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Massenauflauf in der Beringsee

Hunderttausende Walrosse gehen jeden Herbst an der Küste Nordostrusslands an Land. Der französische Fotograf Jean-Francois Lagrot hat die Tiere dabei erstmals beobachtet – unter abenteuerlichen Bedingungen.
Text: Jean Francois Lagrot, Fotos: Jean Francois Lagrot / 9 Min. Lesezeit
Terra Mater Walrosse Bering See Russland Foto: Jean-Francois Lagrot
Nackte Riesen: Walrosse werden bis zu 3,6 Meter lang und 1900 Kilo schwer. Ihr Pelz ist so kurz und dicht, dass die Tiere auf den ersten Blick nackt wirken. Die Rudelbildung kann mit dem Pelz zu tun haben: Durchs Aneinanderreiben werden sie Parasiten los.
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Maksim Tschakilew kneift die Augen zusammen und blickt hinaus ins Eismeer. Es ist ein stürmischer Septembertag, doch das macht dem jungen Biologen nichts aus. Er kennt die Bedingungen hier, es ist der siebente Herbst, den er hier verbringt. Seine Schutzhütte ist eineinhalb Stunden Fußmarsch entfernt, das nächstgelegene Dorf heißt Enurmino, ist 14 Kilometer entfernt und nur per Boot zu erreichen. Bis zum Nordpol sind es von hier aus nur noch 2.500 Kilometer.

Ich selbst habe 14 Tage gebraucht, um aus Frankreich an dieses Ende der Welt zu kommen. Ich habe dafür Flugzeuge, Hubschrauber, ein kleines Boot und zuletzt meine Wanderschuhe genutzt. Gemeinsam mit Maksim Tschakilew bin ich das letzte Stück in eineinhalb Stunden von einer windschiefen Hütte am Strand hierher auf das Kap gewandert. Dieses ragt als kleine Halbinsel vom nordöstlichsten Zipfel Russlands hinaus in die Tschuktschensee, einen Teil des Nordpolarmeers. Die Leute nennen das Kap Serdze-Kamen, herzförmiger Stein, denn das Kap hat auf Landkarten in etwa den Umriss eines Herzens.

Früher, so erzählen die Menschen aus Enurmino, war das Meer rings um das Kap fast ganzjährig mit einer dicken Eisschicht bedeckt. Jetzt treiben nur ein paar verlorene Eisschollen im silbergrauen Meer. Das Wasser glitzert im Licht der tiefstehenden Sonne.

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Die Hauer der Walrosse können bis zu einem Meter lang werden. Die Tiere schlagen sie wie Pickel in eine Eisscholle, um sich dann aus dem Wasser zu ziehen. Je länger der Zahn, desto älter das Tier.

Die Herrscher der Eismeere sind wehrhafte Tiere

Seit zwei Wochen marschiere ich mit Maksim täglich hierher, um Ausschau zu halten. An diesem Tag, endlich, entdeckt er unten im Wasser: ein Walross. Dann noch eines. Dann eine Dreiergruppe. Und dann ein Dutzend. Die Walrosse umrunden das Kap von Norden her und steuern auf die südöstlich gelegene Bucht zu, wo sie an Land gehen werden. Noch einmal blickt Maksim durch sein Fernglas. Als er sicher ist, kein Tier übersehen zu haben, zieht er sein Diktiergerät aus dem Rucksack, sammelt sich, um die Aufregung des Augenblicks zu unterdrücken, und verfasst betont nüchtern eine akustische Notiz über Datum, Zeit, Ort, Wetter und die Anzahl der gesichteten Walrosse.

Die Walrosse werden mehr

Damit ist es offiziell – der Höhepunkt einer der massivsten Tierwanderungen der Erde steht unmittelbar bevor. Drei Tage nach den ersten Ankömmlingen zählt Maksim 480 Walrosse, am Tag danach sind es schon 1.680, die sich an den Ufern rund um das Kap grunzend aneinanderreiben.

So geht es weiter Tag für Tag. Im Minutentakt wuchten sich mehr dieser behäbigen Riesen auf ihren Flossen ans Ufer. Sie recken die Köpfe hoch und drängeln sich zwischen die Artgenossen, die schon daliegen. Streitigkeiten um den knappen Platz werden mit Fauchen, Kreischen, Brüllen ausgefochten. Erst wenn das nichts hilft, kommen die langen Zähne zum Einsatz.

Maksim kommt täglich mit seinem Fernglas zum Posten hoch über dem Meer und zählt. Je genauer er arbeitet, desto zuverlässigere Schlüsse kann er darauf ziehen, wie die Tiere mit der rasanten Veränderung ihres Lebensraums zurechtkommen.

Terra Mater Walrosse Bering See Russland Foto: Jean-Francois Lagrot
Dicht an dicht: Die Pazifischen Walrosse leben in und um die Beringsee zwischen Russland und Nordamerika. Dabei folgen sie der Kante des Packeises. Passt es, gehen sie in Herden an Land.

Jetzt kann auch ich zu arbeiten beginnen. Durch einen steilen Hohlweg pirsche ich vom Beobachtungsposten in Richtung Strand. Sofort schlägt mir der beißende Geruch der Tiere entgegen. Als nächstes nehme ich das Getöse wahr, das die Walrosse veranstalten. Schließlich erreiche ich einen Felsvorsprung, von dem aus ich freien Blick auf sie habe. Ein einziger brauner Teppich, der den Strand lückenlos bedeckt. Ein bebender Pulk aus schwerfälligen Ungetümen.

Es sind respekteinflößende Tiere. Männchen können bis zu 3,6 Meter lang und 1,9 Tonnen schwer werden, ihre Stoßzähne erreichen eine Länge von bis zu einem Meter. Walrosse sehen nicht sehr gut, doch mithilfe ihres Geruchssinns bemerken sie sofort, wenn sich ein Eindringling nähert – zumal, wenn der schon seit zwei Wochen in einer Hütte ohne fließendes Wasser wohnt.

Seit Jahrmillionen pendeln Walrosse im Rhythmus der Jahreszeiten. Im Herbst, wenn sich der Arktische Eisschild in Richtung Süden ausdehnt, machen sich auch die Walrosse auf in Richtung Süden, passieren die nur 90 Kilometer schmale Meerenge zwischen Russland und Alaska, die Beringstraße, und erreichen den Pazifischen Ozean. Im Sommer, wenn das Eis schmilzt, ziehen sie wieder in Richtung Norden.

Vor 30 Jahren drangen sie noch weiter südlich bis in die Gewässer um die Halbinsel Kamtschatka vor. Doch das ist vorbei: Weil die Temperaturen in der Region gestiegen sind, wächst das winterliche Packeis nicht mehr so weit Richtung Süden.

All das hat mir Anatoli Kotschnew erzählt. Der Säugetier-Experte der Russischen Akademie der Wissenschaften ist der führende Walross-Fachmann. Das zumindest dachte er von sich selbst, bis ihm vor neun Jahren Jäger erzählten, dass Walrosse in der Nähe ihres Dorfes Enurmino in großer Zahl an Land kommen würden. Neugierig geworden, forschte Kotschnew nach, fand Tausende Walrosse beim Dorf – und Zehntausende rund um das nördlich gelegene Kap.

Seither schickt Kotschnew seinen Mitarbeiter Maksim Tschakilew jedes Jahr hierher, damit der die Entwicklung der Dinge genau dokumentiert. Die Theorie der beiden Forscher: Die Tiere kommen an Land, weil ihnen das Treibeis fehlt.

Dehnt sich im Herbst der Arktische Eisschild in Richtung Süden aus, machen sich die Walrosse auf in Richtung Süden, in den Pazifik. Schmilzt im Sommer das Eis, ziehen sie wieder in Richtung Norden.

Seit Jahrmillionen pendeln Walrosse im Rhythmus der Jahreszeiten

Ein Landgang ist ungewohnt für die Flossenfüßer, deswegen sind sie hochnervös. Maksim hat mich vorgewarnt: Bereits ein einziger Eindringling kann unter den Tieren eine Massenpanik auslösen. Kotschnew hat so etwas im Jahr 2007 beobachtet: Hals über Kopf drängten damals Tausende aufgeschreckte Tiere ins Wasser – und erdrückten sich gegenseitig. Als alles vorbei war, zählte er rund 10.000 tote Tiere am Ufer. Die meisten davon waren Jungtiere und trächtige Weibchen.

Entsprechend vorsichtig nähere ich mich den Tieren, verharre lange Zeit bewegungslos auf dem Felsen und warte, bis sich die Tiere an mich gewöhnt – oder mich vergessen haben.

Einige liegen nur wenige Meter von mir entfernt. Zwischen ihre Leiber passt kein Strohhalm, lückenlos bedecken ihre Körper den Strand. Ihr Fell erscheint mal grau, mal braun oder beige schimmernd, gemeinsam bilden die Walrosse eine Art Patchwork, mit Elfenbein vernäht. Ich blickte in interessierte kreisrunde, hervortretende Augen, lernte einzelne Tiere an ihren ausgeprägten Gesichtern und an den Formen ihrer Flossen zu unterscheiden.

Die Belagerung des Kaps

Einige Tage später belagern bereits 120.000 Walrosse die Küste rund ums Kap. Und sie kommen nicht nur wegen der für sie bequemen Strände. Zusätzlich locken die vielen Muscheln, die ringsum auf dem Meeresgrund in größerer Dichte gedeihen als irgendwo sonst in der Arktis. Mehrmals täglich schwimmen die Walrosse hinaus, um Nahrung zu suchen. Bis zu 30 Minuten können sie unter Wasser bleiben. Forscher haben beobachtet, dass sie am liebsten ihre rechte Vorderflosse nutzen, um Muscheln, Schnecken, Garnelen, Krabben, Tintenfische und Seegurken zu packen. Mithilfe der linken oder mit der Kraft ihrer Lippen knacken sie die Panzer der gefundenen Schalentiere.

Allein zwischen 1925 und 1931 töteten Jäger rings um die kanadische Baffininsel 175.000 Atlantische Walrosse. Davon hat sich der Bestand bis heute nicht erholt.

Und immer wieder greift der Mensch gedankenlos der Natur ins Rad

Die langen Elfenbeinzähne sind bei der Nahrungssuche nutzlos. Wegen dieser Zähne wurden Walrosse jedoch bis an den Rand der Ausrottung bejagt. Besonders schlimm erwischte es die Atlantischen Walrosse. Die sind mit den Pazifischen Walrossen hier nahe verwandt, aber rund um Grönland und vor der Nordküste Kanadas zu Hause. Allein zwischen 1925 und 1931 töteten Jäger rings um die kanadische Baffininsel 175.000 Atlantische Walrosse. Davon hat sich der Bestand bis heute nicht erholt, ihre Zahl der stagniert seit Jahrzehnten bei rund 15.000 Exemplaren.

Von den Pazifischen Walrossen gibt es vermutlich mehr als 250.000 Exemplare, genaue Zahlen fehlen allerdings. Zu entlegen und unzugänglich ist ihr Lebensraum. Was sie schützt: Der Handel mit ihrem Fleisch und ihren Zähnen ist durch das internationale Artenschutzabkommen untersagt. Jägern aus Russland und Alaska wird nur eine Fangquote von 4.000 Tieren pro Jahr zugestanden.

Unter den Männern von Enurmino gilt Stas als der beste Jäger. Er und sein Sohn Rustam bringen mit ihrem kleinen Boot regelmäßig Vorräte aus dem Dorf zu unserer Hütte. Diesmal bringen sie Proviant, eine Kette für die Motorsäge, eine Stange Zigaretten, Kaffee, Dosenmilch, ein paar Laibe Brot.

Als die Ladung gelöscht und verräumt ist, packt Stas ein Stück geräucherte Walfischzunge aus, schneidet eine Scheibe ab und beginnt zu erzählen: Am Vortag hatte er zunächst von Land aus bemerkt, dass sich draußen auf dem Wasser etwas regt: Walrosse, die regelmäßig Luft durch ihre Nasenlöcher blasen. Das sorgte für Aufregung unter den Jägern, denn sie wissen: Wollen sie ihre Fleischvorräte für den Winter auffüllen, müssen sie im Herbst erfolgreich sein.

Terra Mater Walrosse Bering See Russland Foto: Jean-Francois Lagrot
Jungtier mit Mutter: Die deutlich kleineren Kühe sind an dem achten Lebensjahr geschlechtsreif. Nach erfolgreicher Paarung von April bis Juni gebären sie nach elf Monaten Tragezeit ein Junges.

Als die Jäger am folgenden Tag aufbrechen, bin ich in einem der Boote dabei. Stas steuert an eine Gruppe von vier Walrossen heran, dann wirft sein Helfer die Harpune nach dem größten Bullen. Das getroffene Tier versucht sofort abzutauchen, doch zwei große Bojen im Seil halten es nahe an der Wasseroberfläche. Rasch hat sich der Koloss verausgabt, sein Schicksal ist besiegelt. Die Jäger machen ihn an der Seite ihres Bootes fest und schleppen die Beute zurück zum Strand. Von dort ziehen sie den Fang mit einem Traktor weiter landeinwärts.

Am Abend beginnen die Jäger mit dem Zerlegen. Immer wieder müssen sie ihre Klingen nachschärfen, um das große Tier klein zu bekommen. Walrossfleisch wird nie frisch verzehrt, da es häufig von Fadenwürmern – Trichinen – befallen ist. Diese Parasiten greifen auch beim Menschen die Muskeln an, das habe erst kürzlich wieder unter kanadischen Inuit für Opfer gesorgt, erzählt Stas.

Stoßzähne für Elfenbeinschnitzer

Schließlich entfernen die Jäger die Stoßzähne vom Kadaver – und den Penisknochen, der wie Marmor aussieht, sich auch so anfühlt und deswegen beliebt ist. Was die Stoßzähne angeht, so meint Stas, könne man sie im Rohzustand für 50 Dollar pro Kilogramm an Elfenbeinschnitzer verkaufen. Zu einem weitaus höheren Preis kaufen Touristen in Anadyr, der Hauptstadt der Region, die fertigen Skulpturen.

Wie aber wird das möglicherweise verseuchte Fleisch weiterverarbeitet? Die Jäger schneiden ihre Beute vorerst in Scheiben und stecken sie in einen Umschlag aus der Walrosshaut: So kann jeder seinen Anteil am Fang wie in einer Einkaufstasche nach Hause tragen. Die Taschen werden aufgehängt, und nach kurzer Zeit beginnt das Fleisch zu fermentieren. Während der Wintermonate friert die Ration. Wenn sie im Frühjahr wieder auftaut, wird sie eine geschätzte Delikatesse sein.

Terra Mater Walrosse Bering See Russland Foto: Jean-Francois Lagrot
Dicke Haut: Unter ihrem braunen oder grauem Fell liegt eine vier Zentimeter dicke Haut und eine bis zu acht Zentimeter starke Fettschicht. Das schützt vor Kälte und Verletzungen bei der Jagd nach Krustentieren und Muscheln und gegen Feinde wie Eisbären.

Eines Morgens sind die umliegenden Gipfel zum ersten Mal schneebedeckt, und die Temperatur ist beträchtlich gefallen. Der Himmel wirkt metallisch, auf dem Meer türmen sich die Wellen und werfen sich an den Strand. Ein wilder Sturm schlägt Maksim und mir entgegen, als wir uns – zum wievielten Male eigentlich? – auf den Weg zum Kap machen. Vom Beobachtungsposten blicken wir auf den Strand und sehen – nichts. Die Walrosse sind allesamt weg. „Sie sind erschöpft vom Kampf gegen die Brandung“, erklärt Maksim. „Sie haben sich ins Meer zurückgezogen.“

Im von Nebelschwaden durchzogenen eisigen Sprühregen kehren wir um. Endlich haben wir ein wenig Zeit für uns selbst. Ein kurzer Umweg führt uns bis zu der kleinen Meerenge, wo wir vorher ein Fischernetz ausgeworfen hatten. Wir waren erfolgreich: Ein prächtiger Lachs von über zwei Kilo ist uns ins Netz gegangen.

Der Fang bringt einen Hauch von Luxus in die desolate Holzhütte am Strand, von der aus wir die Küste erkunden. Bevor wir diesen allerletzten Überrest einer längst verschwundenen kleinen Siedlung in der Bucht beziehen konnten, hatten wir einige Balken tauschen müssen. Diese mussten mühsam eigens per Boot herantransportiert werden, denn in der Tundra wachsen nur Büsche, keine Bäume.

Terra Mater Walrosse Bering See Russland Foto: Jean-Francois Lagrot
Nicht nur Statussymbol: Die bis zu einen Meter langen Zähne helfen beim Revierkampf sowie beim Durchstoßen der Eisdecke zum Offenhalten der Atemlöcher.

Auch andere Probleme konnten Maksim und ich gut lösen. Etwa dass ich kaum russisch spreche und Maksim kein Französisch. (Trotzdem überstand die renovierte Hütte die folgenden Wochen.) Und dass wir gleich am ersten Abend unser Quartier gegen acht Braunbären verteidigen mussten, die gefährlich nahe herangekommen waren. Mit Warnschüssen konnten wir sie vertreiben. Für die Heizung hat Maksim eine pragmatische Lösung gefunden: Vor etwa zehn Jahren ist in der Bucht ein Frachtschiff gekentert, seither spült jeder Sturm Kohle an den Strand. Dort graben wir sie mit bloßen Händen aus – und haben es bald darauf warm. Süßwasser holen wir eimerweise vom nahen Fluss.

Am 19. September ist der Sturm vorbei und die Walrosse kehren in Scharen an die Strände zurück. Erneut ist jedes noch so kleine Fleckchen am Ufer belegt. Einige Tiere schaffen es sogar, ein Stück an der Klippe emporzuklettern, und balancieren auf schmalen Felsenvorsprüngen.

Einmal macht mich Maksim auf ein besonderes Schauspiel im Meer aufmerksam: Da dümpelt eine ganze Gruppe von Walrossen eng aneinandergedrängt im Meer. Ringsum durchschneiden die Rückenflossen mehrerer Schwertwale die Wasseroberfläche. Die ausgewachsenen Bullen sind eine zu große Beute für die hungrigen Orcas. Gefährlich sind die Wale allenfalls für junge, kleine Walrosse. Immer engere Bahnen ziehen die Schwertwale, doch einen direkten Angriff wagen sie schließlich doch nicht.

Wildes Nutztier: Warum Jäger im Nordosten Russlands bis heute Jagd auf Walrosse machen

Maksim würde gern wissen, woher die einzelnen Walrosse kommen. Stammen sie alle aus der russischen Arktis? Oder kommen einige der Tiere von den Küsten Alaskas? Auch die genaue Zahl der Tiere wäre interessant. Und schließlich: Wie verkraften es die Walrosse, dass ihr Lebensraum, das Treibeis, einfach getaut ist?

Am Morgen des 26. September fordert mich Maksim auf, den Kopf durch die Tür zu stecken. Zunächst bemerke ich nichts. Die je nach Lichteinfall braune, erd- oder magentafarbene Tundra erzeugt eine beruhigende Stimmung. Es braucht einen Augenblick, um die Besonderheit des Moments zu erkennen. Dann entdecke ich einen Körper, der sich in der Ferne bewegt. Getarnt durch Schichten aus Sand, Torf und verborgen hinter gewundenen Wurzeln hatten über Nacht etwa tausend Walrosse den Strand um die Hütte erreicht.

Später am Tag holt Maksim seine Notizen vom Vorjahr hervor. Auch damals waren die Walrosse exakt am 26. September in der Bucht aufgetaucht. Diese unglaubliche Pünktlichkeit lässt vermuten, dass die Anlandung aufgrund einer Art geheimnisvoller Verabredung erfolgt.

Zwei bis vier Wochen lang dauert der Aufenthalt der Walrosse in der Region. Auf dem Höhepunkt zählt Tschakilew fast 200.000 Tiere. Schon ab Mitte November sind die Ufer wieder leer und wirken fast nackt. Fast ein Jahr lang wird das so bleiben, bis zur nächsten, pünktlichen Massenankunft der Walrosse.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 2/2018.

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