Im Gespräch mit Tiergarten Schönbrunn-Direktor Stephan Hering-Hagenbeck

Die Luft ist klar und gar nicht kühl, die Tiere treibt es in die Freigehege. Gar nicht so wenige Besucher flanieren umher, höchst international klingt das Sprachengewirr. Wohl auch deshalb geht der Fotoauftritt des neuen Zoo-Direktors Dr. Stephan Hering-Hagenbeck im Katta-Gehege etwas unter: Es ist erst sein zweiter Arbeitstag in Wien, da war noch keine Zeit, öffentliche Duftmarken zu setzen.
International ist der promovierte Zoologe mit dem prominenten Namen – Ehefrau Bettina Hagenbeck entstammt der Familie, die den gleichnamigen, 1863 gegründeten Hamburger Tiergarten besitzt – jedoch längst bekannt: Er hat zwei Jahrzehnte in Tiergärten gearbeitet, Zoos international beraten und in einem eigenen Unternehmen weltweit Anlagen geplant und gebaut.
Und ob im eleganten blauen Anzug samt Stecktuch oder wenig später im oliv-grünen Tierpfleger-Fleece: In Schönbrunn ist Dr. Hering-Hagenbeck emotional rasch angekommen. Die Kattas sind nur ein Indiz: Sie nehmen die Pellets aus der Hand ihres neuen Chefs wohlwollend entgegen.
TERRA MATER: Was macht den Charakter des Zoos in Schönbrunn aus?
HERING-HAGENBECK: Er ist historisch interessant, weil er der älteste der Welt ist. Er zeigt architektonisch, wie in der damaligen Zeit an das Thema herangegangen worden ist. Und ist doch zeitlos: Er wurde trotz der historischen Bauten fünf Mal zum besten Zoo Europas gewählt. Diesen Spagat fand ich immer schon interessant.
Ein Mitglied der Hearing-Kommission, von der Sie bestellt wurden, die Schweizer Tierparkdirektorin Anna Baumann, beschrieb Sie als „begnadeten Tiergärtner“.
Ich mag diese Berufsbezeichnung, weil sie das Tier und den Garten, den zugehörigen Lebensraum, beschreibt. Ich mag auch den Begriff Tiergarten oder Tierpark, weil eben das Habitat dazugehört, in dem das Tier sich präsentieren kann.
Da klingt Leidenschaft durch…
Man kann natürlich viel aus der Theorie lernen, aber es braucht die Passion, die Liebe zur Natur. Die ist bei mir schon in der Kindheit angelegt worden. Ich hatte das Glück, in Südafrika aufzuwachsen, das hat mich bestimmt sehr geprägt. Ich hatte meine erste Schlange mit sechs Jahren – und bald darauf auch meinen ersten und bisher einzigen Schlangenbiss.
Haben Ihre Eltern Ihre Ambitionen unterstützt?
Ja. Und das, obwohl ich in meinen Teenie-Zeiten oft den Backofen blockiert habe, weil ich versucht habe, darin irgendwelche Reptilieneier auszubrüten.
Ihr Promotionsthema war die Parasitenfauna wild lebender Reptilien…
Ich hatte das Glück, über Wochen im afrikanischen Busch allein mit meiner Frau im Zelt zu leben und zu arbeiten. Der Ranger, der uns das erste Mal dort abgesetzt hat, hat uns so empfangen: „Willkommen in der Nahrungskette. Ich hole euch in einer Woche ab – oder das, was von euch übrig ist.“
Was blieb von diesen einsamen Nächten im Zelt?
Wir waren auf Augenhöhe mit der Natur. Ringsum hörten wir die Löwen, nirgendwo war ein Zaun. Das ist ein bisschen verlorengegangen in der modernen Welt.
Wie wandelte sich die Liebe zu Tieren in der Wildbahn zum Faible für Tiergärten?
Das war Zufall, weil ich in eine Tiergärtner-Familie eingeheiratet habe. Durch meinen Schwiegervater und das gesamte Netzwerk um Hagenbeck habe ich viel dazugelernt.
Und welchen Sinn hat es, Wildtiere einzusperren und auszustellen?
Zunächst zeigen wir Tiere in zoologischen Gärten, damit sie als Botschafter fungieren für ihre wild lebenden Artgenossen, die zum Teil hochgradig bedroht sind oder gar keinen Lebensraum mehr haben. Wir müssen unseren Job so gut machen, dass sich die Tiere wohlfühlen und das resultierende Tiererlebnis die Besuchernachhaltig begeistert.
Eine schwierige Aufgabe…
Zoobesucher haben gewisse Erwartungen.So wird bei Tigern erwartet, dass der männliche Tiger mit seinen Jungtieren zusammen ist. Ist das nicht so, tauchen Fragen auf: „Warum ist der Vater nicht bei seinen Kindern? Das ist kein guter Zoo!“
Das war Zufall, weil ich in eine Tiergärtner-Familie eingeheiratet habe. Durch meinen Schwiegervater und das gesamte Netzwerk um Hagenbeck habe ich viel dazugelernt.
Stephan Hering-Hagenbeck, Zoodirektor Schönnbrunn
Tigermännchen sind nie beim Nachwuchs, weil sie ihm aus Eifersucht gefährlich werden…
Ja, das ist bei vielen Arten so, auch beiden Elefanten. Die Männchen werden schnell rausgeworfen, weil es sofort Rivalenkämpfe gibt, und die gehen in der Natur häufig nicht gut aus. Ein Zoo muss die Gratwanderung hinbekommen zwischen dem, was Laien meinen, und dem, was Tiere wirklich brauchen.
Reicht ein Tag im Zoo, um diese Missverständnisse bei den Besuchern aufzulösen?
Das ist die große Herausforderung. Wir stoßen mitunter schon auf Verständnislosigkeit, wenn wir an einen Karnivoren Fleisch verfüttern, der sich über Jahrmillionen zum Karnivoren entwickelt hat und der eben nicht so schnell dem Zeitgeist folgen kann. Vegetarismus hat bei Menschen einen gewissen Sinn, weil es um Energie geht und um Nachhaltigkeit. Für uns sind das didaktisch schwierige Themen, essenziell für unser weiteres Leben auf diesem Planeten: Wir dürfen nicht den Kontakt zur Natur verlieren. Ich liebe die wissenschaftliche Arbeit im Feld, aber ich glaube, wir können mehr bewegen mit der Arbeit in guten zoologischen Gärten.
Also mehrere Tage im Zoo verbringen?
Wir wollen, dass die Menschen regelmäßig kommen. Dann können wir ihnen zeigen, dass wir uns in der Tierhaltung entwickelt haben. Ich nehme nur das Beispiel der Asiatischen Elefanten in Europa: Was da in den vergangenen 100 Jahren in der Haltung in menschlicher Obhut verbessert wurde, ist fantastisch – auch im Vergleich mit den Herkunftsländern, wo der Elefant seit über 1000 Jahren gehalten wird. Da haben wir Riesenfortschritte gemacht – insbesondere durch ständigen Kontakt zur Forschung. Und auch durch Kritik: Die ist wichtig und bereichernd, solange sie vernünftig ist und nicht grundsätzlich. Ich freue mich über jede kritische Frage, solange mir jemand gegenübersitzt, der zoologische Gärten nicht per se infrage stellt.

Sind Zootiere noch Nachfolger der Wildtiere oder bereits spezielle Spezies, quasi Schoßtiere?
Was ist noch so wie vor 100 Jahren? Unser gesamtes Leben ist im Fluss. Dem Schoßtier widerspreche ich massiv: Natürlich sind unsere Tiere in der Regel in menschlicher Obhut geboren. Tiere haben jedoch aufgrund ihres Instinkts und ihrer Anpassungsfähigkeit an einen Lebensraum Möglichkeiten, sich in einer gewissen Weise darauf einzustellen.
Ein Raubtier bleibt auch im Zoo ein Raubtier?
Wenn Sie im Zoo zum Tiger ins Gehege gehen, haben Sie das gleiche Problem, wie wenn Sie einem Tiger in Indien begegnen. Der weiß noch, wie’s geht, der braucht vielleicht nur ein bisschen länger.
Wie beliebt sind Tiergärten in der Öffentlichkeit?
Die renommierten und wissenschaftlich geführten zoologischen Gärten begeistern im deutschsprachigen Raum jedes Jahr mehr Menschen, wir sind Freizeitziel Nummer eins. In Deutschland zählen wir mehr Besucher als die erste und zweite Fußball-Bundesliga.
Von Kindern argwöhnt man, dass sie den Bezug zur Natur verloren haben. Überspitzt gefragt: Wachsen genügend Besucher nach?
Kinder bewegen sich in dreidimensionalen virtuellen Welten, wo alles möglich ist. Doch es gibt zwei wichtige Sinnesreize, die zoologische Gärten als einziger Ort neben der Natur bieten können: Geräusche und Geruch. Wenn Sie einen Song aus den 80er-Jahren hören, kommen Erinnerungen hoch, wie Sie auf der Hutablage des elterlichen Fahrzeugs gelegen haben. Das Gleiche passiert über die Nase. Der Geruchssinn wird in den virtuellen Welten noch kaum angesprochen. Dabei erinnern wir uns ein Leben lang an bestimmte Gerüche– und die müssen nicht unbedingt angenehm gewesen sein.
Wenn Sie im Zoo zum Tiger ins Gehege gehen, haben Sie das gleiche Problem, wie wenn Sie einem Tiger in Indien begegnen. Der weiß noch, wie’s geht.
Stephan Hering-Hagenbeck, Zoodirektor Schönnbrunn
Wie die im Elefantenhaus…
Genau. Stellt man sich ins Elefantenhaus und ältere Generationen kommen mit ihren Enkeln, hört man häufig: „Oh, das erinnert mich an meine Kindheit!“ Solche Schlüsselerlebnisse werden an nachfolgende Generationen weitergegeben.
Den Tiergarten durch den Bauch erleben: Wie gut lebt der Zoo in Schönbrunn dieses Konzept bereits vor?
In Schönbrunn gibt es schöne Beispiele, bei denen man sehr nahe ans Tier herankommt, etwa bei den Pinguinen und der neuen Giraffenanlage. Doch wir müssen auch erreichen, dass der Besucher sich wieder die Zeit nimmt und sich auf ein Tier einlässt: Ein BBC-Tierfilm braucht auch fünf Jahre und mehrere Generationen von Tieren, um deren Verhaltensweisen zu zeigen. Dieses Entschleunigen muss wieder aktiv gelernt werden, das Achten auf Details. Wie frisst ein Katta eine Nuss? Wie reinigt ein Elefant sein Futter? Das live zu erleben und die Kontrolle zu haben, ich guck mir das so und so lange an, das sollte der Zoo liefern.
Sie setzen auch auf Gemeinschaftshaltung?
Ja. Wir bauen dabei keine großartigen neuen Gehege, sondern versuchen, unterschiedliche Tierarten zu kombinieren. Das erzeugt positiven Stress: Die Tiere müssen wieder aufeinander aufpassen, lernen voneinander. Wir begeben uns oft auf Neuland, müssen ausprobieren und auch mal scheitern. Grundsätzlich ist ein zoologischer Garten ein Kreisprozess. Selbst der fortschrittlichste würde ohne Veränderungen keine zehn Jahre der modernste bleiben, alles ist vielmehr ständig im Fluss.
Sie haben als Unternehmer Erfahrungen in der Konzeption großer Zooprojekte, doch es entscheidet offenbar die Detailarbeit.
In unserem Beruf muss alles zusammenpassen. Wir müssen den Tieren einen naturnahen Lebensraum bieten, dem Besucher ein besuchergerechtes Tiererlebnis, dem Tierpfleger einen angenehmen Arbeitsplatz. Vor 150 Jahren ging es erst mal darum, ein einzelnes Tier auszustellen, weil der Besucher nicht wusste, wie ein Löwe aussieht. Jetzt versuchen wir, Sozialverbände darzustellen. Wir planen Tiergehege auch so, dass sie allen Altersstufen gerecht werden. Manche Tiere werden in der Natur gar nicht so alt, weil etwa das Mandrill-Männchen irgendwann vom Leoparden geholt wird.
Forschung und Artenschutz gehören zu den Hauptaufgaben: Schönbrunn ist dabei ein Vorreiter in Europa.
Stephan Hering-Hagenbeck, Zoodirektor Schönnbrunn
Schönbrunn steht als Wirtschaftsbetrieb auf soliden Beinen. Braucht es dennoch Show?
Viele Leute, die über Generationen in den Schönbrunner Zoo kommen, erwarten, bestimmte Sachen immer wieder zu finden, um das an ihre Enkel weiterzugeben. Da braucht es ein feines Gefühl, wenn man an Neues geht, das muss stets ein bisschen der Tradition folgen. Damit das Tier als Botschafter wirken kann, muss ich es aber inszenieren, dafür brauche ich eine Kulisse. Wir halten – nach meinem Verständnis – Wildtiere in menschlicher Obhut, um Menschen emotional zu begeistern für die Natur, für den Artenschutz, für unsere Arbeit. Das gelingt uns nur in Verbindung mit dem unmittelbaren Tiererlebnis.
Betrachtet man den Zoo Schönbrunn aus der Vogelperspektive, ist dessen Zukunft – ein-gezwickt zwischen Schloss, Straßen und Wald –wohl ein permanentes Jonglieren mit dem Platzproblem.
Je mehr wir über Tierarten wissen, desto höher sind die Anforderungen an die Gehege. Das ist teilweise lösbar, indem man über andere Tierarten nachdenkt: Wo früher ein Wolf drin gewesen ist, lebt in Zukunft ein Stachelschwein und vielleicht in 20 Jahren ein Erdmännchen. Aber es ist klar: Mangelnder Platz ist selbst durch Kreativität und Gehegegestaltung nicht richtig kompensierbar. Ein Blauwal benötigt eine gewisse Beckengröße. Wenn man die nicht hat, braucht man erst gar nicht über seine Haltung nachzudenken.
Schönbrunn betrieb immer schon Forschung…
…wie jeder wissenschaftlich geführte Zoo. Forschung und Artenschutz gehören zu den Hauptaufgaben: Schönbrunn ist dabei ein Vorreiter in Europa, auch mit der Finanzierung interessanter Projekte.
Ich bin gekommen, um zu bleiben, wie es im Lied so schön heißt.
Stephan Hering-Hagenbeck, Zoodirektor Schönnbrunn
Der Zoo Schönbrunn ist auch Mitglied der EAZA, der European Association of Zoos and Aquaria. Welche Vorteile bringt das?
Einige Zoos haben bis in die 50er-,60er-Jahre den Tierhandel sehr professionell betrieben. Dann mussten sie sich umstellen, weil klar wurde, dass Zoos in den Artenschutz gehen und als Arche fungieren müssen und wir eine größere, andere Verantwortung für unseren Tierbestand haben, auch für die Genetik. Heute müssen wir uns fragen, welche Tiere zueinanderpassen. In Zuchtbetrieben für Rinder und Pferde weiß man das. Beim Wildtier ist das komplexer, von einigen kennt man die Genetik gar nicht. Unser Ziel ist es aber, eine möglichst große genetische Vielfalt in den Beständen zu bewahren, um Tiere vielleicht später in ihrem angestammten Lebensraum wieder ansiedeln zu können.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Angenommen, ich will Elefanten züchten, dann melde ich das zuerst einmal an. Dann wird in der EAZA objektiv und fachlich beurteilt: Was hat der für Tiere, was haben die für eine Genetik, was haben die für einen Bullen, was hat der für eine Genetik, ist das der Richtige? Erst dann gibt es eine Zuchtfreigabe. Ist das Tier geboren und zum Beispiel ein Bulle, muss es in der Regel den zoologischen Garten bald verlassen. Dann geht es entweder mit der passenden Genetik in eine andere Zuchtgruppe oder vorübergehend in eine Junggesellenherde, wie das eben der Natur entspricht. Das muss alles koordiniert werden, dahinter steht ein großes vernetztes System, von dem wir alle profitieren: die Zoobetreiber und die Tiere.
Die Tiere gehören dann nicht mehr einem Zoooder der EAZA, sie gehören der Gemeinschaft?
Für eine nachhaltige Tierhaltung brauchen wir diese Gemeinschaft.
In Schönbrunn steht der Neubau des Aquariums an. Haben Sie dank Ihrer früheren Tätigkeit bereits eine Idee dafür mitgebracht?
Es ist andersrum: Es liegt schon ein ziemlich detailliertes Konzept vor, hier im Hause entwickelt und bereits relativ weit fortgeschritten in der Planung. Läuft alles gut, startet das Projekt Anfang 2021.
Für Ihre beiden Vorgänger war Schönbrunn die jeweils letzte Station einer erfolgreichen Berufslaufbahn. Erlauben Sie uns deshalb eine absurde letzte Frage, gestellt an Ihrem zweiten Arbeitstag: Werden Sie es ebenso halten?
Ja, dafür habe ich diesen Schritt gemacht. Ich bin gekommen, um zu bleiben, wie es im Lied so schön heißt.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 1/2020.

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