Fische ohne Augen: Rätsel der Wissenschaft

Höhlen sind unwirtliche Biotope: Finsternis, Kälte, kaum Nährstoffe. Und doch gibt es Lebewesen, die kreativ mit dieser Umgebung umgehen: So leben in den Höhlen im indischen Bundesstaat Meghalaya blinde Fische. 1999 entdeckten Forscher in der Krem Synrang Pamiang einen Fünf-Zentimeter-Winzling, Schistura papulifera, und 2017 in der Krem Khung einen Rochenfisch, zu Ehren des nahen Dorfs Larket Schistura larketensis getauft. Der bislang auffälligste Fund ist eine Abart des oberirdischen Goldenen Mahseers, Tor putitora, zuletzt Anfang 2020 in der Krem Ladaw gesichtet. Erstaunlich deshalb, weil der blinde Karpfenartige mit rund 40 Zentimetern bis zu fünf Mal so groß ist wie die bislang größten Arten. Das wirft laut Daniel Harries, Meeresbiologe an der Heriot-Watt University in Edinburgh und als Höhlenforscher Teil der Expedition in Indien, vor allem die Frage auf: Wovon lebt dieses Tier?

Ein Fisch, der einfach nicht ins Bild passt
„Höhlenfische sind klein und selten, weil ihr Nahrungsangebot eingeschränkt ist. Sie können sich nur von dem ernähren, was von draußen eingespült wird, etwa bei Überschwemmungen“, so Harries. „Das passt bei diesem Fisch nicht ins Bild. Er ist zwar deutlich kleiner als sein normalsichtiger oberirdischer Verwandter, aber doch recht groß und zahlreich.“ Was das Sehvermögen betrifft, könnten sich die beiden Varianten innerhalb weniger Generationen entwickelt haben, so Harries: „Es reicht offenbar eine minimale genetische Änderung, damit sich die Augen zurück- und Tast- und Geruchssinn ausbilden – das braucht nicht hunderte Jahre.“ Ein Ansatz für die Genforschung, bei der Höhlenfische ohnehin bereits eine Rolle spielen: Der Mexikanische Salmler besitzt ein Gen, das unstillbaren Appetit auslöst – für ihn überlebenswichtig, um sich in nahrungsreichen Zeiten einen Fettvorrat anzufressen. Gleichzeitig haben die Tiere kein Problem mit ihrem hohen Blutzucker: eine interessante Basis für Strategien gegen Diabetes. Möglicherweise braucht es auch eine Neubewertung der Vorkommen von Höhlenfischen insgesamt, ahnt Harries: „Es ist nicht ungewöhnlich, dass Speläologen sagen: ‚Wir haben da unten weiße Fische gesehen.‘“
Höhlenfische sind klein und selten, weil ihr Nahrungsangebot eingeschränkt ist. Sie können sich nur von dem ernähren, was von draußen eingespült wird, etwa bei Überschwemmungen.
Daniel Harries, Meeresbiologe an der Heriot-Watt University in Edinburgh

Weiß ist jedoch nicht signifikant: Oberflächenfische, die zufällig in Höhlen landen, erbleichen nach einigen Wochen. Harries: „Ich bin schon weißen Forellen begegnet.“ Harries: „Wir denken, wir würden schon alles verstehen, dabei lauern überall Überraschungen.“ Aktuell wird die DNA des blinden Mahseers von zwei indischen Biologen untersucht, mit durch den Covid-19-Lockdown bedingten Verzögerungen. Ist er eine eigene Art, kriegt er einen Namen. Dass der Fisch und seine Gewohnheiten nicht schon untersucht werden konnten, ist schieres Pech. Als Speläologen 1998 hörten, dass in der Krem Chympe so ein Tier gefangen worden war – oft verwenden Einheimische dafür Fledermausköder –, und bei Bewohnern des Dorfs nachfragten, bedauerten die: Man könnte ihnen den Fisch nicht mehr zeigen, er wäre in der Bratpfanne gelandet. Ein Fisch ohne Namen, aber mit einem Kochrezept.
Das kleine ABC der Höhlenfische
Weltweit sind etwa 250 Arten von Höhlenfischen beschrieben, die fast alle von in Oberflächengewässern verbreiteten Gattungen abstammen. Der bekannteste, weil auch in Aquarien gehaltene, ist der blinde Mexikanische Salmler (Astyanax jordani), der knapp zehn Zentimeter groß werden kann. Die vor der Entdeckung des augenlosen Mahseer größte unterirdische Art waren Blindformen des Kiemenschlitzaals (Ophisternon, rund 30 Zentimeter), der etwa in Süd- und Südostasien und Westafrika lebt.
Die Unterwelt von Meghalaya
Indiens Bundesstaat Meghalaya ist reich an Höhlensystemen. Rund 1.600 Kalkhöhlen sind beschrieben und werden permanent beforscht, die längste misst rund 30 Kilometer. In diesem Milieu werden immer wieder spezielle Höhlentiere entdeckt.
Der Text erschien im Terra Mater Magazin 01/2021.

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