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Das Dorf der heiligen Schlangen

In vier indischen Ortschaften leben 3.000 hochgiftige Kobras Seite an Seite mit 6.000 Menschen. Wie das funktioniert? Mit einer großen Portion Gleichmut und religiöser Verehrung der Tiere.
Text: Manfred Sax, Fotos: Palani Mohan / 11 Min. Lesezeit
Kampfbereite Kobra, Schlange, Giftschlange Foto: Palani Mohan
Eine Kobra im Kampfmodus.
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Eine Kobra braucht keine Tür. Wenn sie will, findet sie einen Weg in dein Haus. So ist das in dieser Gegend, wo die Häuser Luftlöcher haben, damit sie in der Regenzeit nicht modern. Mister Sri Chatterjee zeigt auf -einen Sockel am niedrigen Plafond seines Lehmhauses, auf dem das Strohdach ruht. Der Sockel schafft Platz zwischen Mauer und Dach. Das bringt eine kühle Brise in die Wohnung und lockt die Schlange an.

„Sie liebt den Dachrand, dort ist die Nachttemperatur optimal für sie“, erzählt Chatterjee mit gleichmütiger Miene. Sri Chatterjee ist Oberlehrer und einer der Dorfältesten der Gemeinde. Er akzeptiert schon lange, dass so eine im Gebälk dösende Kobra gelegentlich den Halt verliert und zu ihm aufs Bett fällt. Direkt auf seinen Bauch. Nichts Besonderes in diesem Dorf. Was im Rest der Welt Albträume auslöst, fällt hier unter Alltag. „Reine Gewöhnungssache“, sagt der alte Lehrer, „man muss nur ruhig bleiben, dann verschwindet sie von selbst.“

Sie, das ist die Monokelkobra. Spreizt sie ihre zehn Halswirbel und zeigt ihren namensgebenden dottergelben Ring auf ihrer Haube, ist Abstand gefragt. Was die Giftkonzentration betrifft, ist sie die gefährlichste aller Kobras.

Ein 90-Minuten-Ticket in den Tod: Eine falsche Bewegung genügt, schon hast du es gelöst.

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Sri Chatterjee akzeptiert schon lange, dass so eine im Gebälk dösende Kobra gelegentlich den Halt verliert und zu ihm aufs Bett fällt.

Willkommen in Mosaru, einem von vier Dörfern Westbengalens, die keine Landkarte vermerkt. Es ist Hochsommer, die Tagestemperatur liegt bei 40 Grad und das halbe Land steht unter Wasser. Der östlichste Bundesstaat Indiens wird von zahllosen Seitenarmen des Ganges durchströmt, die alljährlich in den Monsun-Monaten von Juni bis August über die Ufer treten.

Das bringt Katastrophen, und es bringt Segen: eine halbe Milliarde Tonnen nährstoffreichen Schlamm. Perfekter Boden für Reis, der Westbengalen den Ruf der „Reisschüssel Indiens“ einbrachte. Macht in Summe das dichtest besiedelte Gebiet der Welt. Jeder zehnte Weltbürger lebt am Ganges.

Mosaru und seine Nachbardörfer Posla, Choto Posla und Bodo Mosaru sind da nicht einmal eine Randnotiz. Inmitten von Reisfeldern gelegen, bringen sie es auf knapp 6.000 Bewohner. Wachstum unwahrscheinlich, denn trotz friedlicher Atmosphäre und beschaulicher Lage will dort niemand hin.

Kobra, Schlange, Giftschlange, Monokelkobra Foto: Palani Mohan
Eine schwarze Monokelkobra wandert im Haus umher.

Der Grund: Die Dörfler teilen sich den großzügigen Lebensraum mit ominös vielen schwarzen Kobras. Seit Jahrhunderten. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Einer Schätzung von Zoologen zufolge leben die 6.000 Menschen mit 3.000 Monokelkobras in einer einzigartigen Lebensgemeinschaft. Im restlichen Indien werden die tödlichen Reptilien als Plage eingestuft, hier sind sie sicher. Die schwarze Kobra, Jhaenglai genannt, gilt als Freundin der Dörfer.

Die Evolutionswissenschaft weiß: Mensch und Schlange sind einander seit Jahrmillionen spinnefeind. Die erfolgreichste Überlebensstrategie beider Spezies war immer das gegenseitige Ausweichen. Hier aber leben sie offenbar harmonisch zusammen. Wie funktioniert das?

Mensch und Schlange sind einander seit Jahrmillionen spinnefeind.

Zwischen der im Golf von Bengalen gelegenen Hauptstadt Kolkata (das frühere Kalkutta) und Mosaru liegen 130 Kilometer, eine halbe Tagesreise durch Chaos und Lärm. Sie führt nordwärts an der Kreisstadt Bardhaman vorbei, bis schließlich, nach Passieren eines „Balgona-Kreuzung“ genannten, übervölkerten Umschlagplatzes, plötzliche Stille eintritt. Keine Menschenmassen mehr, nur noch Reisfelder, die sattgrün im Sonnenlicht glitzern, gelegentlich stakst ein Storch durchs Bild.

Das Taxi biegt auf einen schmalen Weg aus rotbrauner Erde. Bald ist Mosaru erreicht, ein Dorf aus gut 70 Lehmhütten und ein paar mehrstöckigen Häusern, in denen Mitglieder der höheren Kasten wohnen. Dazwischen engwinkelige Pfade, Bananenbäume und Palmen, an deren Stämmen Kuhdung zum Trocknen klebt. Das gibt guten Brennstoff. Im Zentrum ein bezaubernd schlichter, kaum fünf mal fünf Meter großer Tempel, daneben schillert giftgrün ein winziger, künstlich angelegter Teich. Die Luft ist feucht, jeder Atemzug macht die Lungen schwer.

Kobra, Schlange, Giftschlange, Kinder Foto: Palani Mohan
Die Kobras genießen im Dorf Mosaru den Status von Gottheiten und werden respektvoll behandelt.

Oberlehrer Sri Chatterjee hat in seinem Haus Chai bereitet, der mit einem weiteren Dorfältesten, dem „Historiker“ Rabindra Nathsamanda, konsumiert wird. Utsab, ein Student, macht den Dolmetscher. Es sei ein guter Sommer, so startet das Gespräch, der Monsun spielte heuer alle Stücke. Ein schlechtes Monsunjahr lässt das indische Bruttoinlandsprodukt um bis zu vier Prozent sinken.

Dass es ein guter Sommer wird, ist schon seit Juni klar, sagt Utsab, denn es gibt so viele Jhaenglais wie noch nie. Die Dinge sind also im Lot: Die Kobramännchen haben im Februar ihre Weibchen gefunden und Letztere die Löcher und Gruben des Dorfes mit Eiern bestückt, aus denen im Mai die nächste Generation geschlüpft ist, mit gehörigem Hunger.

Also kroch die Jhaenglai aus ihren Löchern und brachte den Monsun, und mit ihm Ratten und Frösche. Das ist es, was die Schlange zur Königin der Kobradörfer stempelt. Sie gilt als Regenbringerin, sie sorgt für Fruchtbarkeit. So etwas schaffen nur höhere Wesen. Die schwarze Kobra wird auch als Reinkarnation der Gottheit Jhankeshwari verehrt. Ohne Jhaenglai kein Monsun, und ohne Monsun kein Überleben.

Tempel, Menschen, Wasser Foto: Palani Mohan
Der Jhankeshwari-Tempel im Dorf Mosaru.

Niemand weiß, warum es gerade hier zu dieser massiven Ansammlung von Kobras kam. Wahrscheinlich hat sie vor 600 Jahren eine Flut angeschwemmt. Historiker Rabindra stützt seine Erklärung auf Hindu-Legenden. Demnach habe die schwarze Kobra sich im Jahr 911 auf Geheiß der Schlangengöttin Manasa angesiedelt. Weil der Reisertrag sich seither wesentlich verbessert hat, baute man der Göttin im benachbarten Choto Posla einen Tempel. Dort ist die Göttin abgebildet, mit einer Krone aus sieben Kobraköpfen.

Rabindra ist grade rhetorisch groß in Fahrt, als draußen jemand lautstark „Jhaenglai! Jhaenglai!“ ruft. Nebenan kriecht eine gut eineinhalb Meter lange Schlange in eleganten Bögen aus einem Straßenladen nach draußen ans Licht. Schwarzer Rücken, oranger Ring am Hals: eine Monokelkobra. Der auf einem Sofa sitzende Hüter des Ladens hat bloß seine Beine angehoben, um sie nicht zu stören.

Priester, Indien, Tempel, Fest, Essen, Altar Foto: Palani Mohan
Der Hohepriester im Schlangentempel.

Die Kobra hat es nicht eilig. Beim Überqueren des Weges vor dem Shop hält sie kurz inne, ihre gespaltene Zunge testet die Luft. Sie orientiert sich, erklärt Dolmetscher Utsab, denn ihre Augen sind bei Tageslicht nicht zu gebrauchen. Die paar Menschen am Weg bleiben stehen, Radfahrer steigen vom Rad. Eine Wohngemeinschaft von Mensch und Kobra ist nicht einfach, sagt Utsab, es gibt Verkehrsregeln.

Weil kommunikativ zwischen Mensch und Reptil nichts läuft, hat die Kobra prinzipiell Vorrang. Außerdem sollte immer ein Respektabstand von zumindest einem Meter eingehalten werden, so weit reicht ihr Angriffsstoß. Aber im Wesentlichen ist sie fair. Sie gibt immer Warnsignale ab. Sie zischt, richtet sich auf, öffnet die Haube. Dann ist Bewegungslosigkeit gefragt, bis sie sich beruhigt.

Niemals darf man vergessen, dass sie eine Gottheit ist und Jhankeshwari in ihr wohnt. Nur Angehörige des Hohepriester-Clans dürfen sie berühren, niemand darf ihr Leid zufügen. Das sind die simplen Regeln, die kein Bürger Mosarus jemals verletzt, erklärt Utsab, weil: „Ein Gott lässt sich nicht hinters Licht führen.“ Selbst im Tod wird der Schlange alle Ehre zuteil. Wird eine Jhaenglai tot aufgefunden, bettet sie der Priester in ein Tongefäß und bestattet sie im Ganges.

Beim Spaziergang durchs Dorf stößt man alle paar Minuten auf ein Exemplar. Die tödlichen Schlangen sind omnipräsent: in jedem Graben, in Ställen, entlang der Hausmauern, in den Teichen. Aus einem Loch unter einem der besseren Häuser kriecht ein besonders prächtiges Exemplar, fast zwei Meter lang. Ein junger Mann in weißem Sarong manövriert sie per Hand und Stock vom Haus weg. Die Kobra hat offenbar etwas dagegen, sie hisst und bläht ihren Hals.

Der Kult um die Kobra

Darf der Mann das überhaupt? Er darf: Er ist der Sohn des spirituellen Kopfes der Kobradörfer. Wenig später genießt Terra Mater eine Audienz bei seinem Vater. Shyamal Chakraborty, der Hohepriester, ein schlanker Mann mit feinen Gesichtszügen, offeriert im Schatten der Tempelveranda Tee und „Opferkekse“, eine aus Kondensmilch und Zucker gebackene Süßigkeit. Sein Privileg als Brahmane, die Schlange zu berühren, aktivierte er bereits als Achtjähriger, erzählt er, der Kontakt „erfüllte mich mit zärtlichen Gefühlen. Ich trug die Schlange aus dem Haus und sagte: ‚Mutter, geh weg.‘“

Shyamal beschwört uns, keine Angst vor der Kobra zu haben, sie sei gutmütig, schütze die Dörfer und sorge für gute Ernte. Natürlich, manchmal beißt sie zu, aber das sei kein Problem: „Ein Eintauchen im Tempelteich und ein Tag Fasten genügen, um den Gebissenen zu heilen.“ Außerdem stehe Mosaru unter besonderem Schutz. Hier wird neben der Schlangengöttin Manasa auch die Subgottheit Jhankeshwari angebetet.

Reisebus, Indien Foto: Palani Mohan
Überlandbus auf der Durchreise.

Noch eine Legende: Demnach biss eine Kobra einen lokalen Bengalen namens Lokhindar, dessen Geliebte Behula – eine Tochter Mosarus! – daraufhin ganz zauberhaft vor den Göttern tanzte und die Schlangengöttin Manasa nicht nur bewog, Lokhindar zu retten, sondern sie auch versprechen ließ, die Bewohner der vier Dörfer immun gegen das Gift zu machen.

Der Name der Kobra-Inkarnation Jhankeshwari stammt von Jhanak, einem Fuß-Schmuck, den Behula während des Tanzes trug. Aus Jhanak entstand der Begriff Jhaenglai. Und weil diese Dinge so geschrieben sind, wird im Dorf Mosaru vor dem großen öffentlichen Fest zu Ehren Manasas auch noch ein nur für die Bewohner der vier Dörfer zugängliches Jhankeshwari Puja gefeiert, das in wenigen Tagen stattfindet.

Warum sterben in Indien 58.000 Menschen pro Jahr an Schlangenbissen, in den Kobradörfern aber angeblich niemand?

Neutralisiert der Tempelteich von Mosaru das Kobragift tatsächlich? Im Krankenhaus von Bardhaman hat Spitalsvorstand Dr. Utpal Dan Antworten. Die Grundprobleme am Land sind sanitärer Natur, sagt er. Die Häuser haben keine Toiletten, man geht barfuß des Nachts in die Büsche – ausgerechnet zur Jagdzeit der Kobras. Das provoziert tödliche Unfälle. Und ja, dieser Aberglaube der Dörfler sei ein großes Problem. „Wir könnten wesentlich mehr Menschen retten, kämen sie früher zu uns. Meistens kommen sie erst, wenn ihnen dämmert, dass das Bad im Teich und die Priestersprüche nichts nützen. Kobragift geht aufs Nervensystem und lähmt den Gebissenen. Das Gegenserum muss rechtzeitig gespritzt werden.“ Aber: Kann es sein, dass die Kobradörfler im Lauf der Jahrhunderte immun wurden? „Das ist möglich“, antwortet Dr. Dan.

Schlange, Wasser, Mensch Foto: Palani Mohan
Um Angriffen vorzubeugen, weichen die Menschen den Schlangen so gut es geht aus.

Die Schlange hatte immer ein schlechtes Image. Das ist eine der großen Ungerechtigkeiten dieser Welt, sagt Mobarak Ansari. Der 45-jährige Mechaniker ist Schlangenexperte. Er liebt Kobras, selbst die Rückspiegel seines Motorrads haben die Form einer Kobrahaube. In seinem Park in Panchet leben 150 Schlangen. Mobarak ist ein großer Freund der vier Dörfer, wenngleich er der Monokelkobra misstraut.

Sie wäre launisch, meint er, und ihre Blindheit ein Hindernis: „Sie folgt dem Geruch. Wenn du zuvor eine Maus in der Hand hattest, musst du ihr fernbleiben.“ Er holt mit bloßer Hand eine imposante Brillenschlange aus dem Käfig. „Sie ist von Natur aus friedlich“, sagt er, „sie will nichts von dir.“ Er nimmt sie beim Schwanz und hebt sie hoch. „Sie hat jetzt Kreuzweh, das verhindert Wutreaktionen“, sagt er lächelnd. Dann greift er ihr an den Hals: „Alles ganz einfach.“

Schon als Kind habe er seine erste Schlange gefangen und sofort geliebt. Heute liebt ihn sein Dorf. Verirrt sich ein Reptil in ein Haus, wird er gerufen: „Man muss den Menschen beibringen, dass Schlangen ihren Sinn haben. Je weniger es von ihnen gibt, umso größer ist die Rattenplage.“

Und er rechnet vor: „Ein Rattenpaar kann sich innerhalb eines Jahres auf 880 Exemplare multiplizieren. 25 Prozent der indischen Getreide- und Reisernte werden von Ratten verzehrt. Das ist die größte Ernährungskrise Indiens. Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wie es bei uns aussähe, wenn es keine Kobra gäbe.“

Am Stadtrand von Kolkata lebt Mobaraks Guru, der berühmte Schlangenfachmann Deepak Mitra. Seit Regierungsbeamte die Tiere seines Schlangenparks beschlagnahmt haben, ist der weit über 70-jährige lebenslange Schlangenfreund schlechter Stimmung. Der Park war 42 Jahre lang in Betrieb: „Ich habe in meinem Leben an die 500 Kobras und mindestens 28.000 andere Schlangen gefangen. 19-mal wurde ich von Kobras gebissen, ich bin also mittlerweile immun.“

Schlangenbisse waren stets ein mentales Problem, meint Deepak, das Tier galt von Anfang an als böse. „Das ist es aber nicht. Beißt eine Kobra, heißt das nur, dass sie selbst Angst hat.“ Deepaks Basisargument: „Der Allmächtige hat alles richtig gemacht.“

Frau, Kind, Indien Foto: Palani Mohan
Alltag im Schlangendorf – überall können die Schlangen lauern.

Heute ist Manasa Devi Puja, das Fest zu Ehren des Schlangengottes. Bereits um fünf Uhr morgens stehen Holzbuden mit Süßigkeiten und ein Karussell auf den Wiesen. Der Himmel hat noch einen rosa Film, aber die energetische, von Tablas getriebene Hindi-Musik plärrt in voller Lautstärke. Dolmetscher Utsab wartet bereits. Vor dem Fest will er uns noch seine Mutter vorstellen. Sie heißt Anuradha und ist Witwe. Ihr zwei Gassen hinter dem Tempel gelegenes Haus ist groß, es hat ein Obergeschoß. „Wir sind Brahmanen“, erklärt Utsab, „das ist die oberste Kaste.“

Die Schuhe werden ausgezogen, es geht in ein Zimmer mit Fotos von Familienmitgliedern an den Wänden. Utsabs Bett dient als Sofa. „Gestern kroch eine Jhaenglai unters Bett“, erzählt er locker. „Ich war froh darüber, weil wir eine Maus hatten. Wahrscheinlich liegt die Schlange immer noch herum.“ Frau Anuradha ist eine Zugereiste, sie hat in das Dorf geheiratet. Wie kommt sie mit den Schlangen zurecht? Anfangs war sie panisch, sagt sie, „aber heute denke ich, es ist Schicksal, wenn du gebissen wirst. Man kann seinem Schicksal nicht entkommen.“

Um sechs Uhr soll es losgehen. Als Höhepunkt werden zwei Ziegen geopfert, dann wird eine Jhaenglai im Tempel gesegnet. Und wenn keine kommt? „Es kommt immer eine“, sagt Utsab und lächelt.

Die Prozession zum prunkvoll verzierten Tempel erfolgt streng nach der Kasten-Hierarchie. Hohepriester Shyamal Chakraborty, in feine Gewänder gekleidet, steht eingangs des Tempels und gibt ein freundliches Zeichen. Der erste Zug aus teuer gekleideten Brahmanen erreicht unter Trommelwirbel den Tempel. Riesige Schüsseln mit fein dekorierten Speisen darauf werden vor einer schwarzen Statue, die symbolisch für die Gottheit Jhankeshwari steht, dargebracht, mit Honig gesüßte Milch wird in eine neben der Statue befindliche Rinne gegossen und unten wieder aufgefangen.

Die Prozession der Dalits, der untersten Kaste des Landes, kommt zuletzt. Indien ist ein bizarres Land. In jedem Lebewesen kann eine Gottheit stecken, aber zwischen den Menschen herrschen derbere Mechanismen. Ein Dalit wird immer ein Dalit bleiben: ein Unberührbarer, dessen Chance auf Verbesserung erst im nächsten Leben kommt.Dennoch fällt auf, dass zwischen den Kasten des Dorfes Respekt herrscht. Die Monokelkobra scheint der gemeinsame Nenner zu sein.

Gegen Mittag erscheint tatsächlich eine, im Graben neben dem giftgrünen Tempelteich schlängelt ein stattliches Exemplar heran. Priestersohn Nayan hebt sie auf, bringt sie zum Tempel und hält sie nahe an den Kopf der Jhankeshwari-Statue, wo Hohepriester Shyamal sie segnet.

Die Dörfer der schwarzen Kobra haben ein gutes Jahr vor sich.

Monokelkobra, Giftschlange, Schlange, Kobra Foto: Palani Mohan
Monokelkobra

Monokelkobra (Naja kaouthia)

  • Familie: Giftnattern (Elapidae)

  • Gattung: Echte Kobras (Naja)

  • Merkmale: Nicht aggressiv, aber hochgiftig. Fühlt sie sich bedroht, richtet sie ihren Vorderkörper auf, spreizt den Nackenschild und beißt dann zu.

  • Lebensweise: Dämmerungs- und nachtaktiv, lebt am Boden. Ernährt sich von Fröschen, Vögeln, anderen Schlangen und Kleinsäugern (Ratten). Fortpflanzung durch Eier (Gelegegröße bis 45 Stück).

  • Schlangengift: Wirkt als sogenanntes postsynap­tisches Neurotoxin mit starken ­gewebezerstörenden Eigenschaften. Schmerzen und Schwellungen nach dem Biss, es folgen Benommenheit und Lähmungserscheinungen.

  • Gefahr: Ohne rettendes Serum sterben ein bis zehn Prozent der gebissenen Menschen, meist innerhalb von 10 bis 24 Stunden, an Atemlähmung.

Der leise Tod

Schlangenbisse sind Indiens versteckte Volkskrankheit. In indien leben 1,3 Milliarden Menschen und 65 Arten von Giftschlangen. Der Biss von 15 ist tödlich. Kollisionen der überwiegend ländlichen Bevölkerung mit den Tieren sind unvermeidlich: Die Chance, vor dem Erreichen des 70. Lebensjahres gebissen zu werden, liegt bei 1 zu 250.

Dieses Gesundheitsproblem epidemischen Ausmaßes wurde lange diskret behandelt. Genaue Zahlen waren bis zum Anfang des Jahrtausends unbekannt. Erst dann führte die Regierung (gemeinsam mit dem Centre for Global-Health Research, Toronto) eine landesweite Umfrage durch.

Die neuesten Zahlen: Indien beklagte von 2000 bis 2019 jährlich 58.000 Todesopfer bei jeweils rund einer Million Schlangenbissen.

Der indische Herpetologe Romulus Whitaker, Begründer des Chennai Snake Parks, hat in Feldforschungsarbeiten eine Zuordnung eruiert:

  • Es führt die Kettenviper (verantwortlich für 50 Prozent der Todesfälle) vor

  • Brillenschlangen/Kobras (30 Prozent) und

  • Sandrasselottern (10 Prozent).

Eine Verbesserung der Situation, so Whitaker, könne nur Aufklärung erreichen. Klar sei, dass die Schlangen dennoch geschützt werden müssen: Der Kontinent brauche sie.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, Winter 2021.

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