscheint vielen als Fantasterei der Kategorie fliegendes Auto. Rechenzeit am Computer kostet mehr als menschliche Arbeitszeit, ganz zu schweigen von den Unsummen, die eine der Rechenmaschinen in Anschaffung und Wartung verschlingt.
Engelbart weiß: Um die Kritiker zum Verstummen zu bringen, muss er ihnen die Zukunft vor Augen führen, anstatt sie nur in Forschungspapieren zu beschreiben. „Anfang 1968 hatte ich das Gefühl, dass wir eine Menge dramatische Dinge präsentieren konnten“, sollte sich Engelbart später erinnern. Im März 1968 beginnen sie mit den Vorbereitungen für ihre Präsentation bei der großen Computerkonferenz in San Francisco.
Sein Finanzier Bob Taylor von der DARPA macht dafür die Summe von 175.000 Dollar locker – inflationsbereinigt wären das heute etwa 1,3 Millionen Dollar. Über Funk wird das Konferenzzentrum in San Francisco mit dem 50 Kilometer entfernten Stanford Research Institute verbunden, wo der Computer steht und von mehreren Mitarbeitern überwacht wird, während Engelbart ihn von San Francisco aus fernsteuert.
Je besser wir werden beim Besserwerden, desto schneller werden wir besser werden.
Douglas Engelbart, Computer-Visionär
Und tatsächlich funktioniert am 9. Dezember 1968 alles wie geplant. Im Lauf der Präsentation steht den Zuschauern der Mund immer weiter offen: Engelbart arbeitet an einem Bildschirm mit grafischer Benutzeroberfläche und Fensternavigation, er verwendet eine Computermaus und klickt damit auf Hypertext-Links, startet eine Videokonferenz und demonstriert sogar kollaborative Textverarbeitung, wie sie mit Google Docs erst 2006 Realität werden sollte.
Am Ende bekommt Engelbart stehende Ovationen. Binnen neunzig Minuten wird der „crackpot“ zum gefeierten Visionär. „Mother of all Demos“, die Mutter aller Präsentationen – unter diesem Namen geht die Vorführung in die Geschichte ein und wird zur Blaupause für die Silicon-Valley-Keynotes der Zukunft.
Andere würden seine Vision aufgreifen und sie Realität werden lassen, etwa bei Xerox PARC in Palo Alto, wo viele Informatiker sich ihre Inspiration holen sollten – unter anderem zwei junge Männer namens Bill Gates und Steve Jobs.

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