CERN baut aus: Das Erdgeschoss unter Genf

Der Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Labor für Teilchenphysik CERN in Genf ist der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger und die größte Maschine der Welt. Der Umfang der unterirdischen Anlage beträgt 26,659 km. Im Inneren gekühlt auf minus 271 Grad, ist sie der größte Kühlschrank weltweit. Im LHC werden positiv geladene Atombausteine, Protonen, im Vakuum fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und aufeinandergeschossen. Dabei entsteht der heißeste Ort der Galaxis, eine Million Mal heißer als das Innerste der Sonne.
Im Juli 2012 wurde im LHC bei einer dieser Kollisionen das Higgs-Boson entdeckt, ein Elementarteilchen, das bis dahin nur in der Theorie existierte. Diese Entdeckung brachte die Physik ihrem Ziel einen Schritt näher: zu begreifen, wie unsere Welt aus dem Urknall entstanden ist.
Nun tüfelt die Wissenschaft für 2040 am Nachfolgeprojekt, dem Future Circular Collider (FCC): Sein Tunnel hat 98 Kilometer Umfang. Der FCC erlaubt, Teilchen auf noch höhere Energien zu beschleunigen und wesentlich präzisere Messungen. Noch ist der FCC Vision: 23 Staaten als Financiers müssen zustimmen – es geht dabei um zehn Milliarden Euro. Doch der Tunnel ist bereits Thema der Doktorarbeit des Österreichers Maximilian Haas: Wie kann das Aushubmaterial am effizientesten genutzt werden?
Die Tunnelröhre des geplanten Future Circular Collider liegt im Genfer Becken, gebohrt in 100 bis 400 Meter Tiefe, eingefügt zwischen Jura-Gebirge und Voralpen. Sie startet beim bestehenden CERN-Komplex im Genfer Vorort Meyrin, quert viermal die Grenze zwischen Schweiz und Frankreich, unterläuft den Genfer See und den Flughafen und kehrt in die CERN-Zentrale zurück. Bei 97,75 Kilometer Länge plus Nebenstollen fallen 9,1 Millionen Kubikmeter Aushubmaterial an. Ein Güterzug von Genf bis Stockholm, dreimal der Rauminhalt der Cheops-Pyramide, doch wenig im Vergleich mit dem Volumen des nahen Genfer Sees: Der Wasserspiegel würde nur um 1,5 cm steigen, wollte man das Material dort versenken.
Warum braucht der FCC das gewaltigste Tunnelbauwerk der Geschichte? Der FCC-Studienleiter am CERN, Dr. Michael Benedikt, holt ein wenig aus.
Das uns umgebende Universum, das man sehen und spüren kann, wird vom Standardmodell der Teilchenphysik beschrieben. Das letzte fehlende Element in diesem abgeschlossenen theoretischen Modell war das Higgs-Boson; dieses Teilchen wurde 2012 am LHC nachgewiesen. Trotzdem, so Benedikt: „Insgesamt können wir nur fünf Prozent dessen, was wir im Universum wahrnehmen, mit Hilfe dieses Standardmodells erklären, und 95 Prozent nicht. Und das ist natürlich prinzipiell unbefriedigend.“
Ein Weg, mehr zu erfahren, ist die beschleunigerbasierte Hochenergiephysik: Atomkerne und Elementarteilchen werden in dafür konstruierten Anlagen beschleunigt und aufeinander geschossen. Bei der Kollision entstehen sehr hohe Energiedichten auf kleinstem Raum. Nach dem Einstein-Prinzip E=mc2 entstehen dann Massen, so Benedikt: „Damit kann man Teilchen erzeugen, vermessen und daraus etwas lernen.“ Hilfsmittel dafür sind Detektoren, die die Kollisionen aufzeichnen: quasi hochauflösende Digitalkameras mit 100 Millionen Auslösesensoren, die pro Sekunde 40 Millionen Aufnahmen machen.

Insgesamt können wir nur fünf Prozent dessen, was wir im Universum wahrnehmen, mit Hilfe des aktuellen Standardmodells der Teilchenphysik erklären, und 95 Prozent nicht. Und das ist natürlich prinzipiell unbefriedigend.
Michael Benedikt, FCC-Studienleiter am CERN, zur Idee hinter dem neuen Teilchenbeschleuniger
Warum dieser Aufwand? Wir kennen die Teilchen ja schon. Benedikt: „Die Theorie des Standardmodells ist eine Formelbeschreibung, und die Formeln passen irgendwie zusammen und ordnen den Teilchen dann Eigenschaften zu. Wenn ich die Teilchen erzeuge, kann ich im Labor nachmessen, ob die Eigenschaften wirklich so sind, wie es die Theorie vorhersagt.“ In der bekannten Physik ist es jedoch so: Teilchen unterschiedlicher Natur koppeln aneinander. Ein Teilchen kann dabei ein anderes in den Eigenschaften beeinflussen, auch wenn wir das gar nicht sehen. Benedikt: „Ist diese Kopplung sehr schwach, tue ich mir schwer, zu wissen: Ist da jetzt ein Teilchen beteiligt oder ist das ein Messfehler?“
Ein Weg in die neue Physik jenseits des Standardmodells führt also über höhere Messpräzision. Der FCC würde im ersten Schritt also beinahe ausschließlich Teilchen produzieren, die man schon bei seinem Vorgänger LHC produziert hat. Doch, so Benedikt: „Das Messprogramm, das wir dort in zehn Jahren gemacht haben, würden wir in der neuen Maschine innerhalb von wenigen Tagen machen – wir bringen also 1.000 Messtage in einen Tag und erzielen damit eine viel höhere Messpräzision.“
Die Herausforderung der FCC-Konstrukteure ist, ein optimiertes Beschleunigersystem zubauen, das dabei weniger Strom verbraucht, kompakter ist und einfacher in Betrieb und Wartung. Benötigt werden dafür etwa neue Materialien, höhere Magnetfeldstärken, um die Teilchen auf ihrer Reise in der Bahn zu halten – und ein längerer Tunnel als Laufstrecke für diese Versuche.
Die Lostage, ob der FCC tatsächlich gebaut wird, liegen im Mai 2020: Dann wird die europäische Strategie zur Teilchenphysik erneuert. Die Frage des Nachfolgeprojekts für den LHC, der eine Laufzeit bis etwa 2035 hat, ist ein zentraler Punkt. Im Diskussionsprozess, der seit Anfang 2019 läuft, sind die Funding Agencies und die wissenschaftspolitischen Units auf europäischer und weltweiter Ebene involviert. Im Idealfall folgt ab Mai 2020 eine fünf-bis sechsjährige Projektierungsphase, der für Benedikt kritische Zeitraum: Er entspricht dem Abstand zwischen zwei Up-dates der europäischen Strategie für Teilchenphysik. Verläuft die Projektierungsphase erfolgreich, folgen Entscheidungen zur Finanzierung und zum technischen Design. Benedikt: „2026 hat man beim nächsten Strategie-Update alle Grundlagen in der Hand, um eine definitive Projektentscheidung zu treffen – und kann dann sagen, ja das setzen wir jetzt um.“ Hochgerechnet ist der FCC in seiner ersten Ausbaustufe bis 2040 fertig – bei Gesamtkosten von etwa zehn Milliarden Euro.
Der Tunnelbau ist dabei ein „high-priority item“ (Benedikt), das man nicht früh genug behandeln kann. CERN existiert am Genfer Standort seit 1955, und 9,1 Millionen Kubikmeter Aushubmaterial samt Handling dürfen das gute Zusammenleben mit der französisch-schweizerischen Bevölkerung in den französischen Departements Ain und Haute-Savoie und im Schweizer Kanton Genf nicht trüben. Deshalb kooperiert CERN mit der Montanuniversität Leoben: Diese hat international einen ausgezeichneten Ruf, speziell im Tunnelbau.
Nun kommt Doktorand DI Maximilian Haas ins Spiel. Seine Doktorarbeit dreht sich im Wesentlichen um die Wiederverwertbarkeit der Molasse. Dieses Gestein dominiert jenen Bereich des Genfer Beckens, in dem der Tunnel liegt, und damit das Aushubmaterial beim Bau. Was Molasse schwierig und zugleich spannend macht, sind ihre heterogenen Abfolgen von Mergel-und Sandsteineinlagen, jeweils in verschiedenen Anteilen, Korngrößen und Durchlässigkeiten. Wer die Molasse durchschaut, löst das Problem der Aufbereitung und Wiederverwertung.
Letztere findet während der sechs-bis sieben-jährigen Bauarbeiten im Idealfall gleich im Tunnel statt – auf einem Förderband hinter der Tunnelbohrmaschine. Ein Verfahren dafür hat Haas’ Leobener Doktorvater Professor Robert Galler praktischerweise bereits im Projekt Dragon behandelt.

Ein Tunnelvortrieb fühlt sich an wie eine Mondlandung: Jeder Meter ist ein Meter, wo noch nie ein Mensch war.
Maximilian Haas, Doktorand am CERN und beteiligt am FCC-Tunnelprojekt
Mit Hilfe von Mikrowellen, fotooptischen Technologien, Röntgen-und Gammastrahlen wird das Gestein gescreent und kommt vorsortiert aus dem Tunnel – bereit für die Weiterverarbeitung. Entdeckt Haas, wie man Molasse zum Beispiel als Baustoff verwerten kann, wäre das von großem – auch finanziellem – Nutzen: Molassevorkommen ziehen sich als Vorbecken der Alpen von Wien über Linz und Bayern bis in die Westschweiz. Jeder künftige Tunnelbau in diesem Bereich würde profitieren und damit Geld verdienen können.
Haas liefert mit seinem Projekt eines jener Musterbeispiele, die Benedikt nicht müde wird zu fördern: CERN steht nicht nur für Teilchenphysik, sondern ist Nährboden und Thinktank für viele Wissenschaftsdisziplinen, deren neue Ideen möglichst vielen Menschen nützen. Supraleitende Magnete, die Entwicklung neuer Legierungen, Batterietechnologie, Hoch-und Tieftemperaturtechnik, Vakuumsysteme: Was CERN mit den Teilchenbeschleunigern anstieß, wird längst industriell und damit kommerziell genutzt, etwa in der Medizin (PET-und MRT-Technologie).
Zudem beweise CERN jeden Tag, wie international vernetztes Arbeiten funktioniert und wie neue Generationen neugieriger Wissenschaftler herangebildet werden, sagt Benedikt: „Es ist das Wissen um die Möglichkeit und die Arbeitsweise in so großen internationalen Kooperationen. CERN ist in den FCC Studies das Host-Laboratory – das ist die Stärke von CERN, diesen Rahmen geben zu können und diese internationalen Netzwerke zusammenzuführen und dann zu nutzen.“
Der multidisziplinäre Ansatz fasziniert auch Haas. Geochemie, Geophysik, Mineralogie, Geomechanik und die Technologie für den Tunnelbau steuern wichtige Vorerkenntnisse und Grundlagen bei. Satellitenbilder, Daten von Geoinformationssystemen und Probebohrungen im künftigen FCC-Umfeld liefern Fakten und Material, das in Versuchen auf seine Eigenschaften hin seziert wird. Proben werden idealerweise aus der künftigen Tiefe der FCC-Röhre genommen, also zwischen 100 und 400 Metern. Haas arbeitet auch mit Daten von sogenannten In-situ-Versuchen im Bohrloch: „Das ist notwendig, denn wenn ich die Probe mit nach draußen nehme, ergibt das einen gewissen Auflockerungsfaktor, das Gestein entspannt sich wie jedes andere Material auch, was Einfluss auf die Messergebnisse hat.“ Vom Genfer Becken gibt es bereits umfangreiches Datenmaterial, was Haas’ Arbeit erleichtert. Zudem hat das CERN im Dezember 2018 einen eignen Conceptual Design Report präsentiert, der vor allem ein Lastenheft für die Bauingenieure ist.
Trotz all dieser Vorarbeiten: Man müsse selbst ein Gefühl kriegen für das Material, sagt Haas. Und ist dabei immer auf neuen Wegen unterwegs: „Ein Tunnelvortrieb fühlt sich an wie eine Mondlandung: Jeder Meter ist ein Meter, wo noch nie zuvor ein Mensch war.“

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