Genua: Ein Aquarium für den Schutz der Ozeane?

Sie ist spät dran heute Morgen, da wir er mies gelaunt sein, das ist immer so. Vorsichtig öffnet Natalia Perez den Deckel des Tanks, dessen Innenseiten mit Kunstrasen ausgelegt sind. Eine Vorsichtsmaßnahme, „sonst würde er ausbüxen“, meint die Biologin. „An den Plastikhalmen haften seine Saugnäpfe nicht, da kommt er nicht hoch.“
Er: Das ist der einzige Oktopus im Aquarium von Genua, und er schießt seiner Pflegerin zur Begrüßung jetzt erst einmal einen Schwall Wasser ins Gesicht – offenbar nehmen es Kraken ihren Betreuern tatsächlich übel, wenn das Frühstück zu spät serviert wird. Immerhin gibt es sein Lieblingsessen – Sardinen und Muscheln aus einer Lunchbox, auf die jemand mit Edding „polpo“ geschrieben hat. Nacheinander legt Perez sie ans Ende der Tentakel, der Oktopus lässt sie von Saugnapf zu Saugnapf bis zu seinem Mund wandern. Nach der fünften oder sechsten Portion ist genug, die nächste Sardine sinkt unbeachtet zu Boden.
Neben den Delfinen und den Robben ist der Oktopus wahrscheinlich der intelligenteste Bewohner des Aquariums. Wäre sein Becken nicht akribisch verschlossen, würde er ausbrechen und versuchen, die Seepferdchen im Bassin nebenan zu fressen. Oktopoden sind dabei beobachtet worden, wie sie die Deckel von Aquarien öffnen und nach ihrer Rückkehr wieder verschließen, als sei nichts passiert: Ich? Im Becken nebenan? Wie kommt Ihr denn darauf?! Außerdem scheinen Oktopoden beinahe menschliche Gefühlsregungen zu kennen.
Sie können beleidigt sein, ungeduldig, erfreut. Und offenbar auch jähzornig, sonst bekäme Perez jetzt nicht den nächsten Schwall Wasser ab: Nach dem Frühstück ist nämlich traditionell Spielzeit, und das Vorspiel hat dem Kraken jetzt schon wieder entschieden zu lange gedauert. „Manchmal ist er bockig wie ein kleines Kind“, meint die Biologin, verschließt eine Muschel in einer kleinen Dose mit Schraubdeckel und legt sie ins Wasser. Zwei Minuten später hat der Oktopus sie geöffnet. Die Muschel interessiert ihn nicht, er ist ja satt. Dose und Deckel stößt er mit seinen Tentakeln Richtung Wasseroberfläche – für die nächste Spielrunde.


09:50
Als Besucher eines Aquariums bewundert man ja nur das, was in den erleuchteten Becken und Bassins zu sehen ist, Oktopus und Piranha, Qualle und Koralle und all die bunten Fische. Erwachsene tagträumen vor dem hypnotischen Ballett der Quallen, Kinder lachen über vermeintlich tollpatschige Pinguine oder fragen, ob sie sich zu Weihnachten eine kleine Seekuh für den Gartenpool wünschen können – doch, die würde da hineinpassen, ganz bestimmt. Kaum ein Besucher macht sich je Gedanken darüber, dass hinter den Becken und Bassins noch einmal eine andere Welt liegt. Eine verborgene, eine hochkomplizierte. Ein minutiös getakteter Apparat aus Hightech und Manpower. Eine Welt, in der das Herz des Aquariums schlägt.
Das Acquario di Genova ist europaweit das größte seiner Art: 12.000 Bewohner, 400 Tier-und 200 Pflanzenarten, insgesamt 11 Millionen Liter Wasser in über 70 Tanks. Hinter den überschaubaren Lebensräumen der Tiere liegen unübersichtliche Gänge über Metallplanken, Leitern und Stufen, Tunnel voller Kabelstränge, Leitungen und Ventilationssysteme. Hier befinden sich die Labors der Institution, die Vorratsräume und die Gefrierkammern.
In dieser Welt hinter den Becken und Bassins arbeiten bis zu 250 Mitarbeiter, Techniker, Elektriker, Tiermediziner, Biologen. Vor allem aber walten hier eine ungeheuer komplexe Logistik sowie eine geballte Ladung an wissenschaftlicher Neugier. Und – auch wenn die meisten dies wahrscheinlich nicht zugeben würden – eine gewisse Zuneigung für Meereslebewesen, die sonst eher übersehen werden.

Ivano Bernini will Fische füttern. Er steht auf dem Dach des Aquariums in der Sonne und öffnet die Tür zu einem kleinen Turm. Hinter der Tür befindet sich das obere Ende einer Glassäule, die ein komplettes Stockwerk nach unten reicht. Hier oben ist nur Wasser, weiter unten in der Säule – dort, wo die Besucher in sie hineinsehen können – haben die Einrichtungsexperten des Aquariums den Lebensraum „Steilklippe am Mittelmeer“ nachgebaut, die Heimat scharfzahniger Muränen und giftiger Skorpionfische.
Man denkt, Fische füttern sei einfach, Deckel auf, Futter rein, Deckel zu; aber das, meint Bernini, verbietet sich bei bestimmten Arten: „Muränen fressen nur, was ihnen direkt vor die Nase serviert wird. Skorpionfische ebenfalls.“ Deshalb holt er jetzt ein langes Rohr aus dem Turm. Und ein Walkie-Talkie. In das Rohr kommen Futterportionen, aus dem Walkie-Talkie die Stimme einer Kollegin. Die steht unten an der Säule und funkt Kommandos nach oben wie „Viel weiter links!“ oder „Einen halben Meter höher!“. Für die dreizehn Fische benötigt Bernini eine anstrengende Viertelstunde. Immerhin müssen sie nur einmal täglich gefüttert werden.


10:30
Das Acquario di Genova wurde anlässlich der Expo ’92 vom Genueser Stararchitekten Renzo Piano entworfen und bildet heute den architektonischen Mittelpunkt des Porto Antico, des alten Hafens der ligurischen Stadt. Über eine Million Tickets werden jährlich verkauft; das Aquarium gehört zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten Italiens. Von außen erinnert das Gebäude an ein vor Anker liegendes Schiff, und tief unten im Rumpf dieses Schiffes sitzt Edith Canepa mit einer Tube Klebstoff in der Hand und muss sich konzentrieren. Gerade eben hat die Biologin mit einer Zange mehrere Stücke von einer Koralle abgebrochen. Jetzt klebt sie die größeren auf Steine und die kleinen in Plastikdübel; und als alles fest sitzt, wirft sie ihre Bastelarbeit in einen der Tanks, die überall in ihrer Werkstatt stehen.
Und? Was war das jetzt? Vervielfältigung, meint Canepa, sie habe soeben neue Korallen gemacht. „Die kleinen Stücke werden allmählich aus den Dübeln herauswachsen. Irgendwann sind sie so groß, dass man sie ebenfalls auf Steine kleben kann. Da wachsen sie dann weiter. Irgendwann bilden sie einen Korallenstock, dann eine kleine Kolonie. Die kommt dann in unsere tropische Lagune.“ So einfach ist das? „So einfach ist das.“
Und wenn das viele Menschen so machen würden, sehr viele, tausende – dann könnte man doch überall auf der Welt neue Riffe entstehen lassen, oder? Stimmt, sagt Canepa, das könne man. „Es würde aber keinen Sinn ergeben. Weil diese neuen Riffe ebenso absterben würden wie die, die jetzt schon in den Meeren eingehen. Was wir ändern müssen, sind die Umweltbedingungen. Wenn die stimmen, können wir aufforsten.“

12:00
In besagter tropischer Lagune hält Roberto Moresco ein Blatt Papier in der Hand und nickt zufrieden: Alles bestens, die Daten aus der Analyse sind einwandfrei. Wer Korallen züchtet, muss auf die Wasserqualität achten; die Organismen reagieren äußerst empfindlich, wenn sich bestimmte Parameter verschieben. Das Aquarium bezieht sein Wasser via Pipeline aus dem offenen Meer; es wird mehrmals gefiltert und in einem Kontrollzentrum rund um die Uhr überwacht. Ammonium, pH-Wert, Nitrite, Nitrate, Phosphor – bei starken Abweichungen schließt das Aquarium die Pipeline und greift auf Wasser aus den Vorratstanks zurück.
Oder besser: Das Aquarium würde das machen. „Habe ich aber noch nicht erlebt“, meint Moresco, offenbar ist das Meer vor Genua ziemlich sauber. Er legt den Bericht mit den Wasserwerten auf den Schreibtisch und zieht Neoprenanzug und Tauchschuhe an. „Showtime!“, meint er, wie jeden Tag.
Draußen vor der tropischen Lagune wartet eine Schulklasse. Der wird er gleich erklären, dass vor allem die Erwärmung der Meere schuld sei am weltweiten Korallensterben. Dass Verschmutzung und Überfischung den Effekt noch verstärken, dass es irgendwann einmal vielleicht keine intakten Riffe mehr geben wird. Nirgendwo.
Da draußen sterben die Ozeane – und wenn nicht wir die junge Generation für den Schutz der Meere sensibilisieren, wer sonst sollte es tun?
Emanuela Ratto, Chefin der Kommunikationsabteilung
14:20
Wissen vermitteln, Interesse wecken, Bewusstsein schaffen: Der pädagogische Auftrag ist eine wichtige Antriebsfeder des Acquario di Genova. Unter den Besuchern sind sehr oft Schulklassen und überhaupt viele Kinder, und das möchte – ach was: Das muss man einfach nutzen, oder? „Da draußen sterben die Ozeane – und wenn nicht wir die junge Generation für den Schutz der Meere sensibilisieren, wer sonst sollte es tun?“ Das kommt von Emanuela Ratto, der Chefin der Kommunikationsabteilung. Ihr Team sorgt dafür, dass die Arbeit des Aquariums bekannt wird. Es soll draußen nicht der Eindruck entstehen, dieses Ding im alten Hafen sei nichts anderes als ein Ort zum Fischeschauen.
50 Lehrpräsentationen stehen in einer normalen Woche auf dem Programm, von der kommentierten Haifütterung bis zum wissenschaftlich begleiteten Rochenstreicheln am Planschbecken. „Viele Besucher wissen nicht, dass wir das alles anbieten. Wenn man will, kann man bei uns von einem Vortrag zum nächsten gehen“, so Ratto. Das Acquario di Genova arbeitet mit mehreren italienischen Universitäten zusammen. Seine Biologen erforschen beispielsweise seit fast 20 Jahren die Bewegungsmuster der Delfine an der ligurischen Küste.
In der Datenbank befinden sich mittlerweile über 250 Tiere, alle katalogisiert anhand ihrer unverwechselbaren Rückenflosse. Neue Fotos von Sichtungen werden zusammen mit den GPS-Daten perComputerprogramm verarbeitet, so lassen sich die Wege der Delfine vor der Küste nachvoll-ziehen. „Das hilft sehr, wenn es um mögliche neue Schutzzonen geht“, meint Ratto. „Ohne dieses Programm wüssten wir nicht einmal, wie viele Delfine es da draußen überhaupt noch gibt.“
Es dauert aber lange, bis der Delfin weiß, dass er still am Beckenrand liegen muss, bis ich mit dem Ultraschall fertig bin.
Nicola Pussini, Chefarzt des Aquariums

16:30
„Brav“, sagt Nicola Pussini, „ist gleich vorbei.“ Der Veterinär kontrolliert ein letztes Mal den Monitor, dann gibt er dem Delfin einen Klaps. Das Tier gleitet von einer Auflage am Beckenrand zurück ins Wasser, taucht ab und reckt nach einer eleganten Wende keckernd den Kopf in die Höhe: Nach einer Ultraschalluntersuchung gibt es einen Hering zur Belohnung. Pussini ist Chefarzt des Aquariums, und heute ist Delfin-Sprechstunde. Die Säugetiere sind die Stars der Einrichtung – und erfordern mehr Aufmerksamkeit als alle anderen.
Krankheitssymptome versteckten sie gerne, meint Pussini, da müsse man sehr aufmerksam hinschauen und regelmäßig kontrollieren. Kranke Delfine sind schwierige Patienten, deshalb unternimmt die medizinische Abteilung alles, um beispielsweise Infektionen bereits im Frühstadium zu diagnostizieren und behandeln.
Dabei ist die Untersuchung gar nicht einmal der komplizierte Teil. „Es dauert aber lange, bis der Delfin weiß, dass er still am Beckenrand liegen muss, bis ich mit dem Ultraschall fertig bin.“ Weil so eine Untersuchung für das Tier nicht stressig sein soll, braucht Pussini ebenfalls Geduld. „Hätte ich die nicht, wäre ich kein Veterinär geworden.“ Er überlegt einen Moment: „Aber natürlich haben wir Aquariumsbewohner, die im Umgang einfacher sind.“

17:20
Sansone öffnet ein Auge, er hat etwas gehört. Ein, zwei Sekunden lang schaut er ins Gebüsch, dann fällt das Auge wieder zu. Sansone schluckt. Sansone blinzelt. Sansone schläft weiter. „Macht er 23 Stunden und 50 Minuten am Tag. Grüne Leguane sind so.“ Roberto Custureri bahnt sich einen Weg durch Mangroven und Yucca. „Die übrigen zehn Minuten? Frisst er. Wenn er merkt, dass ich komme, wird er munter.“
Sansone hat jetzt beide Augen geöffnet. Und das Maul. Er bekommt sogar eine Art Liegestütz in Zeitlupe hin und reckt seinem Pfleger somnambul den Kopf entgegen, wie man das als Leguan eben so macht, wenn man hellwach ist. Es gibt Salat, Custureri hat ihn in kleine Stücke gerupft. Sansone frisst. Sansone schluckt. Sansone ist satt. Er schläft jetzt wieder ein.

Neben dem Leguan leben Kaimane, diverse Schlangen und ein Chamäleon namens Matisse. Und einige winzige, aber hochtoxische Frösche vom Amazonas. Die Reptilien-und Amphibienabteilung hier hat international einen superben Ruf; während ihrer bislang sechs Forschungsexpeditionen nach Madagaskar haben die Aquariumsbiologen vier unbekannte Chamäleonarten aufgestöbert sowie drei Froschspezies, von denen die Wissenschaft bis dahin noch nichts wusste.
Auch die Wiederentdeckung von Emys orbicularisingauna, einer Unterart der Europäischen Sumpfschildkröte in Ligurien, ist den Wissenschaftlerndes Aquariums zu verdanken. Die Spezies galt ewig als ausgestorben, hatte sich aber bloß gut versteckt; mittlerweile haben sich die Bestände erholt. Die in ihrer madegassischen Heimat ebenfalls bedrohte Schildkrötenart Pyxis arachnoides hat in Genua sogar Nachwuchs bekommen: Die 13 putzmunteren Schildkrötchen vertilgen gerade die Reste von Sansones Kopfsalat.

19:10
So ein halber Kopf Salat fällt ein, zwei, drei Gänge weiter überhaupt nicht auf. Über eine Tonne Grünzeug wird in der Küche des Aquariums Woche für Woche abgewickelt (allein die vier Seekühe verputzen täglich 140 Kilo) plus eine ähnliche Menge Seafood. Die Küche ist der Bereich, in dem morgens schon früh gearbeitet wird und wo jetzt allmählich Ruhe einkehrt.
Die meisten Bewohner des Aquariums bekommen eine speziell für sie zusammengestellte Ration. „Die Tiere sind ja komplett von uns abhängig“, meint Stefano Pelle, „wir tragen die Verantwortung für ihr Wohlbefinden. Da müssen wir sehr genau darauf achten, dass sie alles bekommen, was sie benötigen.“ Der Biologe hat gerade die Robben gefüttert. Er ist hier, weil einer seiner Pinguine Vitamintabletten braucht. Die frisst er allerdings nur, wenn man sie in den Kiemen der Heringe versteckt. Pelle präpariert die Fische. Fertig? Auf geht’s.

19:40
Und gleich noch einmal: „Andiamo!“ Dieses Mal hat Pelle laut gerufen, und zuvor hat er das kleine Gatter geöffnet, das die künstliche Antarktis vom Bereich der Pfleger trennt. Und schon kommen sie angewatschelt, hinter- und neben- und manchmal auch übereinander, wenn sie vor Aufregung und zu viel Tempo ausrutschen, da muss Pelle grinsen, selbst wenn er das schon tausende Male erlebt hat.
Der Sturmlauf der Pinguine endet an seinem Eimer, gefüllt mit Heringen und Sardinen. Damit jeder der drängelnden, fiependen, stummelflügel-schlagenden Vögel seine Portion bekommt, führt ein Mitarbeiter genauestens Buch (der Biologe unterscheidet sie anhand der farbigen Bänder, die die Tiere tragen). Als die Pinguine merken, dass nichts mehr zu holen ist, geben sie empörte Geräusche von sich. Anschließend watscheln sie beleidigt zurück in ihre Eiswelt. Hin und wieder drehen sie sich um – als hofften sie, ihr Pfleger würde seine Meinung ändern.
Feierabend – und bald Torschluss: Um 21 Uhr müssen die letzten Besucher das Acquario verlassen. Stefano Pelle bringt den Eimer zurück in die Küche, ein Mitarbeiter der Frühschicht wird ihn morgen neu befüllen. Er stellt ihn auf die Anrichte, neben eine Lunchbox, auf die jemand mit Edding „polpo“ geschrieben hat.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 4/2019. Zusätzliche Informationen zum Thema artgerechte Tierhaltung finden Sie hier:

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