Himalaya: Für einen Becher Yak-Blut

Jeden Morgen, wenn die Sonne die Nebelschwaden vertrieben hat, verlässt Chandra Singh Thakali sein Zelt, um nach dem Rechten zu sehen. Er trägt eine verschlissene Trekkingjacke und eine altmodische Kappe aus farbigem Baumwolltuch, wie sie seine Nachbarn nur aufsetzen, wenn sie zu einem Volksfest gehen. Auf einem Felsvorsprung bleibt er kurz sitzen, wärmt sich und streckt seine verspannten Glieder. Von hier aus überblickt er die gesamte Weide, genannt Nupsang Kharka.
In diesem Jahr quäle ihn sein schmerzender Rücken, klagt der 69-jährige Mann, der den Namen seines Volkes, Thakali, als Nachnamen trägt. „Der Winter war so lang und hart wie seit vielen Jahren nicht mehr“, sagt er. „Ich musste mit meinen Yaks tief ins Tal hinabsteigen, um Gras auf den Weiden zu finden. Hier oben lag der Schnee einen halben Meter hoch.“
Jetzt endlich ist es Frühling geworden. Überall blühen purpurrote Rhododendren. Ist der Himmel wolkenlos, tauchen im Westen der 8.167 Meter hohe Dhaulagiri und im Osten der gut tausend Meter niedrigere Nilgiri in ihrer ganzen Pracht auf. Zwischen den beiden hat sich der Fluss Kali Gandaki mit Schmelz- und Gletscherwasser die tiefste Schlucht der Welt gegraben.

Hier oben, auf der etwa fünf Fußballfelder großen Weide, grasen rund 60 Yaks, urtümlich wirkende Rinder mit zotteligem Fell und ausladenden Hörnern. Die meisten Tiere sind dunkelbraun bis schwarz, einige haben aber auch helle Flecken auf dem Rücken und rund ums Maul. Die Bullen sind deutlich größer als die Weibchen. „Sie könnten über 500 Kilo wiegen“, erklärt Chandra, während sein Blick aufmerksam über seine Herde schweift. Als eine Yak-Kuh, die er bereits vermisst glaubte, hinter einem Felsen hervortritt, entspannt sich der Mann sichtlich.
Jedes einzelne Tier ist wichtig. Hier in der Region Mustang, im Norden Nepals, stellen die Yaks eine der ganz wenigen Einnahmequellen dar, und das schon seit Menschengedenken: Felsenzeichnungen und Knochenfunde zeigen, dass wilde Yaks hier bereits vor etwa 5.000 Jahren gehalten wurden. Seit damals sind sie die wichtigsten Nutztiere für die Völker im zentralasiatischen Hochland, dank ihrem hohen Nutzwert. Sie liefern Fleisch und Milch, dazu noch Leder und Wolle, aus denen Zelte, Decken und Teppiche gemacht werden. Ihr Dung dient als Brennmaterial und wird als Dünger über die Felder gestreut. Die Menschen nutzen die Yaks auch als Lasttiere im bergigen Gelände, da sie trittsicher sind und bis zu 100 Kilo tragen können, sowie als Zugtiere zum Pflügen der Felder. Neuerdings liefern die Yaks im Frühjahr noch einen weiteren Beitrag zum Auskommen der Hirten – ihr Blut.
Die Yaks auf der Weide drängen sich dort, wo Chandra am Morgen etwas Salz gestreut hat. Der Hirte zeigt auf die Kälber, die unbeholfen ihren Müttern hinterhersteigen: „Wir haben im April vier Kälber bekommen“, sagt er stolz: „Und drei Weibchen sind noch trächtig.“
Schon Chandras Vater hielt Yaks, er selbst ist Yak-Hirte, seit er denken kann. Als Chandra noch ein Junge war, habe fast jede Thakali-Familie Yaks gehalten. „Manche zogen im Sommer bis nach Tibet, um ihre Tiere dort grasen zu lassen“, erinnert er sich. „Wir Kinder haben mehr Zeit auf an den Weiden verbracht als im Dorf.“ Ganz selbstverständlich kümmerte sich damals jede Familie um die Tiere. Das Ansehen eines Mannes wurde daran gemessen, wie viele er besaß. „Heute ist alles anders“, winkt der Alte ab. Wer sich heute mit Yaks abgibt, ist entweder ein gewitzter Geschäftsmann oder ein Träumer, der in den Tieren vor allem einen Kulturträger sieht.
Yaks sind an das Leben im Himalaya bestens angepasst. Wenn es kalt wird, halbieren sie ihre Atemfrequenz auf nur noch zehn Schnaufer pro Minute. Damit überstehen sie selbst minus 40 Grad Celsius. Die meisten der rund 100.000 nepalesischen Yaks sind inzwischen Kreuzungen aus Hausrind und Ur-Yak. Die Zahl der reinrassigen Tiere wird auf weltweit nur noch 10.000 bis 15.000 Exemplare geschätzt, Tendenz sinkend.
Als der Hirte Chandra noch ein Kind war, hat sich der Status eines Mannes an der Zahl seiner Yaks bemessen. Aber den jungen Leuten im Tal ist die Arbeit mit den Yaks zu mühsam. Also gehören heute die größten Herden findigen Geschäftsleuten, für die ein Yak nicht mehr ist als ein Investment.




Eisiger Wind kommt auf und treibt die Wolken ins Tal von Kali Gandaki, wie so oft am frühen Nachmittag. Chandra sucht Schutz in seinem Verschlag, den er sich in der Mitte der Weide aus Steinen, Bambusleisten und Plastikplanen errichtet hat. Sein Leben in 3.200 Meter Höhe ist einsam und karg. Eine Feuerstelle dient als Wärmequelle und Kochgelegenheit. Für die Nacht rollt er ein Schaffell auf dem mit Heu ausgelegten Boden aus und deckt sich mit einer dünnen Decke zu. Alle zehn Tage steigt er die 500 Höhenmeter hinab in sein Dorf, um Proviant zu holen. Manchmal kommt sein Sohn zu ihm auf die Weide. „Ich hoffe sehr“, sagt Chandra, „dass er die Herde eines Tages übernimmt.“
Was aber auch der Sohn längst weiß: Er würde sich damit auf ein riskantes Geschäft einlassen – denn diese Tiere sind komplizierte Charaktere. „Ihre Seele ist wild“, so beschreibt es der Hirte Sokhendra Gochan, stolzer Besitzer von54 Yaks. Die Tiere fressen kein Heu und lassen sich auch nicht mit der Hand füttern – selbst wenn sie dann verhungern.
Und es sind die Yaks, die das Leben der Hirten bestimmen, nicht umgekehrt. Im Winter geht es ins Tal, im Sommer hinauf auf die 3.000 bis 4.000 Meter hoch gelegenen Weiden. Dabei wahren die Hirten immer einen gewissen Respektabstand zu den grasenden Yaks. Um die Herde zu dirigieren, rufen sie oder werfen Steine – doch die Yaks nehmen diese Signale bloß als Anregung auf, nicht als Befehl. Angebunden werden die Tiere niemals. „Deshalb musst du jeden Morgen all jene Yaks suchen, die sich von der Herde entfernt haben“, schimpft Gochan: „Immer musst du aufpassen, dass sie nicht von Klippen stürzen oder sich im Wald verlaufen.“ Die Hirten legen deshalb bereits Kälbern ein Halsband mit Glocke an, um sie ein-facher zu finden.
SCHUTZGEIST MIT HÖRNERN
Und dann sind da noch die Schneeleoparden. Die wurden früher bejagt und hielten sich da-her fern von Hirten und Herden. Doch seit 1992 ist die gesamte Region Teil des Nationalparks Annapurna. Seither stehen die Raubtiere unter Schutz, und das scheinen sie bemerkt zu haben. Zunehmend verlieren sie ihre Scheu. Fünf Kälber hat allein Sokhendra Gochan im vorangegangenen Winter an die Raubkatzen verloren. „Manchmal zünden wir nachts ein Feuer an, um sie abzuschrecken“, sagt Gochan. „Ansonsten können wir nur schreien und Steine werfen.“
Früher wurden Yaks wegen ihrer Stärke in ganz Nepal verehrt und in Tempeln angebetet. An vielen Häusern wurden Yak-Schädel und-Hörner angebracht: Die Geister der Tiere sollten böse Kräfte fernhalten. Doch diese Tradition droht zu verschwinden. „Die jungen Leute glauben heute einfach nicht mehr daran“, beobachtet Ratna Kumar. „Sie wollen auch keine Yaks mehrbesitzen, mit denen sie zu Fuß über die Bergpässe ziehen. Sie wollen, dass der Staat Straßen baut, auf denen sie mit ihren Motorrädern hin und her fahren können.“
Der 54-Jährige lebt in Larjung, einem Dorf mit 800 Einwohnern, direkt am Fluss. Er hat es geschafft, mit kargen Weiden, störrischen Rindviechern und einer guten Idee reich zu werden. Seine Herde umfasst 220 Tiere, Abnehmer für Yak-Produkte hat er in den Städten gefunden, in Pokhara und Kathmandu. „Leute aus unserem Tal betreiben dort gut gehende Restaurants, die versorge ich mit Yak-Fleisch“, erklärt Ratna Kumar sein Geschäftsmodell.
Im Winter hat er 20 Yaks geschlachtet und zu Sukuti verarbeitet, zu monatelang haltbarem Trockenfleisch. „Ein Kilo kostet 5.000 bis 6.000 Rupien“, kalkuliert der Händler, 40 bis 48 Euro: „Ein großes Yak ergibt 100 Kilo Sukuti.“
Das beste Sukuti wird aus den Schenkeln der Tiere gewonnen. Ratna Kumar zerschneidet sie in bis zu zwei Zentimeter breite und 30 bis 40 Zentimeter lange Streifen, die er im Haus unter der Decke zum Trocknen aufhängt. Wichtig ist der Zeitpunkt: „Zwischen Ende Dezember und Ende Jänner ist es kalt und die Luft äußerst trocken“, sagt er. Dann braucht er nur die Fenster im Sukuti-Raum weit aufzumachen, und nach drei Wochen ist das Trockenfleisch fertig. Es hat einen intensiven, leicht salzigen Geschmack und wird meist gekocht oder gebraten serviert, mit Reis, eingelegtem Gemüse und Saucen.
Und dann gibt es seit einigen Jahren noch eine Methode, die störrischen Yaks zu Geld zu machen: Jedes Jahr richten die Hirten aus dem Kali-Gandaki-Tal ein Yak-Festival aus, das zehn Tage dauert – praktischerweise im Frühjahr, wenn es wenig Yak-Milch gibt und es zu warm ist für die Produktion von Trockenfleisch. Das Fest zieht hunderte Besucher an, nicht zuletzt aus der Hauptstadt Kathmandu. Und das, obwohl die Anreise per Bus über abenteuerliche Pisten führt und 18 Stunden dauert. Doch die Menschen kommen. Und sie kommen, um Yak-Blut zu trinken.
„Man muss die Ader längs anschneiden“, erklärt Gowinda Serchan, ein Hirte aus dem Dorf Boksi Khola, die Prozedur und zeigt auf sein Werkzeug: Ein Stück Metall, das am Ende eine 1,5 Zentimeter breite Klinge bildet. Gowinda tritt an ein Yak heran, das von zwei Männern an den Hörnern festgehalten wird. Ein Dritter bindet dem Tier die Vorderbeine zusammen, dann packt er es am Hinterteil. Das Yak wittert die Gefahr, versucht sich mit aller Kraft loszureißen. Doch es hat keine Chance: Gowinda legt ihm eine Leine um den Hals, tastet den Hals ab, reißt ein paar Büschel Wolle heraus, um sich besser orientieren zu können. Dann sticht er die Halsader an.
BLUTAUFFRISCHUNG
Sofort strömt Blut aus der Wunde. Die Menschen fangen es mit Plastikbechern auf und trinken zügig. Das Blut ist warm, dickflüssig, schmeckt etwas salzig und verursacht Aufstoßen. Es riecht nicht, macht die Zunge beim Trinken aber etwas taub. „Meine Eltern haben mir schon als Kind Blut zu trinken gegeben“, erzählt Gowinda Serchan: „Es sollte mich stark und unempfindlich gegen Erkältungen machen.“ Damals fand die Zeremonie eher im familiären Rahmen statt. Viele Menschen in Nepal glauben an die Heilkräfte von Yak-Blut, weil sich die Tiere in der Wildnis des Himalaya von verschiedenen Heilpflanzen ernähren. Vor allem bei Entzündungen der Magenschleimhaut, bei bakteriellen Infektionen des Verdauungstraktes und anderen Verdauungsproblemen soll Yak-Blut Wunder wirken. Wissenschaftlich bewiesen ist das nicht.
Jeden Morgen, kurz nach dem Frühstück, versammeln sich die Teilnehmer auf dem Festivalgelände am Boksi-Fluss und schauen dem Ritual des Blutlassens zu. Sie haben sich zuvor registriert und warten, bis sie an der Reihe sind. Dann geht alles ganz schnell, das Blut fließt und füllt die Becher.
Manche Besucher, überwiegend Buddhisten, müssen sich dabei sichtlich überwinden. Die Vorstellung, Tierblut zu trinken, verstört sie. Vor allem Frauen tun sich schwer, verziehen beim Trinken ihr Gesicht und spülen nach dem letzten Schluck ihren Mund mit Wasser aus. Manche essen eine Prise Szechuanpfeffer, um den Nachgeschmack zu vertreiben. Dann marschieren sie ein wenig hin und her, machen Kniebeugen und tanzen sogar, weil sie meinen, dass sich das Yak-Blut dann besser im Körper verteilt.
Die Yaks nehmen die Prozedur trotz allen Unbehagens äußerlich ungerührt hin, selbst wenn jedem Tier zwischen 15 und 25 Becher Blut abgezapft werden. Danach lassen die Männer das Tier laufen: Die Wunde, eben noch durchdas Beugen des Nackens offen gehalten, schließt sich sofort. Die Yaks staksen davon, wi-ken verschreckt, ein wenig gebremst, aber sonst unbeeinträchtigt. Sie werden sich schnell erholen.
Insgesamt folgt das Festival festen Regeln, festgelegt von einem Komitee der Yak-Halter, dem zwölf Yak-Besitzer angehören. Die wichtigste Regel lautet: Jeden Tag ist ein anderer Besitzer dran. Die Reihenfolge wird vor dem Festival per Los bestimmt. „Davon hängt dein Geschäft ab“, sagt Gowinda Serchan, der seit einem Jahr den Vorsitz im Komitee hält. „Am ersten Tag kommen nicht so viele Leute, erst danach steigen die Besucherzahlen deutlich an.“







Das Komitee legt auch den Preis des Blutes fest. In diesem Jahr sind es 250 Rupien, das entspricht etwa zwei Euro oder dem Wert von fünf großen Wasserflaschen. An einem belebten Festtag verkaufen die Yak-Halter 400 bis 600 Becher.
Die meisten Besucher kommen für mehrere Tage nach Boksi Khola, denn die Heilwirkung des Blutes, so der Volksmund, stellt sich erst nach fünf bis sieben Bechern ein. Man dürfe aber auf keinen Fall eine gerade Zahl an Bechern trinken, denn „grade Zahlen bringen Unglück“, sagt Tomaia Pun. Die lustige 69-Jährige ist zum zweiten Mal in Boksi Khola. „Letztes Jahr ist meine Gastritis nach der Blutkur deutlich besser geworden“, erzählt sie. „Das Blut gibt mir Energie und macht mich glücklich.“ Als würde sie ihre Aussage beweisen müssen, fängt sie an zu tanzen.
Die Organisation des Festes ist sehr routiniert. Die Yak-Halter haben am Fluss mehrere große Zelte aufgebaut, darin übernachten die Festivalteilnehmer. Dort wird auf einfachen Gaskochern Essen zubereitet, meist Reis mit eingelegtem Gemüse, dazu nach Wunsch ein bisschen Hühnchen-Curry. Und jeden Tag werden Yaks geschlachtet. Ihr Fleisch ist etwas dunkler als das der Hausrinder und enthält deutlich weniger Fett. Die besten Stücke garen die Frauen langsam in scharfer Chilisauce, bis sie ganz zart sind.
Aus dem faschierten Rest entsteht die Füllung für die typischen nepalesischen Momo-Teigtaschen. Kein Stückchen wird vergeudet: Innereien werden in der Pfanne gebraten, Schädel und Hufe landen zerkleinert im Suppentopf.
Das Festival ist auch in diesem Jahr ein Erfolg. Mit dem Verkauf von Blut und Fleisch haben die Hirten über zwei Millionen Nepalesische Rupien eingenommen, jeder von ihnen kehrt mit dem Gegenwert von etwa 1.500 Euro nach Hause zurück. Davon können die Familien ein gutes halbes Jahr leben.
Das Geld wird in der Region dringend benötigt, denn nicht alle Thakali verfügen über einen Geschäftssinn wie Sukuti-Händler Ratna Kumar. Schon gar nicht Om Prasad Gauchan. Er hat fünf Jahre Nepalesisch und Mathematik an einer Dorfschule unterrichtet, danach ging er nach Malaysia, arbeitete dort in einem Restaurant. Vor acht Jahren kehrte er zurück und investierte sein Erspartes in eine Yak-Herde. „In der Schule hatte ich ständig Vorgesetzte, das war unerträglich“, sagt der 37-Jährige. „Jetzt bin ich mein eigener Herr, und ich kann tun, was mir gefällt.“
Reich ist Om Prasad Gauchan mit den Yaks jedenfalls nicht geworden. Das verraten auch seine schwarze Jacke aus billigem Kunstleder und die einfache blaue Mütze, die er sich tief über die Ohren zieht. Auch seine Tennisschuhe sind nicht mehr die neuesten. Macht alles nichts: Om ist gern draußen in der Natur. „Die Yaks strahlen eine unglaubliche Ruhe aus“, sagt er. „Ich kann stundenlang dasitzen und beobachten, wie sie sich bewegen, so elegant und geschmeidig.“
Während er noch schwärmt, rutscht unten am Fluss eines seiner Kälber aus, schlittert ins Wasser und kämpft mit der Strömung. Der Hirte zögert keine Sekunde, läuft nach unten, springt ins knietiefe, eisig kalte Wasser und watet zum Kalb. Als er es erreicht, hebt er es mit einem Ruck an die Brust und trägt es zum Ufer zurück. Dann setzt er sich wieder hin und schaut wieder gelassen seiner Herde zu, als wäre nichts passiert.
Die Reportage erschien im Terra Mater Magazin 05-2019.

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