Anzeige

Im Gespräch mit dem Artenschutzexperten Josef Settele

Der Artenschwund erreicht bedrohliche Ausmaße, Ökosystemen droht irreparable Beschädigung. Biologe Josef Settele spricht im Terra Mater-Interview über neue Formen des Wohlbefindens, ökologische Infrastruktur und wie ihm Corona auch Hoffnung macht.
Text: Kurt de Swaaf, Fotos: Thomas Victor / 9 Min. Lesezeit
Terra Mater Interview Josef Settele Artenschutz Foto: Thomas Victor
Josef Settele: Der Agrarbiologe und Professor am Helmholtz-Zentrum für ­Um­weltforschung UFZ in Halle/Saale ist einer der Haupt­autoren des Berichts des Weltbio­diversitätsrats IPBES. Dieses Gremium berät die Politik zum Thema biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen.
Anzeige

Ein Frühsommertag in Halle an der Saale. Am Himmel schönstes Blau, nur einige weiße Wolkenschiffe ziehen vorbei. Vor dem fünfstöckigen Funktionsbau des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung UFZ reihen sich Kirschbäume und Linden, auf einem Hügelbeet blüht Wiesensalbei neben wildem Rucola. Das wäre ein prima Platz für Insekten, doch wo sind sie? Eine einzelne dunkelbraune Wildbiene sammelt Futter, weiter hinten noch eine Erdhummel, das war’s. An einer in weißer Pracht geschmückten Traubenkirsche dasselbe Bild: Es summt kaum. Liegt das am kühlen Nordwestwind, oder ist dies ein Ergebnis des unheimlichen Insektensterbens, das in weiten Teilen Europas grassiert?

Josef Settele, Wissenschaftler am UFZ, kennt die Antworten. Der Agrarbiologe und Insektenexperte ist neben seiner Forschungstätigkeit einer der Vorsitzenden für den Globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES. Der Bericht wurde im Mai 2019 in Paris verabschiedet, seine Ergebnisse sind – Covid-bedingt verschoben – im Sommer oder Herbst 2021 die Verhandlungsgrundlage bei der 15. Weltnaturschutzkonferenz im chinesischen Kunming. Auf 1.500 Seiten analysiert das Schriftstück nüchtern eine dramatische Entwicklung: Die Menschen richten das globale Ökosystem zugrunde und können die Zukunft nur durch radikales Umsteuern retten. Settele lässt sich allerdings nicht entmutigen. Veränderung ist möglich, betont er, und erste positive Anzeichen seien bereits sichtbar.

Terra Mater: Herr Professor, wie arg steht es um das Leben auf unserem Planeten?

Josef Settele: Zum einen haben wir, wenn es so weitergeht, einen mittelfristigen Verlust von etwa einem Achtel aller Tier- und Pflanzenarten – grob geschätzt eine Million Spezies –, und wir beobachten in Bezug auf die Ökosystemleistungen wie Bestäubung und Grundwasserreinigung und viele andere einen negativen Trend. Es gibt ein paar Positivtrends, zum Beispiel bei der Bereitstellung von Biomasse, darunter auch Kohlenhydrate für die menschliche Ernährung – aber das sind nicht die Pflanzen, die uns Vielfalt und Vitamine bringen. Abgesehen davon haben wir einen großen Teil der Ökosysteme bereits stark verändert, gestört oder vernichtet. Wir werden die meisten global gesetzten Ziele für nachhaltige Entwicklung und den Erhalt der Biodiversität verfehlen.

Alleinverantwortlich für all diese Probleme ist offenbar der Mensch. Sind wir eine Fehlkonstruktion der Evolution?

Ich würde zumindest sagen, dass Linné mit seiner Bezeichnung Homo sapiens nicht ganz richtig lag. (Anm. d. Red.: Der vom schwedischen Naturforscher Carl von Linné manifestierte wissenschaftliche Artname Homo sapiens lautet übersetzt „verständiger“ oder auch „weiser Mensch“.) Wir haben uns natürlich in einer Art und Weise entwickelt, die phänomenal ist, doch das bringt auch große Risiken mit sich. Ob wir uns selbst den Garaus machen? Das glaube ich nicht, aber wir könnten in Sachen Populationsdichte mittelfristig starke Rückschläge erleben. Momentan berauben wir uns der eigenen Lebensgrundlagen. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Anzeige

Momentan berauben wir uns der eigenen Lebensgrundlagen. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Josef Settele, Agrarbiologe und Artenschutzexperte

Manche Wissenschaftler halten eine Loslösung des Menschen von der Natur für möglich. Ist das eine realistische Option?

Das ist auch eine philosophische Frage. Wir haben uns im Panel des IPBES darauf geeinigt, dass wir den Menschen als Teil der Natur verstehen. Eine Loslösung ist schlecht denkbar, da wir uns als Wesen im Kontext von Ökosystemen entwickelt haben und damit verwoben sind. Wir können uns sonst nicht ernähren …

… denn wir sind halt biologische Maschinen.

Ja. Sogar als Kolonisten auf dem Mars bräuchten wir immer noch eine gewisse Versorgung durch Mutter Erde. Alles, was man versuchen könnte, extraterrestrisch aufzubauen, beinhaltet immer einen logischen Fehler: Wir denken, dass wir ein toll funktionierendes System schaffen würden – schaffen es aber nicht, unser derzeitiges, auf das wir so stark angewiesen sind, aufrechtzuerhalten. Das ist absurd.

Wir stehen also vor einer sich auf breiter Front entwickelnden ökologischen Katastrophe. Welche sind für Sie die gravierendsten Ursachen?

Unser soziales und wirtschaftliches System ist die eigentliche Basis – und alles andere das Ergebnis davon, wie wir darin handeln. Es gibt viel Einsicht, dass wir etwas ändern müssen. Den Klimawandel können wir kaum direkt beeinflussen, den müssen wir über andere Faktoren steuern, zum Beispiel über unser Konsumverhalten. Da kann ich zwar als Bürger etwas machen, komme mir dann aber meist ein wenig verloren vor. Ich kann mich allerdings auch dafür einsetzen, dass politisch etwas passiert. Diese Funktion nimmt unter anderem Fridays for Future wahr. Viele Probleme lassen sich vermutlich nur in der Kombination aus Initiativen von unten, aus der Bevölkerung heraus, und durch politische Entscheidungen lösen. Nehmen wir die Coronakrise: Sie verlangt Einschränkungen, die man als Einzelner freiwillig nicht machen würde, die aber konsensmäßig als Regulativ von oben akzeptiert werden – die aber auch nur sinnvoll sind und funktionieren, wenn alle sie mittragen.

Man kann sich den Tatsachen nicht verschließen, auch wenn man kein Naturwissenschaftler ist:  Unser Haus brennt. Warum reagieren wir nicht entsprechend?

Das ist auch eine Frage der Einstellung. Nehmen wir das bei uns – auch in den Medien – noch immer positiv konnotierte gegenwärtige Modell des Wirtschaftswachstums. Dieses wird kaum hinterfragt, und wenn bestimmte Ökonomen etwas dazu sagen, wird es gerne unkritisch übernommen. Jetzt hat man da aber Phänomene vor sich wie zum Beispiel die Ungleichheit. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Ungleichheit führt zur einseitigen Ausbeutung der Natur durch die Vermögenden auf dem Rücken der Ärmeren, die dann wiederum gezwungen sind, sich von dem zu ernähren, was übrig bleibt, was die Natur noch hergibt. Die lokalen Ressourcen werden so bis zur Erschöpfung geplündert.

Eine Umkehr ist noch möglich, das geht aus dem IPBES-Bericht hervor. Wie sehen Sie die Chancen und Entwicklungen der nächsten 30 Jahre konkret?

Es gibt ein Wunschbild, das mich antreibt: dass wir die Bekämpfung der Ungleichheit auf die Reihe kriegen und damit global in der Lage sind, nachhaltiger zu wirtschaften. Ich bin nicht zu pessimistisch und glaube nicht, dass wir völlig untergehen. Wenn es extrem wird, sind wir anscheinend doch fähig, umzusteuern – siehe Corona. In Bezug auf das Klima oder sonstige ökologische Krisen braucht eine Umkehr allerdings Jahrzehnte. Das muss stärker in den Köpfen verankert werden. Auf europäischer Ebene, glaube ich, kommen wir da hin.

Und wie sieht es global aus?

Die Trumps und Bolsonaros dieser Welt sind in der Zukunft hoffentlich nicht mehr so zahlreich, aber das weiß man nicht. Dennoch bleibe ich eher optimistisch. Mein Engagement ist auch ein Indikator dafür, dass ich glaube: Man kann etwas bewirken.

Terra Mater Interview Josef Settele Artenschutz Foto: Thomas Victor
Josef Setteles Spezialgebiet sind Schmetterlinge, doch das ist nur ein Aspekt seiner Forschung. Anhand der Insekten, einem auf Umweltveränderungen besonders schnell reagierenden Teil innerhalb der Artenvielfalt, lässt sich die gegenseitige Abhängigkeit von Arten und Ökosystemen gut aufzeigen.

Es bräuchte dafür aber wohl eine komplette Neuorientierung unserer Gesellschaft.

Ja, das ist im Prinzip auch das, was wir geschrieben haben. Das Wesentliche ist die Frage des Mindsets – das, was wir als wichtig empfinden. Ist das Bruttoinlandsprodukt wirklich das Maß der Dinge? Es scheint vielen wichtig zu sein, dass man einen dicken SUV fährt; das sind gesellschaftliche Indikatoren für Wohlstand, die aber meist nicht wirkliches Wohlbefinden anzeigen. Darüber sollte man mehr nachdenken. Immer mehr Menschen sind in diese Richtung unterwegs, gerade in der jüngeren Generation. Es geht darum, die Wertschätzung zu ändern im Sinne unserer Umwelt, unserer Natur, unseres langfristigen Überlebens; im Gegensatz zu kurzfristigen Gütern, die im sozialen Umfeld momentan angesagt sind.

Es gilt also, andere Prioritäten zu setzen.

Genau. Das ist im althergebrachten Familienverbund aber gar nicht einfach. Ich komme aus dem Allgäu, einer eher konservativen Ecke. Wenn man dort allerdings mit dem Einzelnen spricht, hört man: „Natur ist schon wichtig. Das muss man schon bedenken.“

So etwas muss aber auch vor einem großen Forum gesagt werden dürfen. Was hält die Menschen davon ab?

Zum Beispiel die Angst davor, Liebgewonnenes zu verlieren. Da zeigt sich eine geringe Risikobereitschaft, was auch für das soziale Umfeld gilt, in dem es abweichende Meinungen schwerer haben. Ich muss aber auch sagen, dass entsprechende Ansichten oft gar nicht mehr so abweichend sind und sich in Richtung Mehrheitsfähigkeit entwickeln. Das macht Hoffnung.

Gehen wir vom Großen ins Kleine: Sie sind Insektenexperte. Viele Menschen können mit dem Krabbelgetier jedoch nur wenig anfangen. Wie kann eine neue Wertschätzung von Natur gerade am Beispiel der Insekten gelingen?

Natürlich sind da „Streicheltiere“ wie Biene Maja, Schmetterlinge und Co ein guter Einstieg. Ich habe noch kein Patentrezept, aber den Eindruck, dass die Offenheit nach und nach größer wird. Das hat natürlich viel mit dem Thema Bestäubung zu tun, aber auch mit anderen -Funktionen. Klar, eine Wespe auf dem Pflaumenkuchen mag keiner. Aber man muss das Thema Insektenschutz dennoch regelmäßig auf die Agenda bringen, denn viele Ökosystemleistungen sind sehr stark mit Insekten verbunden. Sie sind unter anderem eine zentrale Grundlage der Nahrungsketten.

Im täglichen Leben etwas machen: Jeder Einzelne kann das einfacher, als man derzeit glaubt.

Josef Settele, Agrarbiologe und Artenschutzexperte

Wie schaffen Sie es, für solche Anliegen offene Ohren zu finden?

Vor allem durch einen persönlichen Draht. Vor einiger Zeit war ich zum Beispiel bei einer Veranstaltung des niederösterreichischen Jagdverbands. Da war der Zugang, dass viele jagdbare Vögel Insekten brauchen. Das ist ganz
gut gelaufen. Wir haben uns zunächst auf das konzentriert, wo wir uns einig waren, und die Knackpunkte erst später aus-gepackt. Man muss akzeptiert werden als Gesprächspartner, das ist das Essenzielle; dann kann man auch Themen vorbringen, die nicht ganz so gemütlich sind, bei denen dann aber die Leute im Einzelnen sagen: „Ja, da hast du vielleicht sogar recht, aber wie wollen wir das denn hinkriegen?“ Und ich antworte: „Indem du so denkst und es deinen Nachbarn sagst!“ Das ist eine wesentliche Komponente.

Die Biodiversität als ein gesellschaftlicher Prozess, den man nicht von oben herab vorgeben kann, sondern der sich in der Bevölkerung entwickeln muss?

Wir dürfen das Top-down, wie vorhin gesagt, keineswegs ausschließen, aber das kann nur erfolgen, wenn ein entsprechendes Fundament vorhanden ist. Der Politiker macht das, was ihm in Zukunft die Wählerstimmen bringt. Also muss man dafür sorgen, dass die Wähler so orientiert sind, dass der Politiker das Richtige macht.

Die „ökologische Infrastruktur“ ist ein wichtiger Aspekt beim Schutz der Artenvielfalt. Können Sie dieses Konzept genauer erläutern?

Ich verwende statt „ökologische Infrastruktur“ auch den Begriff „Landschaftsmöblierung“. Es geht darum, Strukturvielfalt zu schaffen und Biotope miteinander zu verbinden. Ökologische Infrastruktur kann grün oder blau – für Gewässer – sein. Wenn ich zum Beispiel eine Hecke in Kombination mit einem Waldsaum und einem blühenden Ackerrandstreifen habe, ist das eine
ideale Insektenautobahn. Wir Fachleute verwenden diese Bezeichnungen auch, weil wir wegwollen vom Ökofreak-Image. Infrastruktur war früher nur grau, durch diese Neudefinition erfährt der Begriff eine positivere Ausrichtung und verschafft in der Diskussion Gehör.

Hecken zu pflanzen und Blühstreifen zu säen scheint ja nicht schwierig zu sein. Warum passiert das denn so selten?

Es gibt bereits Ansätze, wo das durchaus funktioniert. Im F.R.A.N.Z.-Projekt zum Beispiel (die Abkürzung für das von der Umweltstiftung Michael Otto und dem Deutschen Bauernverband initiierte Projekt bedeutet „Für Ressourcen, Agrarwirtschaft & Naturschutz mit Zukunft“; Anm.) arbeitet man mit Landwirten zusammen, die solche Strukturen schaffen und dafür gar nicht groß subventioniert werden. Die Bauern stellen aber selbst fest, dass es für sie keine negativen Auswirkungen gibt und zum Teil positive Effekte eintreten. Einer, den ich persönlich kenne, macht das als Ferienhofkonzept neben der Landwirtschaft, ein „Greening“ seines Betriebes als Gegenstand von Ökotourismus. Das ist total spannend.

Der Mensch muss mehr Chaos zulassen.

Josef Settele, Agrarbiologe und Artenschutzexperte

Einiges davon könnte man doch auch direkt vor der eigenen Haustür umsetzen, wenn man den Vorgarten nicht ständig rappelkurz mäht.

Der Inbegriff des Horrors sind für mich diese Mähroboter. Der Mensch muss mehr Chaos zulassen, auch im Garten, dann hat man viel mehr Vielfalt. Bienenhotels sind mittlerweile akzeptiert, sie nutzen allerdings nur wenigen Spezies – aber immerhin. Offene Bodenstellen dagegen sind für viel mehr Arten interessant. Die lassen sich so leicht erstellen: Einen kleinen Hügel mit Thymian bepflanzen, die Erde bleibt unbedeckt, und fertig. Man muss gar nicht viel machen. Hie und da offener Boden, anderswo ein bisserl Laub liegen lassen, ein paar verrammelte Ecken … Natürlich muss sich das Empfinden von Ästhetik dementsprechend anpassen – da geht es letztlich auch wieder um die Grundhaltung. Aber das wird langsam. Es gibt mehr Offenheit, doch der Wandlungsprozess ist ein zäher.

Terra Mater Interview Josef Settele Artenschutz Foto: Terra Mater Books
Das Buch zum Thema: Neue Werte zum Wohl der Welt. Das Buch „Der Zustand der Welt“ (Kurt de Swaaf, Terra Mater Books) fasst den aktuellen Bericht des Welt­biodiversitätsrats IPBES (einer Teilorganisation der Vereinten Nationen) zusammen, in dem Fachleute unterschiedlichster Disziplinen aufzeigen, wie es um die Artenvielfalt auf dem Blauen ­Planeten wirklich steht. Die große Katastrophe ist nicht unausweichlich: Die Natur hat gewaltige Kräfte. Machen wir sie zur Basis unseres Handelns, können wir die Zukunft neu gestalten.

Nicht alle Menschen haben ein eigenes Stück Grund und Boden. Wie kann, wie soll ein jeder von uns seinen Beitrag leisten?

Jeder muss in seinem Kontext sehen, was er tun kann. Das fängt sehr lokal an, etwa im Garten. Der nächste Schritt ist das Konsumverhalten – Produkte kaufen, von denen ich weiß, wie sie erzeugt wurden; nachhaltig Produziertes und ökologischen Landbau fördern. Dann ist da die Frage, wie man das Ganze in die Breite bringt. Also sollte man politische Bewegungen unterstützen, die solche Anliegen auf anderen Ebenen einbringen. Im täglichen Leben etwas machen, das kann jeder Einzelne einfacher, als man oft glaubt. Und was immer wichtig ist: Offenheit und respektvoller Umgang miteinander – egal wer wie tickt. Wenn man mit Vorurteilen herangeht, kommt man gar nicht weiter.

Dieses Gespräch erschien erstmals im Terra Mater Magazin 2/2021.

Abo
Angebot für Terra Mater-Jahresabo mit Schreibset
  • 30€ für Ausgaben Terra Mater jährlich

  • Terra Mater Buff-Tuch als Geschenk

  • Zugang zur Terra Mater Society

Zum Angebot