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Riems: Ein Leben auf der Seucheninsel

Ansteckende Krankheiten aus den Tropen bedrohen Europa. Auf der Ostseeinsel Riems bereiten sich ein Insektenexperte und eine Virologin auf die Ankunft der neuen Erreger vor.
Text: Irene Habich, Fotos: Heinrich Holtgreve / 14 Min. Lesezeit
Kristina Maria Schmidt in ihrem Schutzanzug. Foto: Heinrich Holtgreve
Kristina Maria Schmidt in ihrem Schutzanzug.
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Helge Kampen erwärmt das Blut auf Körpertemperatur, so mögen es seine Schützlinge am liebsten. Dann pumpt er es in den Käfig. Die Insassen haben Hunger. Gierig schwirren die Mückenweibchen heran und saugen sich voll, bis ihre winzigen Leiber ganz aufgebläht sind. Nur wenn sie mit Blut gefüttert werden, können sie Eier legen.

Dutzende weiße Boxen mit Mücken stehen in Kampens Labor aufgereiht. Andere Behälter sind mit Wasser gefüllt, darin wimmeln Mückenlarven. Sie bewegen sich zuckend, wie winzige Aale. Im Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) auf der Ostseeinsel Riems züchtet Laborleiter Kampen Mücken, Fliegen und Zecken, die Krankheiten übertragen können und damit zum Risiko für Menschen werden.

Besonders interessieren ihn exotische Arten, die sich als Folge des Klimawandels nun erstmals auch in Europa ausbreiten. Experten wie Kampen, aber auch Beobachter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) registrieren diese Entwicklung mit Sorge. Sie befürchten, dass sich infolge auch tropische Krankheiten bei uns etablieren könnten.

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Die Forschungsobjekte: Mücken. Foto: Heinrich Holtgreve
Die Forschungsobjekte: Mücken.

Boxen voller Tigermücken

Gleich mehrere Boxen in Kampens Labor sind mit Aedes albopictus befüllt, der asiatischen Tigermücke. Ursprünglich nur in China, Japan und Südkorea heimisch, besiedelt die Tigermücke heute 19 Länder Europas. Auch in Mitteleuropa wird sie immer öfter gesichtet, und das scheint noch nicht das Ende ihres Eroberungszuges zu sein.

Mit ihrem Stich kann Aedes albopictus das West-Nil-Virus, das Dengue-Virus oder das Chikungunya-Virus auf den Menschen übertragen. Bisher kommen solche Erreger eher nur in tropischen Regionen vor. Sie lösen fieberhafte Erkrankungen aus, die sogar zum Tod führen können. Es wäre also durchaus sinnvoll, die weitere Ausbreitung der Tigermücke zu stoppen. „Wir weisen seit Jahren auf die Gefahren hin“, sagt Helge Kampen. Nun müsse endlich etwas passieren.

Die Mückenboxen im Labor sind nach den Orten beschriftet, an denen Aedes albopictus gefunden wurde. „Rimini“ oder „Mauritius“ steht da, aber eben auch „Freiburg“. Kampen vermehrt die Mücken, um sie dann zu untersuchen: Welche stammen aus derselben Population? Wie gut sind sie an die neue Umgebung angepasst? Haben sie sich bereits genetisch verändert? Das sind die Fragen, die den Wissenschafter interessieren.

Laborboxen für die Insekten. Foto: Heinrich Holtgreve
Laborboxen für die Insekten.

Der Kreislauf versagt. Wie in Zeitlupe sinkt der Forscher im gelben Schutzanzug zu Boden. Ein Herzinfarkt? Jetzt heißt es schnell handeln, denn hier drinnen, im Hochsicherheitslabor, kann ihm niemand helfen. Sein Kollege greift ihm unter die Arme und zieht ihn in die Schleuse.

Er duscht den Anzug des Ohnmächtigen mit Säure ab, dann seinen eigenen. Dann muss er beiden die Kleidung wechseln. Minuten vergehen, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Alles muss streng nach Vorschrift ablaufen, sonst könnten tödliche Viren entweichen. Der Notfallmediziner kann den zusammengebrochenen Wissenschafter erst außerhalb des Labors in Empfang nehmen. Da rappelt sich der Reglose plötzlich auf – es ist nur eine Übung.

Kristina Maria Schmidt hat alles hoch konzentriert mitverfolgt. Sie absolviert im Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin ein letztes Sicherheitstraining. In wenigen Monaten wird sie selbst im Friedrich-Loeffler-Institut auf Riems im Hochsicherheitslabor arbeiten.

Mit diesen Schläuchen lässt sich der Schutzanzug aufblasen. Foto: Heinrich Holtgreve
Mit diesen Schläuchen lässt sich der Schutzanzug aufblasen.

Vorbereitung auf neue Erreger

Hantieren mit gefährlichen Insekten, Trainieren für die Arbeit mit tödlichen Keimen: Das ist Teil des Alltags auf Riems. Hier, auf der kleinen Insel vor der Küste Deutschlands, versuchen Wissenschafter, sich auf alte und vor allem auf neue Bedrohungen aus der Welt der Viren und Keime vorzubereiten. Welche Krankheiten werden wie übertragen? Welche neuen Erreger breiten sich durch den Klimawandel in Europa aus?

Die Lage des Instituts auf der Insel ist bewusst gewählt. Der Namensgeber der Forschungseinrichtung, der Bakteriologe Friedrich Loeffler, war 1910 hierher gleichsam verbannt worden, weil ihm bei seinen Untersuchungen zur Maul- und Klauenseuche immer wieder Erreger entkommen waren.

Das kostete einige Kühe rund um seinen Heimatort Greifswald das Leben. Also musste der Forscher auf die Insel, weitab von fremden Ställen – hier stellte seine Forschung keine Gefahr mehr dar. Seit damals hat das Institut eine wechselhafte Geschichte hinter sich – und blickt heute, als Forschungszentrum von Weltrang, auf eine spannende Zukunft.

Wichtige Informationen, die man nicht übersehen sollte. Foto: Heinrich Holtgreve
Wichtige Informationen, die man nicht übersehen sollte.

Kristina Maria Schmidt hat die Angewohnheit, ihr Gegenüber mit festem, fast irritierend klarem Blick zu fixieren. Wenn sie von ihrer Arbeit spricht, lächelt sie aber, ja sie strahlt: „Für mich ist die Arbeit hier der Traumjob.“ Schmidt ist 36 Jahre alt und gehört zu den raren Experten für tödliche Viren.

Schon für ihre Abschlussarbeit in Virologie befasste sie sich mit den gefährlichsten Vertretern der Gattung, mit Ebola und dem Marburg-Virus. In einem Labor in den Rocky Mountains hantierte sie zum ersten Mal selbst mit infektiösen Erregern, die einen Menschen in kurzer Zeit töten können.

Als in Westafrika Ebola ausbrach, flog Schmidt nach Sierra Leone, testete in einem mobilen Labor fünf Wochen lang Blutproben auf das Virus. Macht das Experimentieren im höchsten Gefahrenbereich denn niemals Angst? „Wer Angst hat“, sagt Schmidt, „der ist da fehl am Platz.“

Räumlichkeiten des Forschungsinstituts. Foto: Heinrich Holtgreve
Räumlichkeiten des Forschungsinstituts.

Das Sicherheitslabor S4

Eine wie Schmidt hatten sie auf Riems noch gesucht. Bald nimmt das neue Sicherheitslabor der Stufe vier (S4) den Betrieb auf. Schon jetzt bereiten sich die Wissenschafter in Testläufen auf die Arbeit unter strengsten Schutzvorkehrungen vor.

Das Riemser S4-Labor wird eine außergewöhnliche Einrichtung sein – weltweit gibt es bisher erst zwei seiner Art, eins in Kanada, eins in Australien. Forscher werden dort an Großtieren mit gefährlichen Viren experimentieren können.

Solche Versuche sind wichtig, weil Säugetiere häufig als Reservoir für Zoonosen dienen – Krankheiten, die zwischen Mensch und Tier hin und her übertragen werden. Haus- und Wildtiere können von Erregern befallen sein, mitunter ohne selbst zu erkranken. Beim direkten Kontakt oder über Mücken- oder Zeckenstiche können auch Menschen angesteckt werden. Und das kann tödlich enden.

Auch die Institutsgänge sind klinisch sauber zu halten. Foto: Heinrich Holtgreve
Auch die Institutsgänge sind klinisch sauber zu halten.

Im S4-Labor wird Schmidt Krankheiten wie das Krim-Kongo-Hämorrhagische Fieber erforschen. Zecken der Gattung Hyalomma übertragen den Erreger, ein Virus, von Schafen, Ziegen oder Kühen auf den Menschen.

Es gibt sie bisher nur in Asien, Afrika und im Südosten Europas. Doch infolge der Klimaerwärmung ist es möglich, dass Hyalomma-Zecken auch in Deutschland heimisch werden – und mit ihnen die Viren.

Tierexperimente im S4-Labor sollen zeigen, wie sich Menschen und Tiere besser vor dem Virus schützen lassen. Und Helge Kampen könnte die Hyalomma-Zecken für Schmidts Versuche züchten.

Zukünftige Versuchstiere. Foto: Heinrich Holtgreve
Zukünftige Versuchstiere.

Die Tiere, mit denen die Virologin arbeiten wird, werden das Labor nicht mehr lebend verlassen.

Das Verwaltungsgebäude des Friedrich-LoefflerInstituts atmet Geschichte. Riems war Reichsforschungsanstalt unter den Nazis, die DDR produzierte hier Impfstoffe für Schweine. Damals war die Insel nur per Boot oder Seilbahn erreichbar, die Angestellten lebten hier.

Gegen die Langeweile gab es eine Kegelbahn, ein Fußballfeld und einen Segelverein. Im Treppenhaus hängt sozialistische Kunst: Forscher bei der Arbeit, porträtiert vom Maler Hans Neubert – Männer in weißen Kitteln schlachten Kühe aus, zapfen kopfüber hängenden Schweinen Blut aus dem Hals ab.

Heute verbindet ein Damm Riems mit dem Festland, doch das Forschungsgelände ist eingezäunt, zwei Tore und ein Drehkreuz muss man passieren. Mitarbeiter tragen Chips mit Transpondern bei sich, die die Türen zum Laborbereich öffnen. Zugang hat jeder nur zu den Bereichen, die er für seine Arbeit betreten muss.

Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, Riems

Sicherheit ist hier wichtiger denn je, seit neben Tierkrankheiten auch Zoonosen erforscht werden. Auf Riems fanden Experimente mit Prionen statt, den Erregern von BSE, besser bekannt als Rinderwahnsinn.

Und als die Vogelgrippe in Europa ausbrach, karrte man hunderte tote Schwäne hierher: Die Experten sollten untersuchen, ob sie an der Virusvariante H5N1 gestorben waren, die auch Menschen getötet hatte.

Wer diese Dramen ausblendet, erlebt Riems als schönen Ort, umsäumt von goldgelbem Schilf und hellblauem Ostseewasser, Möwengeschrei weht übers Eiland. Alpakas grasen friedlich in ihrem Gehege, daneben Schafe und eine Burenziege. Wildschweine und Kühe stehen in kleinen Ställen mit Auslauf, in einem Käfig krähen Hähne – die Tiere werden als Blut- und Serumspender für Experimente gehalten.

Es gibt einen großen Tank für die Fischzucht und auf einem Hügel am Rande der Insel sogar einen Bienenschwarm – alles für Forschungszwecke. Zwei langgezogene Neubautrakte beherbergen die Laboreinheiten.

Seit Jahren weisen wir auf die Risiken der neuen Seuchen hin – aber ich rechne schon nicht mehr damit, dass wirklich etwas passiert.

Helge Kampen, Virologe
Ein Schaf genießt seinen Freigang. Foto: Heinrich Holtgreve
Ein Schaf genießt seinen Freigang.

Also alles in bester Ordnung, Herr Kampen?

Von wegen. „Seit Jahren weisen wir auf die Risiken der neuen Seuchen hin – aber ich rechne schon nicht mehr damit, dass wirklich etwas passiert.“ Im Fall der asiatischen Buschmücke etwa sei es bereits zu spät: „Die werden wir nicht mehr los.“ Bei der Tigermücke gelte es jetzt zu handeln.

An Kampens Bürofenster fliegen Möwen vorbei. Im Regal steht eine Sammlung in Plexiglas gegossener käferartiger Insekten. Es sind Raubwanzen, sie zählen zu Kampens Forschungsgebiet. Die Blutsauger übertragen vor allem in Mittel- und Südamerika die Chagas-Krankheit, eine Parasitose, von Haus- und Wildtieren auf den Menschen.

Kampen sitzt am Schreibtisch und zeichnet. Fast liebevoll malt er mit dem Kugelschreiber eine Gelbfiebermücke nach. Auf ihrem Brustteil trägt sie ein weißes Muster, das an eine Leier erinnert, ein mittelalterliches Musikinstrument. Das Brustteil der Tigermücke – Kampen zeichnet eine daneben – ziert nur ein einfacher weißer Längsstreifen.

Helge Kampen Foto: Heinrich Holtgreve
Helge Kampen

Diesen Unterschied könnte ein Laie mit gutem Auge vielleicht noch erkennen. Echte Experten wie Kampen aber, die sich mit Insekten als Krankheitsüberträgern auskennen, sind in Ländern wie Deutschland Mangelware. Seit es hier keine Malaria mehr gibt, sei das Gebiet vernachlässigt worden, sagt er. Mit dem Klimawandel drohen nun neue Gefahren.

Als am FLI eine Stelle frei wurde, hatte Kampen gerade einen Job in Yale. Der Mückenexperte kehrte zurück. „Es gab sonst nicht viele, die den Job hätten machen können“, sagt er. Kampen hält es für seine Pflicht, Aufklärung zu betreiben. Zusammen mit anderen Wissenschaftern hat er jetzt ein Positionspapier verfasst und an etliche Landesbehörden verschickt. Sie schildern darin den Ernst der Lage und fordern, die Ausbreitung der Insekten einzudämmen.

Es gab sonst nicht viele, die den Job hätten machen können

Helge Kampen, Virologe

Bevor sich Aedes albopictus in einem neuen Land ausbreiten kann, muss sie erst einmal dorthin gelangen. In Deutschland wird sie oft an Autobahnraststätten entlang der A5 gesichtet, einer wesentlichen Lkw-Route aus dem Süden. Das Insekt wird mit dem Fernverkehr eingeschleppt.

„Die Tigermücke ist überaus aggressiv“, sagt Kampen. Wie ein blutrünstiges Raubtier setzt sie Menschen nach, an denen sie ihren Durst stillen will. So verfolgt sie zum Beispiel einem Lkw-Fahrer aus Padua bis in die Fahrerkabine und wird von ihm von Italien nach Deutschland gefahren. Beim ersten Stopp in Süddeutschland entweicht sie – und fühlt sich dank des milder werdenden Klimas gleich wohl.

Auf einem Friedhof im Osten von Freiburg gelang es einigen Tigermücken bereits, den mitteleuropäischen Winter zu überstehen. Ein Anzeichen dafür, dass sich die Blutsauger dauerhaft ansiedeln könnten. Dass die Insekten auch hier tödliche Tropenkrankheiten übertragen können, ist damit zwar noch nicht gesagt, im Falle von Aedes albopictus ist die Wahrscheinlichkeit allerdings hoch. In Norditalien infizierten sie im Jahr 2007 mehr als 200 Personen mit dem Chikungunya-Virus. Ein Mensch starb an den Folgen.

Intelligentes Institutsgebäude: Rechts sind Ställe untergebracht, links Labors. Foto: Heinrich Holtgreve
Intelligentes Institutsgebäude: Rechts sind Ställe untergebracht, links Labors.

Doch das ist nicht das einzige Argument für die entschlossene Bekämpfung der Tigermücke. Das Insekt könnte noch weitere Krankheiten übertragen. Welche, das will Kampens in seinen Versuchen ermitteln. Er wird den Tigermücken mit Viren infiziertes Blut zu trinken geben. Dann wird er sehen, wie leicht sie die Erreger übertragen. Neben West-Nil-, Chikungunya- oder Dengue-Viren kann die Tigermücke womöglich sogar das Zika-Virus verbreiten. Aedes albopictus, sagt Kampen, ist aber nicht einmal das größte Problem.

Er plant auch Versuchsreihen mit Mücken, die schon seit langer Zeit bei uns heimisch sind. Die bange Frage hier lautet: Können auch sie tropische Krankheiten übertragen, wenn es in Zukunft wärmer wird?

Allmählich wacht auch die Politik auf. Das Landwirtschaftsministerium fördert inzwischen groß angelegte Forschungsprojekte, um die Mückenvermehrung zu überwachen. Zu den Projekten gehört etwa der seit 2012 geführte „Mückenatlas“: Jedermann ist aufgefordert, Mücken zu fangen und zur Bestimmung an das FLI oder das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung zu schicken. Die Experten wollen so mehr über die Ausbreitung verschiedener Arten erfahren.

Virenträger: die Mücke. Foto: Heinrich Holtgreve
Virenträger: die Mücke.

Auch wir sind natürlich besorgt, dass sich die Situation durch den Klimawandel verschlimmert.

Erik Schmolz, Fachgebietsleiter für Gesundheitsschädlinge im Umweltbundesamt

Woran liegt es, dass bis heute nur beobachtet, aber kaum bekämpft wird? Ein Problem sei schlicht die Zuständigkeit, erklärt Erik Schmolz, Fachgebietsleiter für Gesundheitsschädlinge und ihre Bekämpfung beim deutschen Umweltbundesamt (UBA). Weder die Gesundheits- noch die Umwelt- oder landwirtschaftlichen Länderbehörden fühlen sich wirklich zuständig.

„Auch wir sind natürlich besorgt, dass sich die Situation durch den Klimawandel verschlimmert“, sagt Schmolz. Die Ausbreitung der Tigermücke würde er gerne „je früher, desto besser“ möglichst schonend stoppen. Eine Methode: Die Larven lassen sich mit dem Gift eines Bakteriums abtöten, das für Menschen unschädlich ist. Allerdings könnten dem Gift auch die Larven der Zuckmücke zum Opfer fallen, die wiederum Fledermäusen als Nahrung dienen.

Zurück im Hochsicherheitslabor

Wenn Kristina Maria Schmidt hier arbeiten will, muss sie ihre komplette Kleidung wechseln und den Bereich der Sicherheitsstufe 3 durchqueren. Nach einem zweiten vollständigen Kleidungswechsel betritt sie durch eine Schleuse den Bereich der Sicherheitsstufe 4.

Hier stülpt sie sich den Kopfschutz über, der rundum durchsichtig ist und an den Helm eines Tiefseetauchers erinnert. Dann greift sie nach einem der blauen Schläuche, die von der Decke baumeln, und schließt den Schutzanzug daran an.

Rasch füllt sich die Hülle mit Luft, wobei sich ihre Arme und Beine wie Würste aufblähen. Die Luft im Anzug bildet eine weitere Schutzschicht zwischen Forscherin und Viren.

Das Labor selbst ist durch eine Glasfront einzusehen, Besucher können so mitverfolgen, wie Schmidt das Labor betritt. Die Forscher sollen zwar isoliert, aber nicht im Geheimen arbeiten – bei der Forschung mit gefährlichen Viren ist die Akzeptanz der Bevölkerung ungemein wichtig. Bis jetzt hat sich die Offenheit bezahlt gemacht: Größere Proteste gegen die Arbeit auf der Seucheninsel gibt es nicht.

Blick auf Riems vom Festland aus. Foto: Heinrich Holtgreve
Blick auf Riems vom Festland aus.

Schmidt bewegt sich jetzt ein bisschen so wie ein Astronaut auf dem Mond. Einmal drinnen im Hochsicherheitslabor, darf die Forscherin nicht mehr essen, nicht trinken und nicht aufs WC. Der stete Luftstrom im Schutzanzug trocknet den Körper aus. „Es besteht die Gefahr zu dehydrieren, deshalb ist die Arbeitszeit auf vier bis fünf Stunden begrenzt“, sagt Schmidt. Die Vorgänge im Labor werden stets über Video und Funk überwacht. Wird ein Forscher ohnmächtig, löst das automatisch Alarm aus.

Obwohl das Labor erst im Testbetrieb läuft, werden alle Regeln penibel eingehalten. Alle Arbeitsschritte werden geprobt, damit später, bei den Versuchen mit echten Viren, nichts schiefgeht. 20 bis 30 Testläufe muss jeder absolvieren, der hier experimentieren will.

Die Sicherheitsvorkehrungen kann man bedrohlich finden, verdeutlichen sie doch die Gefahr, sich mit einem tödlichen Erreger zu infizieren. Für Schmidt bedeuten die Vorkehrungen ganz einfach eines: Sicherheit. Schmidt machen tödliche Viren nicht nervös. Sie bereiten ihr Freude. Was Schmidt nervös macht, ist, nach fünf Uhr nachmittags Kaffee zu trinken.

Es besteht die Gefahr zu dehydrieren, deshalb ist die Arbeitszeit auf vier bis fünf Stunden begrenzt

Kristina Maria Schmidt, Virologin

In ihrem Astronautengang stapft die Wissenschafterin jetzt zum Kühlschrank des Labors und nimmt etwas heraus. Neben den richtigen Handgriffen muss sie auch den Umgang mit Versuchstieren lernen. Wie zapft man Kühen Blut ab? Wie nimmt man ihnen die Angst vor den Schutzanzügen?

Die Tiere, mit denen die Virologin arbeiten wird, werden das Labor nicht mehr lebend verlassen. Zu groß wäre das Risiko, dass sich dadurch Krankheitserreger verbreiten. Also werden die Tiere am Ende der Versuche getötet und in einem Digester entsorgt – einer Maschine, die sie mit Druck, Hitze und konzentrierter Lauge auflöst, bis nur noch Flüssigkeit übrig bleibt. Kristina Maria Schmidt liebt Tiere. Sie sagt, sie freue sich auf die Arbeit mit ihnen.

Was muss ein Hochrisikoforscher mitbringen?

Gründliches, sauberes Arbeiten und ein guter Blick für Sicherheitsmängel fallen Schmidt dazu ein: „Solche Dinge sollten einem ins Blut übergehen – oder am besten schon im Blut liegen.“

In den USA klopfte man Schmidt auch auf ihre charakterliche Eignung ab, bevor sie ins S4-­Labor durfte. Zum psychologischen Multiple-Choice­-Test gehörten Fragen mit Bezug zum Straßenverkehr. Man riet ihr außerdem, die Kollegen im Auge zu behalten. Verhielt sich einer davon seltsam? Kurz zuvor hatte jemand Sporen des Milzbranderregers Anthrax an Senatoren verschickt.

Die Amerikaner waren nervös – was, wenn jemand Viren entwendet und als biologische Waffe einsetzt? Schmidt wurde schließlich als Low­-Risk­-Typ eingestuft und durfte ins Labor.

Wenn es eine Fähigkeit gibt, die für Forscher in Hochsicherheitslabors lebenswichtig ist, dann die, im Notfall Ruhe bewahren zu können.

Wenn es eine Fähigkeit gibt, die für Forscher in Hochsicherheitslabors lebenswichtig ist, dann die, im Notfall Ruhe bewahren zu können. Schmidt kann das. Einmal geriet sie privat in Gefahr: Beim Rafting kenterte sie und wurde ins Wasser geschleudert. Plötzlich war das Boot über ihr – bei Unfällen immer wieder eine tödliche Falle.

Statt jedoch in Panik zu geraten, spulte die Forscherin wie automatisch genau jene Handlungen ab, die man ihr für den Notfall empfohlen hatte. Sie ließ das Paddel los, öffnete unter Wasser die Augen, um sich zu orientieren und unter dem Boot hervorzukommen. Anschließend drehte sie sich auf den Rücken und richtete ihre Füße nach vorn aus, so würde sie nicht mit dem Kopf gegen Steine zu stoßen. Sie wurde unverletzt gerettet. Sollte im Labor doch einmal etwas schiefgehen, wird Kristina Maria Schmidt ganz sicher das Richtige tun.

Beim Verlassen des Labors muss Schmidt ihren Schutzanzug gründlich mit Säure desinfizieren, dann duschen und Haare waschen. Danach durchläuft sie dieselben Schleusen und erledigt die gleichen Vorkehrungen wie beim Weg hinein – nur in umgekehrter Reihenfolge.

Während die Virologin ihre Laborübung beendet, beginnt es auf der Insel Riems langsam zu dämmern. Draußen grasen die Alpakas, die Möwen kreischen. Einige Flure weiter ist Helge Kampen dabei, die nächste Fütterung für seine Mücken vorzubereiten. Es gibt frisches, warmes Blut.

Teil eines Schutzanzugs. Foto: Heinrich Holtgreve
Teil eines Schutzanzugs.

Die Hierarchie der Bio-Laboratorien

  • S1 – einfach sauber: „Sicherheitsstufe 1“ reicht für das Hantieren mit Substanzen, von denen eine geringe Infektionsgefahr ausgeht. Es gelten grundlegende Hygienestandards, es gibt einen Umkleideraum zum Anlegen der Laborkleidung und eine Waschgelegenheit. Das Inventar ist flächig und leicht zu reinigen.

  • S2 – sauber und sicher: Hier haben nur noch namentlich bekannte Mitarbeiter Zutritt. Gebrauchte scharfe Gegenstände müssen sicher entsorgt werden. Notwendig für das Arbeiten mit infektiösen Materialien.

  • S3 – reine Luft: Vorgeschrieben für Arbeiten mit lebensbedrohlichen Erregern. Im Arbeitsraum herrscht Unterdruck, die Abluft wird gefiltert. Zutritt gibt es nur durch ein versperrbares Schleusensystem.

  • S4 – alles dicht: Hier wird mit Erregern gearbeitet, die beim Menschen kaum behandelbare Krankheiten auslösen – Mehrfachschleusen, Vollkörperschutzanzüge etc. Auf Riems wird so die Verbreitung von Erregern aus der Tierwelt gebannt.

Alltagskleidung im Labor. Foto: Heinrich Holtgreve
Alltagskleidung im Labor.

Infektionskrankheiten: Warum der Krieg nicht zu gewinnen ist

Im Mai 2016 schlug die Weltgesundheitsorganisation WHO besonders schrill Alarm. „Was wir derzeit beobachten, sieht mehr und mehr wie ein dramatischer Anstieg der Bedrohung durch neue und wiederauferstehende Infektionskrankheiten aus“, ließ die Leiterin der Behörde, Margaret Chan, verlautbaren. Die Welt sei „nicht genügend vorbereitet, um damit fertigzuwerden“.

Ansteckende Krankheiten als globale Gefahr? Wirklich? Lange Zeit hatte es doch so ausgesehen, als wären von Viren, Bakterien, Parasiten oder Pilzen übertragbare Seuchen so gut wie besiegt: Verbesserte Hygiene, sauberes Trinkwasser, Antibiotika, Schutzimpfungen – all das trug zum Selbstbild einer fast schon umfassend immunen Menschheit bei.

Ende der 1960er­ Jahre meinten einige Experten sogar, der Kampf gegen Infektionskrankheiten sei so gut wie gewonnen. Und in den vergangenen fünf bis zehn Jahren sind jährlich immer weniger Menschen an den großen Killern Aids, Malaria oder Tuberkulose zugrunde gegangen. Wo also liegt das Problem von Frau Chan?

In Harz gegossene Virenträger. Foto: Heinrich Holtgreve
In Harz gegossene Virenträger.

Das Problem liegt im Wandel. Der passiert in der Welt des Mikroskopischen so wie beim Weltklima, im Konsumverhalten, in der Technologie und der Gesellschaft. Jeder einzelne dieser Faktoren führt dazu, dass bekannte oder bisher unbekannte Krankheitserreger auf neuen Wegen zum Menschen finden. Dazu einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:

  • HIV: Ein nahe verwandtes Virus des Aids­-Erregers kursierte unter Affen und Menschenaffen. Mutmaßlich durch den Verzehr von Affenfleisch sprang der Erreger bereits 1902 auf den Menschen über. Zur globalen Seuche wurde das Virus aber erst durch Veränderungen sozialer Normen in Afrika und durch Reisende.

  • Vogelgrippe: Grippeviren sortieren ihre Gene ständig neu. Der Erreger der Vogelgrippe, nach seinen Oberflächen­-Bestandteilen H5N1 genannt, entstand durch Vermischung ähnlicher Virenstämme im Jahr 1996 auf einer Gänsefarm in der chinesischen Provinz Guangdong.

    Um die Seuche einzudämmen, wurden 1,5 Millionen Hühner gekeult, doch es war zu spät. Durch Wildvögel und Handel mit infizierten Geflügelprodukten breitete sich der Erreger über Asien, Europa und Teile Afrikas aus. Nach Angaben der WHO sind bis heute 450 Menschen an einer H5N1­-Infektion gestorben.

  • Ebola: Der Erreger kursierte unter Flughunden oder Wildschweinen in Afrika. Vermutet wird, dass das Virus zunächst auf Affen übertragen wurde und durch den Genuss von Affenfleisch zum Menschen kam. 70 Prozent aller infizierten Menschen sterben an den Folgen der Infektion.
    Seit dem Ausbruch der Seuche im Jahr 2014 fielen ihr mehr 11.000 Menschen zum Opfer. Begünstigt wurde der Ausbruch auch durch den Bürgerkrieg in Liberia, der das regionale Gesundheitssystem zerstört hatte.

  • SARS: Das severe acute respiratory syndrome wurde erstmals im November 2002 in der chinesischen Provinz Guangdong beobachtet. Zum Menschen könnte das Virus durch den Verzehr von Schleichkatzen gekommen sein. Es gilt als besonders bedrohlich, weil es ständig mutiert und nicht nur die Atemwege, sondern auch Wirbelsäule, Milz und Nieren angreifen kann.

  • Zika: Das Virus wurde bereits 1947 in Uganda nachgewiesen. Reisende brachten es wiederholt nach Europa, Polynesien und von dort nach Lateinamerika. Dort kam es ab 2015 zu einer hohen Zahl von Infektionen. Zika wird durch Mücken übertragen und kann, bei einer Infektion im ersten Schwangerschaftsdrittel, zu schweren Schädigungen des Fötus führen.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, Juni 2016.

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