Madagaskar: Von Makis und Menschen

ANFANG NOVEMBER, NEUN UHR MORGENS IN ANJA, einem Naturschutzgebiet im Südosten von Madagaskar. 15 Touristen beziehen Stellung vor einer noch größeren Gruppe Lemuren. Die Tiere gehören zur Spezies Katta-Maki – jene mit den schwarz-weißen Ringelschwänzen – und verhalten sich so, als wären sie allein in dieser üppigen Natur. Die Besucher halten ihre Kameras den Primaten fast unter die Nase. Doch nicht einmal das Stakkato der Auslöserklicks bringt die Lemuren aus der Ruhe. Konzentriert knabbern sie weiter an Blättern, Blüten und Früchten.
„Ihre Lieblingsgasthäuser“, erklärt der Guide, „sind Feigen- und Tamarindenbäume.“ Aber wer schert sich hier schon um Botanik? In Anja gilt alles menschliche Interesse den Lemuren, die man Katta-Maki, Katta oder Maki nennen darf.
Mensch und Tier Auge in Auge mit vordergründig unterschiedlichen Interessenlagen? Das geht meist schlecht aus. Doch in Anja haben beide Primatenarten einen Modus des Zusammenlebens gefunden, von dem alle profitieren. Ausgerechnet im bitterarmen Madagaskar entstand so ein Musterbeispiel für die gemeinsame Entwicklung von Ökonomie und Ökologie.
Jede Maki-Gruppe – bestehend aus 20 bis 25 Mitgliedern – wird von einem Weibchen angeführt. Die Männchen – selbst die Söhne der Chefin – verteilen sich über die unteren Sprossen der Gruppenleiter. Unverzichtbar sind sie nur zur Zeit der Paarung – also einmal im Jahr, meistens im April und auch dann nicht länger als 24 Stunden. Die entzückenden Ergebnisse dieser Begegnungen ähneln Wollknäueln, deren spitze Zottelohren und bernsteinfarbenen Knopfaugen aussehen, als hätte sie ein verspielter Schöpfer aufgenäht. Erst wenige Wochen alt, reiten sie auf dem Rücken ihrer Mütter durch den Wald. Auch Zwillingspaare sind dabei. Wollen sie gestillt werden, wechseln sie schwungvoll vom Rücken unter den Bauch der Mutter.

Maki-Junge sind erstaunlich selbständig. Sowie sich die Mutter zum Knabbern auf einem Ast niederlässt, hüpfen sie mit verwegenen Sprüngen davon, um mit gleichaltrigen Spielgefährten zu tollen. Zwar droht Gefahr durch Greifvögel wie etwa Milane und die habichtartigen Madagaskarhöhlenweihen. Doch irgendeiner in der Gruppe wacht immer. Gerät ein geflügelter Baby-Räuber in Sichtweite, dann stoßen Makis gellende Warnschreie aus – so laut, dass man sich fast die Ohren zuhalten muss.
TOT ODER LEBENDIG?
Ein paar hundert Meter vom Waldrand entfernt, im bescheidenen Parkrestaurant, doziert Adrien Razafimandimby über sein Lieblingsthema: Makis und Menschen. „Wir Madagassen“, erklärt der studierte Biologe schmunzelnd, „denken mit dem Bauch. Gerade das macht die Realisierung unseres Maki-Schutz-Projekts so einfach.“ Was er damit meint: Makis gelten in vielen Teilen Madagaskars als Delikatesse. Doch irgendwann erkannten die Anrainer von Anja, dass Makis den Magen besser und öfter füllen, wenn sie leben – indem sie nämlich Touristen und damit Devisen in die Region locken.
1996 entschied sich deshalb eine Gruppe unter Führung von Razafimandimby für nachhaltigen Naturschutz. Wohl wissend, dass der nur möglich ist, wenn er die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung abdeckt. Homo sapiens schützt, was ihm nützt.
„Unser Verein“, bestätigt Ferdinand Tolojanaharay, derzeit amtierender Präsident der Association Anja Miraj, „besteht aus 700 Mitgliedern. Alle stammen aus den sechs Dörfern der Umgebung. Insgesamt ernährt das Projekt sogar rund 2.500 Madagassen.“
Um Mitglied zu werden, muss ein Kandidat zunächst sechs Monate gratis für das Reservat arbeiten. So findet er den geeigneten Platz im Ökotourismus – als Fremdenführer, Forstarbeiter, Wegeausbesserer oder Wachmann. Nach dem ersten Halbjahr verdient er genug, um endlich sorglos von seinem Erstberuf als Reisbauer und Viehzüchter leben zu können. Früher hingegen hat ihn jede Dürre, jeder Zyklon, jede Heuschreckenplage an den Rand der Existenz getrieben.
Und die Menschen verdanken den Makis noch mehr: In den sechs Dörfern wurden Schulen gebaut und Gesundheitszentren eingerichtet. Auch gibt es jetzt Malariavorsorge, Fortbildungskurse für Frauen, Schulgelder für Waisen, einen Fonds für den Wiederaufbau von Häusern, die in Buschfeuern abgebrannt sind, und eine Eukalyptus-Baumschule, damit die Dorfbewohner sich Brennholz und Holzkohle nicht mehr aus dem Wald besorgen müssen. Wie zur Krönung bekommt die Initiative Applaus aus aller Welt. 2012 erhielt Anja den Equator Prize, einen mit 5.000 Dollar dotierten Umwelt- und Nachhaltigkeits-Award der Vereinten Nationen. Für Madagassen fühlt sich das an wie die Story vom Millionär, der einmal Tellerwäscher war.
Das klingt nach einem schönen Ende der komplizierten Geschichte von Makis und Menschen auf Madagaskar. Erstere leben schon seit über 50 Millionen Jahren hier. Schwierig wurde ihre Existenz erst im Laufe der vergangenen 2.000 Jahre, nämlich seit Ankunft des Menschen auf der Rieseninsel. Nicht nur hat dieser Homo madagascariensis die Lemuren gejagt und verspeist. Er hat auch bis heute über 90 Prozent der ursprünglichen Wälder zerstört.
Wir Madagassen denken mit dem Bauch. Gerade das macht die Realisierung unseres Maki-Schutz-Projekts so einfach.
Adrien Razafimandimby, Biologe, über
Wer das Land durch ein Flugzeugfenster betrachtet, erkennt die Schäden sofort: DerBoden des Hochlandes erscheint in Hellrosa, der Farbe madagassischer Bodenerosion. Jedes Jahr im Juli, wenn das alte Gras vertrocknet ist, wird es von Rinderhirten abgefackelt. Auf dass die Asche in der folgenden Regenzeit den Boden düngen und das Nachwachsen frischen Grases fördern möge. Ginge es nach den Viehzüchtern, wäre ganz Madagaskar schon längst eine einzige Weide.
Womöglich wird dieses Ziel bald erreicht werden: Alljährlich roden Farmer im Durchschnitt 120.000 Hektar Wald, größtenteils zu Weidezwecken. Schreitet die Zerstörung in dem selben Tempo voran, wird es in 40 Jahren keinen Wald mehr auf der Insel geben.
Und doch spricht einiges dafür, dass die Makis von Anja auch im Jahr 2060 noch nachFrüchten suchen und Gäste ignorieren werden.
Ein Faktor ist Fombarazana – die Ahnensitte. Ihre Gesetze sind die Fady–Tabus. Sie verbieten etwa das Betreten von Orten, die für Geister reserviert sind: Grotten am Meer oder der Schatten von Tamarindenbäumen. Die Fady regelnden Verzehr mancher Speisen und das Arbeiten, das Lieben, Heiraten und das Beerdigen an bestimmten Wochentagen. Mitunter unterscheiden sich die Regeln von Dorf zu Dorf. Relevant im Zusammenhang mit dem Schutzgebiet in Anja: Hier gilt das Verspeisen von Maki-Fleisch als fady. Das Tabu wird strikt befolgt, selbst wenn es schwerfällt.
Tag für Tag werden die Gärten in den Dörfern von Maki-Gruppen besucht, die wählerisch zwischen den Beeten schlendern, als wären es Regalreihen eines Supermarkts. Die meisten entscheiden sich für Kirschtomaten. Und die Bauern schauen zu: nicht unbedingt erfreut, aber auch nicht zornig oder gar hungrig.

Noch mit ein Grund für die Unantastbarkeit von Anja ist der hier verborgeneFriedhof. Die Massengräber liegen in Felsspalten, wo sie für Ortsfremde kaum erkennbar und noch schwieriger zu erreichen sind. Beisetzungen finden mithilfe von Leitern und Stricken statt. Für Makis ist dieser Friedhof ein perfekter Rückzugsort. Die einzigen Feinde, die sie hier außer Raubvögeln fürchten müssen, sind Madagaskarboas, die unter einer dichten Laubschicht verborgen auf Beute lauern.
Doch nie käme es einem Dorfbewohner in den Sinn, einem Gast von Bräuchen und Überliefertem zu berichten. „Es ist besser, Touristen in dem Glauben zu lassen, Madagassen würden Lemuren aus Tierliebe schützen“, befindet Adrien.
STAMMTISCH IN DER SONNE
Ein besonders günstiger Ort, die Makis bei ihrer Morgenroutine zu beobachten, ist ein mächtiger Felsen an der Grenze zwischen Dorf und Wald. Auf seinem weitflächigen Plateau treffen sich die Makis zum Sonnenbaden. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Anja liegt fast tausend Meter über dem Meeresspiegel, die Nächte sind oft kühl. Deshalb klettern die Lemuren schon in aller Frühe aus ihren Schlafplätzen in den Bäumen, um sich im ersten Sonnenlicht auf dem Felsen zu wärmen.
Für das menschliche Auge sieht das natürlich schrecklich niedlich aus: Die Tiere wirken wie die Urlauber am Strand oder Kartenspieler am Stammtisch. Doch Makis sind keine Steiff-Tierchen. Auch sind sie im Umgang miteinander längst nicht so putzig, wie sie aussehen – vor allem die Weibchen. „Real bitches“, echte Schlampen, befand Alison Jolly, die es wissen muss. Die amerikanische Biologin hat die KattaMakis ein halbes Jahrhundert lang im Berenty-Reservat, in Südmadagaskar, studiert. Als Erste hat sie die Weibchendominanz bei dieser Spezies bemerkt und die matrilineare Organisation von Katta-Maki-Gruppen dargelegt.
In ihrem Buch „Lords and Lemurs“ schildert Jolly das Leben einer Gruppe, die sie Together Troop nennt. Eine typische allfemale Gang, angeführt von einem Weibchen, das die in herrlicher Umgangssprache schreibende Autorin Shadow getauft hat. Die Truppe befindet sich in ständigem Kampf mit einer Bande, deren Weibchen Jolly noch urigere Namen verpasst, wie Frightful Fan, Psycho-eyed Finch oder Pretty-Pretty-Baby Cover-Girl Jessica.
In den Kämpfen der Makis geht es immer um dieselben zwei Dinge: das Verteidigen von Fressrevieren gegen andere Gruppen sowie um die Rangordnung innerhalb der eigenen Gruppe. So gesehen erscheinen Makis und Menschen einander gar nicht so unähnlich.



Die Lektüre von Jollys Buch macht den Besuchern in Anja vieles verständlicher: Ständig herrscht Aufruhr, permanent kommt es irgendwo zu einer Keilerei. Zum Beispiel, wenn zwei Gruppen in der Krone eines begehrten Tamarindenbaums aufeinanderstoßen. Dann ist ihr schrilles Wutgeschrei oft bis in die Reisfelder am Dorf zu hören. Oder wenn innerhalb der eigenen Gruppe Gewalt ausbricht: Wagt etwa ein Männchen, sich an denselben grünen Esstisch zu setzen wie die dominanten Weibchen, holt er sich blitzartig eine blutige Nase.
Ein wenig deprimierend wirkt die Beobachtung, dass Weibchen, wenn die Evolution sie zum stärkeren Geschlecht geprägt hat, sich ähnlich ekelhaft verhalten wie Alphamännchen und Jünglinge mit hohem Testosteronspiegel. Die Ausübung von Autorität und Macht scheint bei allen Primaten, egal welchen Geschlechts, mit unangenehmsten Eigenschaften behaftet.
Und müssten sich nicht logischerweise die Maki-Männchen durch jene Tugenden auszeichnen, die Menschen automatisch dem „schwachen Geschlecht“ zuschreiben? Wie Sanftmut oder eine besondere Art von Klugheit? Nichts davon lässt sich in den Maki-Männchen erkennen.
Im Gegenteil, der maskuline Katta-Maki führt sich ähnlich affig auf wie sein menschliches Pendant. Vor allem in der Paarungszeit: Dann rivalisieren überdrehte Männchen um die Gunst der Weibchen. Die geben sich zunächst betont desinteressiert, spähen aber längst nach dem genetisch bestqualifizierten Samenspender. Kandidaten versuchen also, vor den Augen besonders begehrter Weibchen in Duellen die Konkurrenz auszustechen. Die gängigste Art solcher Showdowns sind Stinkkämpfe“.



Makis, so muss man wissen, verständigen sich zwar auch durch Laute, Gesten und wechselnde Körperhaltung. In erster Linie aber vermitteln sie sich ihrer Umwelt olfaktorisch. Beide Geschlechter sind mit Duftdrüsen an den Handgelenken und am After ausgestattet. Bei ihren Streifzügen durch den Wald sind sie ständig darauf aus, Baumstämme, Äste, Zweige, manchmal sogar am Boden liegende Steine mit ihrem Duftsekret zu versehen und dadurch ihr Revier zu markieren.
DUELL DER DÜFTE
Was nun die Stinkkämpfe betrifft, tränken die duellierenden Männchen ihre Ringelschwänze mit dem Sekret ihrer Armdrüsen und wedeln dann in Richtung Konkurrenz. Aus menschlicher Sicht wirkt das lächerlich. Bis die Gegner plötzlich durchzudrehen scheinen und auf konventionelle Art aufeinander losgehen. Sie versuchen dann, auf den Rivalen zu springen und ihm mit ihren Eckzähnen tiefe Wunden zuzufügen.
Sobald der Lustrausch verflogen ist, verwandeln sich die aggressiven Machos zurück in subalterne Randfiguren der Gruppe. Mit so unterwürfigen Gebaren gegenüber ranghohen Weibchen, als wollten sie sagen „Bitte verzeih meine Existenz“, bemerkte einst Alison Jolly. Dennoch: Wer wollte dem Charme dieser Lemuren widerstehen?
Am Nachmittag treffen sich die Tiere in einer Grotte. Früher lebten hier Menschen, erklärt Adrien: „Es waren Höhlenmenschen, wahrscheinlich aus Angst vor Kriegen oder Viehdieben. Die Dörfler der Umgebung nennen diese Wildnis heute Valamati, das alte Dorf.“
Oft sind hier Makis zu beobachten, die Boden und Wände der Höhle ablecken – wegen der Mineralsalze, weiß Adrien. Trotz des schummrigen Lichts fällt hier am deutlichsten auf, in welch perfektem Zustand sich diese wilden Tiere befinden. Gewiss, weil AnjaGuides darauf achten, dass Touristen kein ungesundes Futter in den Wald bringen. Eine weitere Erklärung für den erfreulichen Gesundheitszustand der Makis mag sein, dass sie in Anja gut kuscheln können.

Das hört sich zwar albern an, ist jedoch wissenschaftlich fundiert. Durch engen Körperkontakt tauschen und verbreiten Lemuren in ihrem sozialen Verbund wichtige Darmkeime, hat unlängst ein Forscherteam unter Leitung der Universität Oxford herausgefunden. „In engen Gruppen“, erklärt die zu dem Team gehörende Zoologin Aura Raulo, „ist das soziale Umfeld der Schlüssel zur Immunität. Der Austausch mikrobieller Freunde und Feinde macht Infektionen durch Krankheitserreger unwahrscheinlicher.“
Einfacher gesagt: Miteinander kuscheln hält gesund. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist Valamati ein Wellnesscenter für Makis. Vor allem bei Tagesanbruch, wenn nach regnerischer Nacht die Sonne zuerst als ein heller Fleck hinter der Wolkenschicht auftaucht. Dann sucht man die Makis vergeblich auf dem nackten Felsplateau, weil sie lieber zusammengedrängt im Geäst enger Baumkronen ausharren – derart ineinander verknäult, dass man sie kaum erkennen könnte, hinge nicht hier und da ein Ringelschwanz aus dem Kuschelklumpen.

Solche Momente machen deutlich, wie untypisch das paradiesische Valamati für den Planeten ist. Ähnliche Gedanken gingen Alison Jolly durch den Kopf, als sie die letzten Zeilen für ihr letztes Buch „Thank You, Madagascar“ diktierte. Das war im Jänner 2014, die große Lemuren-Forscherin lag auf ihrem Sterbebett in England. Nach einem herzlichen Abschiedsgruß an die fernen Katta-Makis warf sie die Frage auf, warum Madagaskar, obwohl „unwichtig“ für das ökologische Fortbestehen der Erde im Vergleich zu Gebieten wie Amazonien, dennoch von Bedeutung für die Zukunft des Planeten sei.
„Wichtig ist Madagaskar vor allem als Testfall für das Ideal eines nachhaltigen Friedens zwischen Menschen und Natur“, erkannte Jolly. „Gelingt es der Menschheit – Madagassen und Auswärtigen gemeinsam – nicht, diese Insel zu retten, welche Hoffnung könnte es dann noch auf die Rettung des Planeten geben?“
In Anja spricht nichts gegen diese Hoffnung.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 3/2019.

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