Der Schuhschnabel: „Hallo, ihr schrägen Vögel!"

WER HUNGER HAT, MUSS SCHNELL SEIN. Einen kurzen Moment nur kräuselt sich die Wasseroberfläche, und schon sind die Fische wieder verschwunden, abgetaucht im trüben, undurchsichtigen Sud. Ich kenne das Spiel. Wer unkonzentriert ist oder zögert, kriegt nur Kraut in den Schnabel. Passiert mir selber noch oft genug, obwohl ihr mir glauben könnt: Die Jagd liegt in meinen Genen, und ich übe seit Jahren.
Der Trick ist, ein Gespür für den Rhythmus der Beute zu kriegen. Die Fische kommen nach oben, um Luft zu schnappen, und je mehr da unten herumschwimmen, desto öfter kommt einer rauf – eine simple Rechnung. Den richtigen Moment im Voraus zu erahnen, das ist die Kunst.


Aber ihr Menschen beherrscht diese Fertigkeit anscheinend nicht. Keiner von euch wartet geduldig am Ufer, selbst wenn sich dort massenhaft schmackhafte Welse tummeln. Fairerweise muss ich sagen: Fische fangt ihr trotzdem, Kompliment! Diese in der Sonne glitzernden Gespinste, die ihr Netze nennt, sind schon eine kluge Idee. Wer keinen richtigen Schnabel hat, muss sich halt etwas einfallen lassen.
Ich frage mich nur, warum ich euch nie fressen sehe. Alles, was ihr fangt, tragt ihr fort. Ihr müsst viele Junge haben, nur: Wo versteckt ihr sie? In euren Nestern hocken sie offenbar nicht.
Apropos Nester: An meine eigenen Eltern erinnere ich mich kaum. Ich konnte noch nicht fliegen, als mich einer von euch im Schilf einfing, unter die Achsel klemmte und wegschleppte. Tagelang hielt dieser Nesträuber mich eingesperrt: Ich hatte Schmerzen, wenig Platz und dauernd Durst, vom ständigen Hunger ganz zu schweigen.



Glücklicherweise kamen bald auch andere von eurer Sorte, die waren Teil des Schuhschnabel-Schutzprojekts der Organisation African Parks. Sie brachten mich vorsichtig zu einem großen Nistplatz und fütterten mich, bis ich satt war. Jeden Tag. Einer von euch war besonders nett zu mir. Er trug stets eine Art Umhang, damit ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Keine Ahnung, wofür das gut war – aber kein Problem für mich: Ich rieche ausgezeichnet und wusste immer, dass mein neuer Freund unter dem Umhang steckte.
Bei ihm ging es mir wunderbar. Ich bekam reichlich Fisch, wuchs heran und wurde kräftig. Mit dem verhüllten Burschen entstand eine echte Freundschaft, obwohl ich sonst ein misstrauischer Einzelgänger bin. Mein Freund trug seinen seltsamen Umhang auch nicht immer. Es war für mich erstaunlich, wie hell seine Haut und diese Federbüschel auf seinem Kopf waren. Die allermeisten von euch sind ja dunkelhäutig, noch dunkler als die Antilopen, die hier im Norden rund um die Bangweulu-Sümpfe leben.



Nun ja: Meinen Lebensretter habe ich schon lange nicht mehr gesehen – leider. Vielleicht wurde er von einem Krokodil erwischt. Diese Mistviecher scheinen ja echt überall zu sein, und sie sind Meister im Tarnen. Einmal kurz nicht aufgepasst, und du wirst ihr Futter. Doch gerade als ich ein bisschen traurig war, tauchte mein Freund wieder auf, zumindest: Dieser Mensch sah aus wie er, und er roch auch beinahe so. Er bewegte sich auch wie mein Freund, obwohl er mich dabei nicht fütterte, sondern durch einen schwarzen Kasten betrachtete. Insgesamt war er nett und harmlos, deshalb ließ ich ihn auch so nah an mich heran wie meinen Freund, und wir schauten uns immer ganz ernsthaft in die Augen.
Sollte ich je dem Menschen begegnen, der mich Schuhschnabel getauft hat, werde ich ein ernstes Wort mit ihm wechseln. Mit dem Balaeniceps rex der Ornithologen fange ich mehr an: Ein König ist jeder gern.
Herr Schuhschnabel echauffiert sich
Kürzlich habe ich meinem neuen menschlichen Begleiter den roten Himmel gezeigt, mit Streifen am Horizont, und ihm erklärt: Jetzt kommt die Regenzeit. Klar, die Welse waren in den vergangenen Monaten bei Niedrigwasser einfach zu finden. Aber wenn die Steppe wieder unter Wasser steht, treffen sich die Welse zum Laichen. Da wird’s für uns Fischfresser noch einfacher.
Abgesehen davon liebe ich den Regen. Herrlich, wie er übers Gefieder perlt, Staub und Schmutz wegspült, Abkühlung bringt. Ich koste das richtig aus: Ich schließe die Augen und höre die Schauer über den Papyrus niederrauschen, ab und zu rollt der Donner über die Ebene. Ihr Menschen nehmt dann Reißaus und rennt zu euren Nestern, als hättet ihr Angst vor dem Wasser. Aber ich muss ja nicht alles verstehen.
Nach der Regenzeit, im April, beginnt der Ernst meines Lebens – die Brutsaison. In einem anfangs noch schwimmenden, aus Papyrusstängeln und anderen Pflanzen gebauten Nest legt meine zeitweilige Partnerin – die übrigens aussieht wie ich – zwei Eier. Von den Küken, die wir beide abwechselnd bebrüten, überlebt meistens nur eines die ersten Wochen, das ist bei uns leider so. Nach etwa drei Monaten wird das Junge flügge, und ich kann wieder mein Single-Leben genießen.

Ich bin kein großartiger Aeronaut – das haben Untersuchungen von African Parks ergeben, die manche meiner Kollegen mit winzigen Funksendern erforschen. Ausflüge zum großen See mache ich jedoch gern: Wenn der Wind günstig bläst, trägt mich die Luft mühelos nordwärts. Ich lande dann auf einer kleinen Insel in der Flussmündung und stochere im Schlamm ein wenig nach Buntbarschen, die dort auf Insekten lauern.
So ist es mir am liebsten: Ein, zwei Treffer pro Tag machen mich satt. Ich bin nicht der Typ, der auf der Jagd sinnlos Energie verschwendet. Kraft braucht man für wesentlichere Dinge, etwa die Flucht vor Nilpferden. Diese Riesenviecher mit ihren Narben am Körper sind harmlos, doch sie tauchen trotz ihrer Größe so unvermittelt auf, dass man erst im letzten Moment zur Seite hüpfen kann. Noch dazu vertreiben sie die Fische…
Kulinarische Ausflüge in den Nilpferd-Norden bleiben aber ohnehin die Ausnahme. In meinem Schilfparadies gibt es alles, was ich liebe, ich brauche keine spezielle Abwechslung. Ein wenig durch den seichten Kanal staksen, ein paar Schlangen aufscheuchen, das reicht. In diesem Sinn: Habt einen guten Fang, und passt auf euch auf – die Krokodile sind immer hungrig!
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 3/2018.

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