Pocken: Wie eine Impfung die Krankheit besiegte

Wir schreiben den den 14. Mai 1796. Und wir schreiben Medizingeschichte. Die Mitwirkenden: Blossom, eine rot-braun-weiß gefleckte Kuh, die auf den saftigen Wiesen der Grafschaft Gloucestershire im Südwesten Englands groß geworden ist. Sarah Nelmes, eine Viehmagd, der nach dem Melken von Blossom auf der rechten Hand unschöne Pusteln wachsen: Kuhpocken, eine zwar unangenehme, aber für den Menschen vergleichsweise harmlose Infektion.
Dr. Edward Jenner, Landarzt in Berkeley, der knapp dreißig Jahre zuvor erstmals davon gehört hat, dass jemand, der Kuhpocken hatte, keine Menschenpocken bekommen würde. Und schließlich der kerngesunde James Phipps, der achtjährige Sohn von Jenners Gärtner. Er ist der wahre Held dieser Geschichte. Ein guter Arzt braucht ein waches Auge, eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Und er darf nicht feig sein.
Edward Jenner nimmt am 14. Mai 1796 von Sarah Nelmes Arm infektiösen Eiter ab und ritzt ihn in den Arm von James Phipps ein. Es ist der ungefährlichere Teil des Experiments: Der Bub wird in den nächsten Tagen an den Einstichstellen ebenfalls Pusteln entwickeln, die milde Form der Kuhpocken, die sich schnell zurückbilden. Dazu noch leichtes Fieber, das nach wenigen Tagen abklingt. Die Immunabwehr des Kindes ist plangemäß angesprungen. Der riskantere Teil folgt am 1. Juli 1796.
Jenner wiederholt die Prozedur an dem jungen Phipps, dieses Mal aber mit Menschenpocken, dem gefürchteten Variolavirus. Es gehört zu den tödlichsten Viren, die wir kennen. Wieder entwickelt der Bub die typischen Läsionen. Aber er erkrankt nicht. Spezielle Gedächtniszellen des Immunsystems, seit der ersten Impfung entsprechend programmiert, erkennen die Pockenviren und können sie erfolgreich bekämpfen.
Die Kuhpocken dienten nur als – ungefährlicher – Sparringpartner, um den Gegner kennenzulernen und im Ernstfall – den Menschenpocken – schnell und gezielt zuschlagen zu können. Diesem Prinzip folgt die Impfung bis heute.
Die Pocken waren das Killervirus des 18. Jahrhunderts. 400.00 Menschen starben jährlich.
Edward Jenner löst an diesem Tag den Startschuss für den Wettlauf gegen eine Krankheit aus, der rund 180 Jahre später gewonnen werden wird. Die Pocken sind die einzige Infektionskrankheit der Welt, die vollständig ausgerottet ist.
Der englische Landarzt kann zu dieser Zeit nicht wissen, was ein Virus ist. Er weiß auch nicht, wie das Immunsystem funktioniert. Aber er weiß, dass „die Ausrottung der Pocken, der schrecklichsten Geißel der Menschheit“, das Ziel der von ihm entwickelten Impfung sein müsse, wie er schon 1801 in seinem Buch „The Origin of the Vaccine Inoculation“ („Der Ursprung der Kuhpocken-Impfung“) schreibt.
Jenner formuliert diese Zeilen 58 Jahre bevor Charles Darwin sein Buch „Die Entstehung der Arten“ veröffentlicht. Gut 80 Jahre bevor Louis Pasteur mit der Entwicklung von im Labor erzeugten Impfstoffen der Immunologie den nächsten wichtigen Impuls verleiht. Und 91 Jahre bevor der russische Biologe Dmitri Iwanowski das Virus als Krankheitserreger entdeckt und definiert.

Edward Jenner hat das Impfen nicht erfunden. Das war in Europa schon seit dem frühen 18. Jahrhundert gebräuchlich, in Asien wesentlich länger. Jenner hat auch nicht die schützende Wirkung der Kuhpocken entdeckt. Das war überliefertes Volkswissen.
Edward Jenner hat jedoch mit der zweifachen Impfung von James Phipps erstmals den sicheren und wirksamen Schutz gegen die Pocken auf wissenschaftlicher Basis nachgewiesen – und damit einen unverrückbaren Eckstein in der Geschichte der Immunologie gesetzt.
Louis Pasteur wird zu Ehren Jenners für die Impfung den bis heute allgemein gebräuchlichen Begriff der „Vakzination“ einführen. Vakzination leitet sich vom lateinischen „vaccinus“ ab, „von Kühen stammend“ (auch wenn inzwischen kein Impfstoff mehr von Rindern gewonnen wird).
Die Pocken waren das Killervirus im Europa des 18. Jahrhunderts. 400.000 Menschen starben jährlich, die Todesrate lag bei 30 Prozent und mehr, betroffen waren vor allem Kinder. Und die Überlebenden mussten nicht nur mit hässlichen Narben zurechtkommen, sondern auch mit anderen Folgen wie etwa Erblindung.
Was die Pocken von Seuchen wie der Pest und der Cholera, die Europa in den Jahrhunderten davor plagten, unterschied: Mit bloßen Hygienemaßnahmen war ihnen nicht beizukommen. Pockenviren werden unter anderem über die Luft übertragen, per Tröpfcheninfektion, wie zum Beispiel auch Grippeviren.

Echt und falsch
Orthopocken sind die „echten“ Pocken, die unterschiedlich gefährlich sind. Zu den Orthopockenviren zählen neben den Menschenpocken (Variola )unter anderem die für Menschen ungefährlichen Kuh- und Affenpocken.
Der Trick ist: Mit allen Orthopockenviren lassen sich die Menschenpocken erfolgreich bekämpfen.Pseudopocken sind, wie der Name schon sagt, „falsche“ Pocken. Dazu gehören die Pseudokuhpocken, die beim Menschen den sogenannten Melkerknoten auslösen können, oder der Lippengrind bei Schafen.
Wichtig ist: Pseudopocken wirken nicht als Impfstoff gegen die echten Pocken – auch wenn echte und falsche Kuhpocken äußerlich kaum zu unterscheiden sind.
Pockenviren trafen ihre Opfer ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Stand.
Maria II., Königin von England († 1694);
Joseph I., Kaiser von Österreich († 1711);
Ludwig I., König von England (†1724);
Peter II., Zar von Russland (†1730);
Ludwig XV., König von Frankreich († 1774)
Sie alle starben an den Pocken. Andere überlebten, waren aber für ihr Leben gezeichnet: Kaiserin Maria Theresia, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Wolfgang von Goethe, um nur die ganz prominenten Beispiele zu nennen. Man sollte also davon ausgehen, dass viele Gemälde dieser Zeit ein ziemlich geschöntes Bild zeigen. Porträts wie jenes des von Pusteln und Narben übersäten Medici-Großherzogs Ferdinand II. sind Raritäten der Kunstgeschichte.
Der Krankheit war also große öffentliche Aufmerksamkeit in Politik und Gesellschaft sicher – ging es doch immer auch um das eigene Leben beziehungsweise jenes der eigenen Kinder.
Die Möglichkeiten der Ärzte hingegen waren überschaubar. „Alles in allem“, beschreibt Wolfgang Eckart, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg, den Stand der Medizin am Anfang des 19. Jahrhunderts, „war das eine therapeutisch eher hoffnungslose und lebensgefährliche Epoche.“

In der Pharmazie wurden aus der giftigen Fingerhutpflanze erste Herzpräparate gewonnen, „die Fingerhüte standen eben herum“, so Eckart. Am weitesten fortgeschritten war die Chirurgie. Es wurden Hautlappen transplantiert, Luftröhrenschnitte durchgeführt, Harnblasensteine entfernt, Blutgefäße operiert. Und es wurde amputiert. Vorstellen mag man sich keine dieser Operationen. „Es gab im Grunde keine Anästhesie, es gab keine Antisepsis. Operiert wurde schmutzig, blutig, schmerzhaft, schnell. Das senkte die Erfolgsrate dramatisch“, skizziert Eckart die damalige Praxis.
Im frühen 18. Jahrhundert erreichten England erste Berichte aus der Türkei über ein möglicherweise wirksames Mittel gegen die Pocken: die Inokulation, das Impfen, auch „Variolation“ genannt (nach dem lateinischen „variola“ für Pocken), eine der großen Innovationen islamischer Medizin.
Diese frühe Variolation unterschied sich von Jenners Vakzination in einem entscheidenden Detail: Die Impfung erfolgte mit dem Sekret echter, wenn auch möglichst mild verlaufender Menschenpocken. Sie konnte daher unangenehme Nebenwirkungen entwickeln: die Pocken selbst – bis hin zur Auslösung neuer Epidemien. Die Ansteckungsgefahr von Pocken war weitgehend unbekannt, das medizinische Verständnis dieser Zeit ging von einer körperlichen Säftereinigung aus, die der Mensch eben durchmachen müsse.
Trotz der nicht unbeträchtlichen Gefahren: Das Risiko lohnte sich, die Sterblichkeitsraten lagen bei zwei bis drei Prozent, waren also um eine Vielfaches geringer als bei Nichtgeimpften.
Der Werdegang von Edward Jenner
Auch Edward Jenner wird 1757 im Alter von acht Jahren auf diese Weise geimpft. Zu dieser Zeit ist der Sohn eines protestantischen Landpfarrers bereits Vollwaise: Beide Elternteile sterben 1754 innerhalb eines Jahres. Mit 13 beginnt er die Lehre bei einem Chirurgen und Wundarzt, 1770 schließlich geht er nach London zu einem der berühmtesten Chirurgen seiner Zeit, John Hunter, im Krankenhaus St. George.
Beide Männer wird eine lebenslange Freundschaft verbinden, beide sind echte Generalisten der Naturwissenschaften, interessieren sich neben der Chirurgie für Botanik, Zoologie, Ornithologie, Geologie. John Hunter legt eine riesige Sammlung tierischer und menschlicher Präparate an, die heute in der Londoner „Hunterian Collection“ zu sehen ist.
Jenner wird 1788 für seine Arbeiten über das unkooperative Nestverhalten der jungen Kuckucke in die angesehene Royal Society aufgenommen. Vom Abenteurer James Cook wird er schon 1772 eingeladen, ihn auf seine zweite Weltumsegelung zu begleiten. Edward Jenner lehnt ab. Er ist kein Abenteurer. Im selben Jahr geht er zurück nach Berkeley und eröffnet seine Landpraxis.
Er ist auch kein Hitzkopf, der übereilt zum Messer greifen würde: Fast 25 Jahre wartet er, bis er die Kuhpockenimpfung in der Praxis erprobt. Ungewöhnlich lange für einen Schüler John Hunters, der bekannt dafür ist, nicht zu lange nachzudenken und schnell das Experiment zu suchen. Um zu belegen, dass Tripper und Syphilis dieselbe Geschlechtskrankheit sind, infiziert sich Hunter selbst mit dem Erreger eines seiner Patienten. (Und bekommt prompt beide Krankheiten. Was im Nachhinein nur bewies, dass die Auswahl vertrauenswürdiger Teilnehmer bei manchen Versuchen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis haben kann.)

Hunter und Jenner diskutieren auch die Pockenimpfung. Dennoch wagt Jenner das Experiment erst drei Jahre nach Hunters Tod 1793. „Er war wohl auch ein Zauderer“, meint Gareth Williams, Professor an der Universitätsklinik von Bristol und Autor von „Angel of Death“, einem umfangreichen, spannend geschriebenen Buch über die Geschichte der Pocken und Edward Jenner.
„Auslöser könnte gewesen sein, dass er von John Fewsters Versuchen wusste.“ Fewster war ein Apotheker und Chirurg wenige Kilometer von Jenner entfernt und impfte im Frühjahr 1796 – ungefähr zur selben Zeit wie Jenner – drei Kinder mit dem Kuhpockenvirus.
Wer zuerst impfte, Fewster oder Jenner, ist eine müßige Frage: Beide waren bestenfalls Zweite. Die erste Kuhpockenimpfung wird Benjamin Jesty zugeschrieben, einem Landwirt im ebenfalls nicht weit entfernten Dorset, der bereits 1774 seine Kinder auf diese Weise zu schützen versuchte.
Die Kirche empfand die Impfung als ungebührlichen Eingriff in Gottes Vorsehung und Wille.
Die Idee war reif. Aber es brauchte jemanden, der ihr das nötige Drehmoment verlieh, um tatsächlich abzuheben. Einen wie Edward Jenner.
Nachdem er 1796 James Phipps erfolgreich geimpft hat, gewinnt das Thema für Jenner an Bedeutung und Dringlichkeit. Er schreibt ein erstes, kurz gefasstes Papier und reicht es an der Royal Society in London zur Veröffentlichung ein. Von dort bekommt er es postwendend zurück – mit einer eindrücklichen Warnung. Die Veröffentlichung der Arbeit könne seiner wissenschaftlichen Reputation schweren Schaden zufügen, schreibt die ehrwürdige Gesellschaft. Tatsächlich ist die in dem Papier präsentierte Datenlage noch ein wenig dünn.
Nach weiteren Versuchen publiziert Jenner seine Erkenntnisse 1798 in Eigenregie: „An Inquiry Into the Causes and Effects of the Variolae Vaccinae“ („Eine Untersuchung über Ursachen und Folgen der Kuhpocken“). In seiner Arbeit dokumentiert er insgesamt 23 Fälle, darunter auch Sarah Nelmes (Fall 16) und James Phipps (Fall 17). Das Werk hat Stärken und Schwächen.
So weist der Autor etwa selbst darauf hin, dass man darauf achten solle, echte und falsche Kuhpocken auseinanderzuhalten, ohne diese nicht ganz unwesentliche Information jedoch genauer auszuführen. Die falschen Kuhpocken lösen die gewünschte Immunreaktion nämlich nicht aus. „Sie sind aber von den echten Kuhpocken klinisch kaum zu unterscheiden“, erklärt Gerd Sutter, Chef der Virologie an der Veterinärmedizin der Universität München. Gut möglich also, dass Jenner fallweise einfach großes Glück hatte.
Operiert wurde schmutzig, blutig, schmerzhaft, schnell. Das senkte die Erfolgsrate dramatisch.
Geschichte der Pockenimpfung nach Jenner
Die Geschichte der Pockenimpfung ist auch lange nach Jenner von erstaunlichen Ungenauigkeiten begleitet. Erst um 1950 entdeckt man, dass nicht wie angenommen das Kuhpockenvirus, sondern das im Serum wirksame Vacciniavirus, ebenfalls ein Pockenvirus, die Immunisierung auslöst. „Und das, ohne dass man gewusst hätte, woher es kommt“, erzählt Experte Sutter. „Man weiß es bis heute nicht. Wir vermuten von mittlerweile ausgestorbenen Wildpferden.“
Edward Jenners Verdienste sind jedenfalls unbestritten: Er ist der Erste, der eine – zumindest in Einzelfällen kontrollierte – Studie über die Kuhpockenimpfung durchführt. Er beweist auch, dass der Impfstoff genauso wirksam ist, wenn er nicht direkt von der Kuh stammt, sondern von einem frisch geimpften Menschen abgenommen wird. Diese Arm-zu-Arm-Weitergabe ist anfangs die wesentliche Voraussetzung für die Verbreitung der Impfung. Denn Kuhpocken gibt es nur in Europa, und auch da eher selten.
Vor allem aber dokumentiert und veröffentlicht er seine Ergebnisse, sucht und findet Verbündete, treibt die Anwendung gegen Widerstände von unterschiedlichsten Seiten voran, verfasst in den folgenden Jahren weitere Schriften und Bücher zur Pockenimpfung. „Anders als viele Ärzte seiner Zeit hielt er seine Erkenntnisse nicht geheim und machte sein Wissen allen zugänglich“, beschreibt Biograf Gareth Williams den Schlüssel für den Erfolg der Arbeit Jenners.
Gleichzeitig ist diese Offenheit aber auch verantwortlich dafür, dass sich schon bald nach der Veröffentlichung seines ersten Buches die Gegner Jenners formieren. Teile der Kollegenschaft fürchten um ihr Einkommen: Die Variolation mit ihrer aufwendigen Nachbetreuung, die sich für gewöhnlich nur Wohlhabende leisten können, ist ein gutes Geschäft für die Ärzte.
Die Kirche ist schon gegen die frühe Form der Impfung. Sie empfindet die Schutzmaßnahme als ungebührlichen Eingriff in Gottes Vorsehung und Wille. Erst recht tritt sie gegen die Infiltrierung des Menschen mit tierischer Substanz auf. Bald kursieren wilde Geschichten über Kinder, die auf allen Vieren laufen und wie Kühe brüllen. Ein wunderbares Thema für Karikaturisten dieser Zeit. Selbst große Aufklärer wie Immanuel Kant äußern Bedenken, dass durch Jenners Kuhpockenimpfung den Menschen eine Art tierische Brutalität eingeimpft werden könnte.

Die Jennersche Schutzimpfung setzt sich dennoch schnell und rund um den Globus durch. „Weil sie offensichtlich besser und sicherer war als die bis dahin geübte Praxis der Impfung mit Menschenpocken“, so Williams.
Noch 1799 wird in London die erste öffentliche Impfanstalt eingerichtet, 1800 in Paris das „Comité médical de vaccine“ gegründet. Napoleon ist in den Jahren darauf einer der größten Verfechter der neuen Impfung, ab 1805 gehört die Vakzination zum Pflichtprogramm der Soldaten der französischen Armee.
Die erste Kuhpockenimpfung außerhalb Englands wird übrigens in Wien durchgeführt: Der Arzt Pascal Joseph Ferro impft im April 1799 drei seiner Kinder. Das Serum wurde per Post geschickt. „Mit einem Faden, den Dr. Jenner einem damals in Wien sich aufhaltenden Arzte geschickt hatte, der in einem Briefe unbedeckt, lediglich an beyden Enden angeheftet war, machte ich den 29. April 1799 den ersten Impfversuch“, berichtet Ferro. Das Verschicken von Impfmaterial ist zwar nicht besonders zuverlässig, aber immerhin möglich, da Pockenviren auch im getrockneten Zustand relativ gut haltbar sind. Ferros Kollege Jean de Carro führt im Dezember 1800 in Brunn am Gebirge die erste größere Impfaktion Österreichs durch.
Eine Impfaktion wesentlich größeren Maßstabs startet am 30. November 1803 in La Coruña, veranlasst vom spanischen König Karl IV. und unter Führung seines Arztes Francisco Javier Balmis. „Die königliche philanthropische Expedition“ wird hunderttausende Menschen in Lateinamerika und im Fernen Osten erreichen und damit in die Geschichtsbücher eingehen.
Wenngleich sie wohl nicht nur der reinen Nächstenliebe zu verdanken ist: Massive Pockenausbrüche in Südamerika gefährden die Wirtschaftsleistung in den spanischen Kolonien und damit den Nachschub an Rohstoffen und Edelmetallen. Außerdem hofft man, auf diese Weise politisch zu punkten, die Stimmung in manchen Ländern wird ohnehin immer kritischer gegenüber der Kolonialmacht.

Eine Impfung geht auf Reisen
An den lauteren Absichten von Francisco Javier Balmis gibt es keine Zweifel. Mit an Bord seines Schiffes María Pita gehen an diesem 30. November neben seinem Kollegen José Salvany auch zwanzig gesunde, ungeimpfte Waisenkinder. Sie werden später in Mexiko von wohlhabenden Familien adoptiert. Während der Überfahrt wird Kind für Kind von Arm zu Arm im Abstand von bis zu zehn Tagen geimpft, um den Impfstoff über den Atlantik am Leben zu erhalten.
Die Kanarischen Inseln erreicht Balmis am 9. Dezember, Puerto Rico am 9. Februar 1804, Kolumbien im folgenden März. Hier teilt sich die Expedition. Salvany geht Richtung Süden, nach Ecuador, Peru, Chile, Bolivien – der kränkliche Mann stirbt im Juli 1810 auf dem Weg nach Argentinien. Balmis segelt nach Kuba, anschließend nach Mexiko, von dort weiter in den Fernen Osten, auf die Philippinen und nach China. Nach drei Jahren kehrt er im September 1806 nach Spanien zurück.
Es ist die erste internationale Gesundheitskampagne dieser Welt, eine bis dahin beispiellose Expedition. Und obwohl es immer wieder Schwierigkeiten gibt – mit der Regierung, mit den lokalen Behörden, mit den ansässigen Ärzten, die die Vakzination teilweise schon selbst durchführen –, wird Balmis von der Bevölkerung in den meisten Fällen begeistert empfangen. Insgesamt sollen – die Angaben schwanken naturgemäß – bis zu eine Million Menschen geimpft worden sein (bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 25 Millionen in Lateinamerika).
Bemerkenswert ist, dass Balmis viele Grundsätze moderner Vorsorgemedizin bereits vorweg nimmt: Er eröffnet Impfzentren, die die Arbeit auch nach seiner Abreise fortführen. Er richtet sie bewusst nicht in Spitälern ein, damit die Menschen nicht glauben, krank zu sein. Er bildet lokale Ärzte aus, verfasst Anleitungen zum richtigen Impfen.
Und er sucht Meinungsbildner aus allen gesellschaftlichen Kreisen – Ärzte, Priester, Militärs –, um über sie möglichst viele Menschen zu erreichen. Am Ende dehnt er seine Reise über die Grenzen des spanischen Kolonialreichs aus, bringt die Impfung nach Macao und Kanton in China.
In Österreich wird 1836 das Impfregulativ eingesetzt, das zwar keine Impfpflicht darstellt, aber die staatliche Verpflichtung zur entsprechenden Belehrung der Bevölkerung.

Balmis und Jenner hatten, soweit man weiß, nie Kontakt zueinander. Obwohl sich Jenner selbst als „Vakzinations-Sekretär der Welt“ bezeichnete, weil er nach der Veröffentlichung seiner Bücher sehr viel Zeit investierte, um Impfmaterial zu verschicken und Briefe zu beantworten.
Jenners Werk wird in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, der Landarzt aus Gloucestershire weltberühmt. Thomas Jefferson, der dritten Präsident der Vereinigten Staaten, schreibt ihm einen überschwänglichen Dankesbrief. Napoleon trotzt er die Freilassung von zwei englischen Kriegsgefangenen ab. „Ach, Jenner, wie könnte ich ihm etwas abschlagen“, soll der große Bonaparte auf die Bitte des einfachen Landarztes geantwortet haben.
Nachdem 1810 eines seiner drei Kinder und 1815 seine Frau stirbt, zieht sich Jenner mehr und mehr zurück, widmet sich wieder verstärkt seiner alten Leidenschaft, der Naturbeobachtung. Sein letztes, vielbeachtetes Werk über die Migration von Zugvögeln erscheint erst posthum.
Edward Jenner stirbt im Jahre 1823 an den Folgen eines Schlaganfalls. Sein Lebenswerk entwickelt sich indes prächtig. In vielen Staaten wird im Laufe des 19. Jahrhunderts die Impfpflicht eingeführt. Bayern macht 1807 den Anfang, Schweden folgt 1816, England 1867, Deutschland 1874. In Österreich wird 1836 das Impfregulativ eingesetzt, das zwar keine Impfpflicht darstellt, aber die staatliche Verpflichtung zur entsprechenden Belehrung der Bevölkerung.
Die Pockensterblichkeit in Europa ging deutlich zurück. Mit den Jahren zeigten sich allerdings auch die Defizite der Methode. Ein Irrtum, an dem auch Jenner bis an sein Lebensende festhielt, war zu glauben, dass die Impfung einen lebenslangen Schutz biete. Die Erkenntnis, dass es eine Auffrischung braucht, setzte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch.
Diese Schwächen der frühen Impfung waren stets Wasser auf die Mühlen der Impfgegner.
Die Arm-zu- Arm-Impfung konnte nicht die endgültige Lösung sein, da mit ihr potenziell auch andere Infektionskrankheiten wie Syphilis oder Hepatitis weitergereicht werden können. Grundsätzlich war die Qualität der Impfstoffe – ihre Wirksamkeit, mögliche Verunreinigungen – in den ersten Jahrzehnten kaum zu kontrollieren. Erst als man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, sie auf Kälbern zu züchten, konnte ein gleichbleibender Standard des Serums sichergestellt und unbeabsichtigte Infektionen mit anderen Krankheiten verhindert werden.
1967 startet die Weltgesundheitsorganisation WHO eine weltweite Kampagne zur Ausrottung der Pocken.
Diese Schwächen der frühen Impfung waren stets Wasser auf die Mühlen der Impfgegner. Die öffentliche Meinung kippte immer wieder in die falsche Richtung. Die Bereitschaft zu impfen und sich impfen zu lassen nahm immer wieder ab und führte im Gegenzug zu neuen Ausbrüchen. 1870 erfasste Frankreich und anschließend Deutschland eine schwere Pockenepidemie. Noch tief im 20. Jahrhundert gab es Pockenausbrüche in Europa, 1950 in Glasgow, 1957 in Hamburg, 1967 in der Tschechoslowakei.
1967 startet die Weltgesundheitsorganisation WHO eine weltweite Kampagne zur Ausrottung der Pocken. Es wird rund um die Welt und rund um die Uhr geimpft. 1977 erkrankt der Somalier Ali Maow Maalin – er ist der letzte bekannte Pockenfall der Geschichte.
1980 erklärt die WHO die Pocken für ausgerottet. Und 1981 wird erstmals eine neu entdeckte Immunkrankheit beschrieben: Aids.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, April 2016.

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