Die Selbstwahrnehmung der Orang-Utans

Erkennt sich der Menschenaffe beim Blick aufs gespiegelte Gegenüber selbst, greift er auf seinen Kopf. So als würde er sagen: „Da stimmt doch was nicht!“ Was simpel klingt, wurde lange als eine Art Königsdisziplin in der Verhaltensforschung gesehen.
Denn: Wenn sich ein Tier im Spiegel erkennt, so die These, ist es zur Selbstwahrnehmung fähig und kann sich selbst von anderen unterscheiden. Und das wiederum gilt als Hinweis auf hohe kognitive Fähigkeiten. Weil der Test so schön und einfach ist, zogen Generationen von Verhaltensforschern mit Spiegel und Farbtupfer los und fanden heraus: Nicht nur Orang-Utans bestehen den Test, auch Schimpansen, Elstern oder Putzerfische greifen sich prüfend an den Kopf, wenn sie den Farbtupfer auf ihrem Spiegelbild entdecken. Gorillas, Oktopusse oder Raben schaffen es nicht oder zumindest nicht eindeutig.
Auch die meisten Kinder bestehen den Test erst nach ihrem zweiten Geburtstag. Mittlerweile messen Verhaltensforscher dem Spiegel-Test weniger Aussagekraft zu.
Als allumfassender Intelligenz-Indikator taugt er wohl nicht, meint etwa der Rabenforscher Thomas Bugnyar. Und der Doyen der Branche, Frans de Waal, erinnert daran, dass Selbsterkenntnis etwa bei Delfinen oder Fledermäusen, welche die Echolokation verwenden, nicht visuell, sondern über die Ohren funktionieren könnte.
Orang-Utans bemerken nicht nur den berühmten Farbklecks auf der eigenen Stirn. Zumindest einer von ihnen verwendete den Spiegel auch zur Schönheitspflege.
Unumstritten sind dagegen die kognitiven Fähigkeiten von Orang-Utans
Dass sie problemlos mit einem Handspiegel umgehen können, beschrieb schon Charles Darwin. Noch dazu haben sie Werkzeuggebrauch und (in Gefangenschaft) -herstellung gemeistert.
Und sie sind berüchtigte escape artists, die Schraube für Schraube aus ihrer Gehegekonstruktion drehen, die Kleinteile verstecken und unbemerkt ausbrechen. Sie können vorausschauend planen und komplizierte Probleme logisch lösen.
Und im Spiegel entdecken sie noch mehr als bloß einen Punkt an der Stirn. Die deutschen Forscher Jürgen Lethmate und Gerti Dücker beobachteten in den frühen 1970er-Jahren das Orang-Utan-Weibchen Suma im Zoo Osnabrück dabei, wie es Salatblätter zerrupfte, trocken schüttelte und auf ihrem Kopf drapierte. Dann marschierte sie gezielt zum Spiegel und überprüfte das Resultat. Ganz schön (und) klug.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, September 2021.

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