Pumas: Die Geister Patagoniens

Das Wetter war wieder einmal viel zu schlecht für gute Fotos. Dicke Wolken versperren den Blick auf die Berge, und der Wind rüttelt an den Stativen, sodass jedes Bild verwackelt wäre.
Unter solchen Umständen machte es für Ingo Arndt keinen Sinn mehr, weiterhin auf den Anblick eines Guanakos zu warten. Diese Tiere sind die wilden Verwandten der Lamas, und um sie zu fotografieren war der renommierte Naturfotograf hierher in den Süden Chiles gekommen, in den Nationalpark Torres del Paine. Also packte Arndt seine Ausrüstung zusammen und machte sich im klapprigen Jeep auf die Fahrt zurück zum Zelt. „Als wir noch darüber witzelten, ob es unser Camp davongeweht hat, bemerkte ich im Gestrüpp links von der Schotterpiste eine Bewegung. Ich bremste leicht ab, und plötzlich liefen drei Schatten direkt vor uns über den Weg.“ Gleich darauf verschwanden die Erscheinungen wieder in der dichten Mata-Negra-Vegetation neben der Fahrbahn.
Arndt reichte der kurze Anblick der Schemen, um zu wissen: Das war ein Puma-Weibchen mit ihren Jungen. Er wusste auch, dass er soeben dem Zauber dieser Wesen erlegen war. „Ich beschloss noch im Auto, dass ich irgendwann wiederkommen würde, um den Pumas zu folgen, um ihr Leben umfassend zu dokumentieren.“
Was Arndt damals noch nicht ahnen konnte: Soeben hatte er ein Projekt begonnen, das ihn 17 Jahre lang verfolgen sollte – und dass er einem dieser Tiere einmal die spannendsten viereinhalb Sekunden seiner Karriere verdanken würde.
Jahrelang spukten die Pumas in Arndts Hinterkopf, doch die Hürden waren hoch. Es sei kaum möglich, die Tiere zu porträtieren, sagten ihm alle, denen er von seiner Ambition erzählte. Denn Pumas, so bekam er zu hören, seien in der Lage, sich in der Landschaft praktisch unsichtbar zu machen – wie Geister. Eine schwierige Materie also für einen Fotografen. Genau deshalb gab es lange Zeit nur Einzelbilder und kein umfassendes Porträt dieser Spezies.
Ingo Arndt aber wollte wissen: Wie sieht es aus, wenn Pumas jagen? Was passiert, wenn die einzelgängerischen Tiere bei Revierkämpfen aufeinandertreffen? Wie werben sie umeinander, wie paaren sie sich? Wie ziehen sie ihre Jungen groß?

Vor vier Jahren dann endlich der Startschuss, Arndt brach wieder auf zum Nationalpark, mietete einen baufälligen Verschlag als Basislager und engagierte zwei routinierte Fährtenleser aus der Gegend. Täglich brachen die Männer noch vor Sonnenaufgang auf, zogen über Hügel und Berge, durchkämmten das dichte Gebüsch, patrouillierten an Seeufern, inspizierten die Geröllhänge und Bergflanken.
Pumas, das wissen die Männer, sind zwar die viertgrößten Katzen der Welt, sind aber mit unseren Hauskatzen eng verwandt. Entsprechend verbringen sie auch ihre Tage: dösend – und gutversteckt. Hatte das Team also trotz dieser Erschwernis ein Tier entdeckt, galt es, auf die Dämmerung zu warten, denn erst dann brechen die Tiere auf zur Jagd.
Eiskalter Jäger
Manchmal musste das Team stundenlang ausharren, bei bis zu minus 15 Grad. „Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Stunden ich frierend hinter Felsen gehockt bin“, so Arndt. Wenn es ganz schlimm wurde, zog er sich zum Aufwärmen in ein auf der nächstgelegenen Schotterpiste geparktes Fahrzeug zurück. Der Jeep, den Arndt in diesen ersten Wochen nutze, hatte immerhin eine Sitzheizung. „Um mich zu wärmen, hätte ich aber den Motor anlassen müssen“, so Arndt. „Doch der Lärm hätte die Pumas vertrieben.“ Also harrte er aus, mit kaltem Hintern.
Selbst solche Opfer brachten nicht immer den erhofften Erfolg. Dann nämlich, wenn ein ausgeschlafener Puma unvermittelt aufstand, sich nach Katzenart reckte und streckte – und sich dann so zügig davonmachte, dass Arndt mit seiner 15 Kilogramm schweren Fotoausrüstung schlicht nicht folgen konnte.
Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Stunden ich frierend hinter Felsen gehockt bin.
Ingo Arndt, Tierfotograf, über die Mühsal einer Puma-Pirsch
Rückschläge wie diese erwiesen sich dennoch als Segen für das Team, zumindest in der Rückschau. „Diese erste Winterreise schweißte uns zusammen“, erinnert sich Arndt. Und als er nach vier Wochen abreiste, hatte er immerhin so viele Bilder geschossen, um Partner für weitere Expeditionen gewinnen zu können und Sponsoren, etwa den Sportartikelhersteller Puma. In den folgenden Jahren kehrte Arndt siebenmal nach Patagonien zurück, jedes Mal blieb er einen Monat für die Pirsch auf den Puma.



Einmal erzählten ihm die Fährtenleser von einer Katze, die sie schon mehrfach am Ufer des Sarmiento-Sees beobachtet hatten. Das war ungewöhnlich; üblicherweise sind Pumas in ihren Revieren auf unvorhersehbaren Routen unterwegs, Lieblingsplätze scheinen sie nicht zu kennen. Was also war mit diesem Weibchen los? Arndt und seine Helfer pirschten sich an, immer gegen den Wind, damit das Tier sie nicht wittern würde.
Der erste Anblick
Als sie die Katze fanden, lag diese friedlich auf einem sonnenbeschienenen Felsen am Seeufer, umspielt von zwei Jungtieren. „Die hatte sie vermutlich zuvor in einer der Höhlen ringsum zur Welt gebracht“, so Arndt. Weil der Nachwuchs noch nicht richtig mobil war, fanden die Fährten-leser das Muttertier so häufig am Ufer.
Von da an konnte Arndt die Katze, von den Fährtenlesern Sarmiento genannt, öfter beobachten. Er konnte verfolgen, wie die Jungen kräftiger, beweglicher und mutiger wurden. Einmal, als sie schon fast ausgewachsen waren, lief eines der beiden Tiere auf Arndt zu und legte sich nur wenige Meter von ihm entfernt ins Gras. „Offenbar war ich zuvor behutsam genug vorgegangen, um die Katzen nicht zu irritieren“, so Arndt. Rund 30 magische Minuten schenkte der Jung-Puma seinem Betrachter, dann trollte er sich wieder.
Ausgewachsene Pumas sind bis zu zweieinhalb Meter lang, Männchen wiegen bis zu 75 Kilogramm. Angeblich können sie aus dem Standfünf Meter hoch in eine Baumkrone springen.
Es ist gut möglich, dass ich in Patagonien einer Raubkatze näher gekommen bin, als ich wollte.
Ingo Arndt, Tierfotograf
Was also dachte sich Arndt, als der Puma auf ihn zusteuerte? Nun ja, die Körpersprache der Katze hatte nicht Angriffslust, sondern entspannte Neugierde signalisiert. Und eigentlich ist von den Pumas bekannt, dass sie Menschen nicht angreifen. Trotzdem sei er prinzipiell schon vorsichtig gewesen, erzählt der Naturfotograf, er habe immer einen Sicherheitsabstand eingehalten. Wirklich immer? Ganz gewiss kann sich Arndt da nicht sein. „Bei einer Tour sind wir einem stattlichen Puma gefolgt. Da lief das Tier in eine buschbestandene Senke – und verschwand vor unseren Augen“, so der Fotograf. „Da musste ich daran denken, dass ich zuvor schon oft arglos durch solche Senken marschiert war. Gut möglich, dass ich dabei einer Raubkatze näher gekommen bin, als ich wollte.“ Was gefährlich gewesen wäre. Denn die Pumas in Patagonien verhalten sich ein wenig anders als die Pumas im Rest der Welt.
Eroberer auf Samtpfoten
Nach Amerika gelangen die Vorfahren dieser Katzenart vor rund acht Millionen Jahren, über die damals bestehende Landbrücke zwischen dem nordöstlichsten Zipfel Asiens und dem nordwestlichsten Zipfel Amerikas, dem heutigen Alaska. Rasch erobern die Tiere ganz Nordamerika. Und als dann vor rund 2,8 Millionen Jahren eine Landbrücke nach Südamerika entsteht, breiten sich die Pumas aus bis ganz in den Süden.
Jetzt ein großer Zeitsprung: Vor 11.000 Jahren endet die letzte Eiszeit, und die ersten Menschen erreichen Nordamerika. Sie und die rasante Klimaerwärmung verursachen einen dramatischen Artenschwund: Große Tiere wie das Präriemammut, das Amerikanische Mastodon und die Säbelzahnkatze sterben aus. Auch die Pumas verschwinden – zumindest aus Nordamerika. In Südamerika aber überdauern sie. Und als sich die Lage wieder stabilisiert, erobern sie Nordamerika ein zweites Mal, diesmal vom Süden her.
Wo immer diese Tiere hinkommen, passten sie sich im Laufe der Jahrtausende der Landschaft an, ebenso dem Wetter und dem Angebot an Beutetieren. Und in jedem Lebensraum finden Menschen für diese großen Katzen einen anderen Namen. Insgesamt soll es 40 „Puma“-Synonyme geben, mehr als für jedes andere Lebewesen. Das Wort „Puma“ selbst stammt vermutlich aus einer Quechua-Sprache in Peru: Es bedeutet „mächtig“, „stark“.
Heute tragen Pumas je nach Region helleres oder dunkleres Fell, manche sind größer, manche sind kleiner. Bis in die 1980er-Jahre unterschieden Großkatzenexperten großzügig 32 Puma-Subspezies. Dann zeigten Erbgutanalysen, dass es tatsächlich nur zwei Subarten gibt. Beide sind eng verwandt mit jener Population, die das Ende der Eiszeit in Südamerika überdauert hatte.

Trotz ihrer Anpassungsfähigkeit sind Pumas heute wieder aus dem größten Teil Nordamerikas verschwunden. Schaf- und Rinderzüchter haben sie ausgerottet, nicht aus Angst ums eigene Leben, sondern aus Sorge um ihre Herden.
Aber sind die Raubtiere für den Menschen wirklich so ungefährlich? Das glauben und glaubten viele. Auch ein gewisser Theodore Roosevelt ging davon aus. Der ehemalige US-Präsident und Naturliebhaber schrieb über die Tiere, sie wären dem Menschen gegenüber „feige“, und ihre Scheu sei in vielen Regionen sprichwörtlich. Doch während seiner Expedition durch Südamerika in den Jahren 1913 und 1914 begegnete er dem argentinischen Geografen Francisco Moreno. Der trug eine markante Narbe im Gesicht, die von einem Puma stammte. Offenbar, so Roosevelt, gebe es auch unter Pumas versprengte Exemplare, die dem Menschen gefährlich werden könnten. Schauplatz des historisch verbürgten Puma-Angriffs: Patagonien. Genauer: das Ufer des Lago Viedma, vom Lago Sarmiento gerade einmal 160 Kilometer entfernt.
Womit wir wieder in Ingo Arndts Revier wären. In den Wochen und Monaten seines Aufenthalts waren ihm schon einige nie zuvor gesehene Bilder gelungen: Pumas beim Fressen. Pumas beim Anbändeln. Pumas bei der Paarung. Pumas mit Jungtieren. Doch ein Motiv fehlte Arndt noch: die Jagd auf ein Guanako.
Glück und Pech bei der Jagd
Pumas pirschen sich möglichst nahe an ihre Beute heran, immer um perfekte Tarnung bemüht – das macht es so schwierig, sie zu beobachten. Als die Fährtenleser einmal die Puma-Dame Sarmiento alleine vorfinden, wissen sie, dass sie den Nachwuchs zurückgelassen hat, um ungestört auf Jagd gehen zu können. Die Männer folgen ihr den ganzen Tag. Und sie sehen, dass sie sich einer Guanako-Herde nähert.
Auch ein Guanako-Hengst bemerkt die Katze und stößt seinen Warnruf aus. Die Herde nimmt Reißaus, nur der Warner selbst bleibt zurück.
Sarmiento rührt sich nicht, sie wartet ab. Arndt und seine Helfer verteilen sich im Gelände, um die Tiere nicht aus den Augen zu verlieren, und bleiben über ihre Funkgeräte in Kontakt.
Der Guanako-Hengst grast, scheint den Puma zu vergessen. Wo ist Sarmiento? Sie schleicht näher. Funkspruch an Arndt: „Noch zehn Meter!“ Der Fotograf hebt sein großes Teleobjektiv, fokussiert auf den Hals des Guanakos. Da stürmt Sarmiento wie aus dem Nichts heran, Arndt drückt den Auslöser, lässt nicht mehr los. Alles geht rasend schnell vor sich – dann stürmt das Guanako davon, Sarmiento bleibt verdattert zurück.





Jagdszenen mit Pumas mitzuerleben ist ein rares Erfolgserlebnis. Die viereinhalb Sekunden in Patagonien haben sich für mich zum perfekten Moment verdichtet, von dem nur wenige Tierfotografen am Ende ihres Lebens erzählen können.
Ingo Arndt, Tierfotograf
Arndt prüft seine Bilder und sieht, dass er in den vorangegangen viereinhalb Sekunden das vollendet hat, wovon er seit jener Begegnung 17Jahre zuvor geträumt hatte: Pumas zu porträtieren, in allen Lebenslagen – auch bei der Jagd.
Die genauere Analyse der Aufnahmen am Abend zeigt den Ablauf des kurzen Kampfes: Das Guanako hatte sich beim Angriff blitzschnell um die eigene Achse gedreht, und Sarmiento konnte ihren tödlichen Biss nicht anbringen. „Pumas jagen ihrer Beute nicht hinterher, für langes Laufen fehlt ihnen die Ausdauer“, erklärt Arndt. „Jeder Angriff kostet sie enorm viel Kraft.“
Deshalb ist er auch skeptisch, wenn er von hingemetzelten Schafherden in der Region hört. Solche Legenden sind die größte Gefahr für die Pumas, sie begründen den Hass der Viehzüchter, die unverhohlen mit ihren Jagderfolgen auf die Pumas prahlen. Ist es nicht verständlich, wenn die Rancheros ihre Herden beschützen wollen? Prinzipiell schon, sagt Arndt, aber: „Die Pumas waren vor ihnen da.“

Nur im Nationalpark können sich die Großkatzen ungestört vermehren. Hier stehen sie unter strengem Schutz – und Guanakos gibt es auch. Schon bieten regionale Veranstalter Reisen zu den Pumas. Die Zahl der Puma-Fotos wird in den kommenden Jahren also steigen. Aber Bilder wie die von Ingo Arndt werden nicht darunter sein.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 2/2019.

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