Ein Hafen für Kinder

Zuerst ist das Blut zu sehen. Es schwebt als hellrote Wolke im Wasser. Die Schlieren verschwinden unter dem Bug des Bootes. Von der Robbe ragt nur ein Stück Rücken über die Wasseroberfläche, es sieht aus, als sei ein Wellenberg stehen geblieben. Über den Rand des Bootes gebeugt steht Lars, die ganze Ernsthaftigkeit seiner 16 Jahre ins Gesicht geschrieben. Er hält noch das Gewehr in der Hand, mit der er der Robbe zweimal in den Kopf geschossen hat. Als er seine Freunde in einem heranbretternden Boot entdeckt, legt er die Waffe beiseite, hebt beide Arme und streckt sie so weit in den Himmel, als wolle er die Wolken greifen. An seinen Wimpern, in seinen Augenbrauen kleben Eiskristalle.
Eine Minute später sind sie alle in einem Boot versammelt: Lars und seine Freunde Adam und Aqqalu, die beiden erwachsenen Jäger Jens Klemmensen und Simion Lovstrom. Sie vertäuen die Robbe und versuchen, sie an Bord zu ziehen. Das Seil ist zum Zerreißen gespannt, da taucht sie endlich auf – ein absurd kleiner Kopf auf einem massigen Körper. Lars und Simion Lovstrom klatschen einander ab, Aqqalu zündet eine Pfeife an, Adam nimmt einen Zug, Jens Klemmensen zieht das Seil fester um die Robbe. Sie alle dachten, diese Jagd sei der Höhepunkt des Tages gewesen. Aber sie irrten sich.
Eine neue Heimat für gezeichnete Kinder
Ihr Zuhause: 70 Grad nördliche Breite, 52 Grad westliche Länge; 590 Kilometer nördlich des Polarkreises; an der Westküste Grönlands, in einem dieser Fjorde, die aussehen wie Darmzotten. Dort steht das nördlichste Kinderheim der Welt. Es kommen dorthin nur Notfälle – Kinder, die keine Stunde länger bei ihren Eltern bleiben sollen. Dieses Heim zeigt, wie die Seelen der Kinder genesen, wenn sie das stärkste aller Medikamente einnehmen: ihr wildes, wunderschönes Land. Deshalb gehen halbwüchsige Jungen wie Lars, Adam und Aqqalu auf Robbenjagd. Und auch Mathias, 14 Jahre alt. Der sitzt in einem dritten Boot mit dem Jäger Uunartoq, der sein Urgroßvater sein könnte. „Uunartoq, stimmt es, dass du einmal ganz allein einen Eisbären erlegt hast?“ „Es war ein fliegender Eisbär, mein Junge, er kam durch die Luft auf mich zugestürzt, in letzter Sekunde riss ich mein Gewehr hoch.“
Uunartoq, stimmt es, dass du einmal ganz allein einen Eisbären erlegt hast?
Fragt der 14-jährige Mathias
Die Jagd hatte schon am Tag zuvor begonnen. Sie wollten unbedingt eine Robbe schießen. Die Grönländer sind Jäger, immer gewesen. Sie jagen Moschusochsen und Rentiere, Wale und Walrösser. Mehr Geld verdienen lässt sich heutzutage zwar mit Fischen. Aber Fische sind keine Gegner. Man lässt die Fangleine ins Wasser, wartet einige Sekunden, zieht sie wieder hoch, schon hängen drei Heilbutte an den Haken. Eine Robbe ist ein Gegner – und zwar ein hundsgemeiner. Um Luft zu holen, taucht sie kurz an der Wasseroberfläche auf, ihr Kopf verschwindet beinahe zwischen den Wellenbergen.

Kaum hat der Jäger angelegt, ist sie auch schon wieder verschwunden. Ein erfahrener Jäger erkennt am Schlag der Schwanzflosse beim Abtauchen, wohin die Robbe unterwegs ist. Er wendet sein Boot in diese Richtung, legt an und wartet. Und wartet. Wartet oft vergeblich. Viermal hat Simion Lovstrom geschossen. Nichts getroffen. Er steht am Bug, pfeift, drei kurze Töne hintereinander. Ein Lockruf für die Beute. Die hört aber nicht. Stundenlang. Gleiten über das Wasser. Unter dem Schiffsrumpf birst das Eis, Schollen ziehen knirschend vorbei. Grönlands Kälte ist nicht wuchtig; sie schleicht, nagt sich durch alle Kleidungsschichten. Erreicht schließlich den Körper.


Simion Lovstrom verteilt Kekse, hart wie gefrorener Schnee, dreht die Thermoskanne auf. Lars wirft fünf Stück Zucker in seinen Kaffee. Er steuert das Boot. Handschuhe sind etwas für Weicheier. Lars war zehn, als er seine erste Robbe tötete. Das Netz hatte er unter dem Eis ausgelegt. Ein Jäger, der ihn begleitete, schnitt die Robbe sofort auf. Sie teilten sich ein Stück von der rohen Leber. Lars dachte damals, er sei nun auch erwachsen. Am Abend in der Hütte sitzen sie alle zusammen, drei Jäger, vier Jungen, keine Robbe.


Uummannaq ist Zufluchtsort und Schutzkokon. Das ist der Grund, warum keines der Kinder in dieser Geschichte mit seinem wirklichen Namen auftaucht. Kein Name soll einer Vergangenheit zugeordnet werden können. 34 Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 20 Jahren leben im Heim auf Uummannaq. Mal hat der Vater die Mutter umgebracht, mal die Mutter den Vater. Doppelter Selbstmord, Misshandlungen, sexueller Missbrauch. Fast immer sind Drogen oder Alkohol im Spiel. Oft beides. Jedes Kind, das nach Uummannaq gebracht wird, trägt ein schweres Trauma in sich. Während Lars, Adam, Aqqalu und Mathias draußen im Fjord Robben jagen, entdeckt die Leiterin des Heims am Hals eines Mädchens Strangulationsspuren. Krankenhaus, Gespräche, Tränen. Wieder einmal. So viele Selbstmordversuche in all den Jahren. Nicht immer kamen die Helfer rechtzeitig.



Am zweiten Tag der Jagd ist Lars als einer der Ersten wach. Die anderen Jungen schlafen noch. Simion Lovstrom wäscht das Geschirr vom Vorabend, Lars trocknet ab. Ein schüchternes Lächeln, Hausarbeit passt doch eigentlich nicht zu ihm. Lars trägt eine bunte Sonnenbrille, auch im Klassenzimmer, Pudelmütze und die Hände in den Hosentaschen verborgen. Sein Lieblingswort: easy! Alles ganz einfach. Lars lebt mit seinen beiden Schwestern im Kinderheim, sie zählen die Jahre nicht mehr. In seinem Zimmer stehen Fußballschuhe auf der Kommode, im Regal Pokale und Bilder von einem Besuch in New York. Auf dem Bett eine Gitarre, an der Wand hängt eine E-Geige. In dem Orchester, das das Kinderheim gegründet hat, spielt Lars die erste Geige. Dvořák, Tschaikowsky. Alles easy.

Im nächsten Sommer beendet Lars die Schule, dann möchte er noch ein Jahr in Dänemark ein Internat mit Musikschwerpunkt besuchen. Danach eine Ausbildung zum Automechaniker machen. Er hat einen genauen Plan von der Zukunft. Zuversicht und ein Lächeln mit Grübchen. Nur vor drei Tagen, da wollte er am Morgen nicht aufstehen und zur Schule gehen. Er zog sich die Decke über den Kopf und weinte. Ein Anruf seiner Mutter am Vorabend, und die Fassade bröckelte. Später lag auf seinem Schreibtisch die Zeichnung eines schlafenden Babys mit Flügeln. Ein Engel vielleicht. Kein Wort jetzt darüber. Frühstück mit Limonade, zuckersüß, so mag es Lars am liebsten.

Die drei Jäger beraten. Simion Lovstrom und Jens Klemmensen, die Jungen rufen sie Simmi und Jensi. Neben ihnen Uunartoq, 73 Jahre alt, bekannt als der beste Jäger Nordgrönlands. Sein Name bedeutet: der Mann, der ein Feuer in sich trägt. Sie kennen die Wanderwege der Robben. Gestern sind sie mit ihren Booten der Bucht ins Landesinnere gefolgt, heute wollen sie hinaus aufs offene Meer. Nachdenkliches Wiegen der Köpfe. Lars hört still zu. Wenn er sich entscheiden sollte zwischen einer Jagd, einem Violinkonzert vor großem Publikum und einem freien Wochenende, er würde immer die Jagd wählen. Die Welt dort draußen ist grau an diesem Morgen. Wolken fressen die Bergspitzen auf. Die Jäger zögern, Dampf steigt auf aus ihren Kaffeetassen. Am Nachmittag soll es Sturm geben. Egal, sie wagen es. Mit 30 Knoten nach Westnordwest.
Eine Erzieherin mit viel Liebe

Das Kinderheim in Uummannaq wird von einer Frau geleitet – Ann Andreasen, vor 30 Jahren eingeflogen von den Färöer-Inseln. Eine Urgewalt. Eine Whiskey-Stimme, ohne Whiskey zu trinken. Ein Lachen, das man als dreckig bezeichnen muss. Ein Boss. Keine Entscheidung ohne sie. Ihre Entscheidung lautet: „Für meine Kinder nur das Beste!“ Jeder Satz ein Ausrufezeichen. Das Kinderheim steht am Fuß des Herzfelsens, hoch über dem Dorf. Es ist still, umso lauter der Flügelschlag der Krähen. Drinnen ist es so warm, dass sofort die Jacken aufgerissen werden. Ann Andreasen ist eine Sammlerin. Bilder und Eisbärfelle an den Wänden, geschnitzte Figuren auf den Fensterbrettern, dicke Teppiche, auf einem steht das Klavier.

Holzsessel mit bestickten Polstern, üppige Pflanzen, Kerzenleuchter aus Messing, Narwalzähne, Trommeln, mit Leder bezogen. Alles auf diesen Felsen im Nordatlantik geschafft, in dieses Heim, durch den Willen einer Frau. Ann Andreasen mag es nicht, wenn ein Bilderrahmen schief hängt. Sie rückt ihn gerade. Die abgenutzten Stellen eines Teppichs malt sie mit einem Filzstift nach. Vor dem Abendessen heißt es: Licht aus in allen ungenutzten Räumen. In den Kindern herrscht das Chaos. In der Welt um sie herum soll so viel Ordnung sein wie möglich. Fünf Mitarbeiter allein sorgen dafür, dass alles sauber bleibt. 50 Angestellte gibt es insgesamt. „Ach, ich könnte 50 mehr brauchen.“ „Wenn die Kinder lernen, dass sie einer schönen Kultur entstammen, verstehen sie vielleicht auch, dass sie selbst schön sind.“ Das ist Ann Andreasens Leitmotiv.
Wenn die Kinder lernen, dass sie einer schönen Kultur entstammen, verstehen sie vielleicht auch, dass sie selbst schön sind.
Ann Andreasens, Leiterin des Kinderheims
Der nächste Kinderpsychologe sitzt 200 Kilometer weit entfernt, in einem ganz anderen Fjord. Ann Andreasen stellt stattdessen Musikpädagogen ein, einen Jazzgitarristen, Jäger und Fischer. Sie gehen raus, dorthin, wo Grönland am schönsten ist. Manchmal wochenlang, Monate. Mit Hundeschlitten über das ewige Eis. Sie sind eine Tour des deutschen Polarforschers Alfred Wegener nachgelaufen. Was der schaffte, schaffen wir schon lange! Kleine und große Siege. Damit irgendwann dieses nagende Gefühl in den Kindern verschwindet, ihr Leben sei nichts wert. Im Heim kommen jeden Abend alle zum Essen zusammen. Auf den Tischen brennen Kerzen. Vor dem Essen fassen sich Kinder und Betreuer an den Händen.
Danach erzählt jeder von seinem Tag, dann stehen alle auf, tragen das Geschirr zur Spülmaschine, bringen den Müll weg. Ann Andreasen will es so. Zum Abschluss ein Gutenachtlied für den vierjährigen Arne. Alle Strophen. Bevor die Ältesten später zu Bett gehen, gibt es noch einmal warmen Milchreis mit Zimt und Zucker. Schulterklopfen, Umarmungen, gute Wünsche. Sehr viel Wärme in einem kalten Land. Ann Andreasen beschreibt ihre Kinder gern als junge Menschen, die auf dünnem Eis balancieren. Sie tut alles dafür, dass die Eisdecke beizeiten dicker wird.
Für meine Kinder gibt es nur das Beste!
Ann Andreasens, Leiterin des Kinderheims
Die Jagd als Heilung
Schweigsame, stundenlange Jagd draußen im Fjord. Die Jäger fragen nichts, sie rauchen. Die Jungen sagen nichts, sie rauchen. Uunartoq, die Zigarette auf halb acht, steht gebückt am Steuerrad, starker Wind zerrt an ihm. Sein Arm schnellt nach vorn. Eine Gruppe Wale. Er prescht voran, treibt das Boot über die Wellenkämme. Da tauchen die riesigen Leiber zehn Meter neben dem Boot auf, wälzen sich auf der Wasseroberfläche. Stummes Staunen. So unterrichten sie. Ohne Worte. Ann Andreasen erinnert daran, wie die Inuit ihre Babys so auf den Rücken schnallten, dass sie über die Schulter der Mutter schauen und jeden Handgriff beobachten konnten. Lernen durch Nachahmen.


Der Jäger Jens Klemmensen hat einen Grundsatz: Er fragt nicht nach den Geschichten der Kinder, die mit ihm unterwegs sind. „Kein Gelaber!“ Manche erzählen dann trotzdem irgendwann. Klemmensen hört stumm zu. Schweigen kann er am besten. Die Jäger können auch gut ignorieren. Als Adam am Morgen beim Schleppen der Proviantkiste hinfiel, minutenlang am Boden sitzen blieb und sich den Knöchel hielt – die Jäger schauten nicht einmal hin.

Als Aqqalu beim Ansaugen des Benzins durch einen Schlauch einen ganzen Schluck davon in den Mund bekommt, röchelt und spuckt – Jens Klemmensen blickt kurz auf und dann wieder weg. Und doch ist die Bindung eng. Bei einem kurzen Landgang hakt sich Aqqalu bei Simion Lovstrom ein. Arm im Arm schreiten sie über Felsgestein, man möchte sagen: wie Vater und Sohn. Lars hängt an Uunartoq, dem alten Jäger. Die Menschen in Uummannaq sagen, Lars gleiche dem jungen Uunartoq aufs Haar, er habe schon die gleiche steile Stirnfalte, wenn er bei der Jagd angestrengt in die Weite späht.
Grönlands vernachlässigte Kinder
Die Hintergründe einer sozialen Tragödie. Die Fakten klingen dramatisch: Laut UNICEF muss jedes sechste Kind in Grönland Hunger leiden, 2009 stand das Land erstmals auf der Liste jener Länder, die gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen. Die Selbstmordrate hat, vor allem unter jungen Männern, beängstigende Ausmaße angenommen: Sie ist viermal so hoch wie im Durchschnitt, jeder fünfte von den rund 56.000 Grönländern hat bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Dazu kommt die Landplage Alkoholismus, wie üblich Auslöser von familiärer Gewalt und sexuellem Missbrauch.

Seit den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hätten sich vernachlässigte Kinder in Grönland, schreibt der französische Soziologe Jean-Michel Huctin in einer Arbeit zum Thema, zu einem ernsten Problem ausgewachsen, „dessen wachsende negative Einflüsse auf die Gesellschaft unmöglich übersehen werden können“.
Dabei ist das Phänomen verhältnismäßig neu: In früheren Zeiten berichteten Entdecker, Missionare und Ethnologen eher vom genauen Gegenteil: Kinder hätten in den Großfamilien der Inuit extreme Zuneigung erfahren, sie seien verwöhnt worden wie kleine Könige. 1741 notierte der dänische Missionar Hans Egede, die Inuit würden bei der Erziehung „weder Züchtigung noch böse Worte“ einsetzen. Die Ursache dieser Verhaltensänderung ist wissenschaftlich nicht restlos geklärt, weil es zur spezifischen Situation in Grönland nur sehr wenige Forschungsarbeiten gibt – und sie sich durch „die Einzigartigkeit von Geschichte und Lifestyle mit europäischen Modellen nicht vergleichen“ lässt (Jean-Michel Huctin).

Die wahrscheinlichste Theorie: Die Grönländer sind von dem rasanten gesellschaftlichen Wandel, der das Land nach dem Zweiten Weltkrieg überrollte, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Binnen weniger Jahre fanden sich die nomadischen Jägergesellschaften, die nach dem Prinzip der Selbstversorgung lebten, im kapitalistischen Industriezeitalter wieder. Das stürzte sie prompt in eine tiefe Identitätskrise: Alte Werte und Fähigkeiten, die jahrhundertelang das Leben bestimmt hatten, zählten plötzlich nichts mehr.
Die Regeln der Leistungsgesellschaft, die zunehmende Verstädterung und der Umgang mit Geld überforderten viele. Und so kam es, dass Grönland – ausgerechnet in einer Phase der Entkolonialisierung von Dänemark – in einen sozialen Teufelskreis geriet: zerrissene Großfamilien, vernachlässigte Kinder, die wiederum ihre Kinder vernachlässigen, weil sie nie die Bedeutung von Zuwendung gelernt haben. Aus diesem Muster rauszukommen ist schwierig – wenn, dann gelingt es nur mit Kinderheimen wie jenem auf Uummannaq.

Ein Funkspruch. Uunartoq führt den angewinkelten Arm mit geschlossener Faust vor dem Körper auf und ab – das grönländische Zeichen für „Robbe“. Das andere Boot hat Beute gemacht. Schnell dorthin. Es ist der verdammte Wandel, sagt Ann Andreasen. Nicht nur der Klimawandel, der das Eis schmelzen lässt und Regen dorthin bringt, wo es früher nie geregnet hat. Alles hat sich in Grönland verändert. Die Nomaden leben in Städten. Fleisch wird meistens nicht mehr gejagt, sondern im Supermarkt gekauft. 200 Jahre dänische Kolonie. Wie immer hat es die Tradition schwer, wenn die Moderne mit Wucht zuschlägt. Die Grönländer trifft es besonders hart.
Europäische Spitzenplätze bei der Selbstmordrate, Alkoholmissbrauch, sexuell übertragbare Krankheiten, vernachlässigte Kinder. Zum Glück liest Ann Andreasen nicht gern Statistiken. Grönland muss weg von der Opfermentalität, sagt sie. Sie will auch weg vom Image des armen Kinderheims. Ann Andreasen hat auf Uummannaq schon den UN-Generalsekretär Ban Kimoon begrüßt, den verstorbenen US-Liedermacher Pete Seeger nennt sie einen Freund. Sie überlegt laut, sie müsse doch jetzt endlich einmal Bruce Springsteen einen Brief schreiben. Sie reiste mit den Kindern nach New York, nach Venezuela, nach Hawaii. Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Finanzierung des Heims auf. Von der Autonomieregierung in Nuuk bekommt Andreasen genauso viel wie andere Kinderheime auch.

Aber ihr Talent als Netzwerkerin lässt noch andere Quellen sprudeln: Spenden, Stiftungen, Sponsoren – da kommt schon eine Menge zusammen. Es ist schwierig, alle Charakterzüge von Ann Andreasen zu beschreiben. Einer ihrer besten ist ihre Fähigkeit, Menschen an sich zu binden. Den alten Jäger Uunartoq, der vorher nie Kinder auf sein Boot einlud. Den dänischen Bildungsexperten, der sie berät. Grönlands Jazzlegende Pele Møller. Ein US-Komponist schreibt für die Kinder kostenlos ganze Konzerte. Sie proben gerade das Stück „Future“ – Zukunft. Ann Andreasen fragt selten, sie nimmt einfach. Aber ihre Leidenschaft steckt an. Es ist ihr auch mal vorgeworfen worden, das alles sei Luxus.
All diese Reisen mit den Kindern, die üppige Ausstattung, ihre Vorliebe für teure Teppiche. „Ich habe es ja mit IkeaTeppichen probiert, die waren nach einem Jahr durchgelaufen.“ Die Wahrheit ist, sagt Ann Andreasen, dass ihre Kinder mehr gute Erfahrungen machen müssen als andere. Weil sie bis dahin so viel Schlimmes erlebt haben. Wenn das Leben ein Kartenspiel ist, dann hatten die Kinder von Uummannaq viele Jahre ein schlechtes Blatt nach dem anderen. Es ist an der Zeit für ein paar Joker.
Die Jagd geht zu Ende

Die Beute, die Robbe, liegt schwer auf dem Heck des Bootes. 350 Kilo, vertäut an Schnauze und Schwanzflosse, drücken das Boot tief ins Wasser. Eine alte Dame, sagt Simion Lovstrom, ihr Fleisch sei zu zäh für Robbengulasch. Es wird getrocknet und dann als Snack gekaut. Gute Krallen allerdings, aus denen ließe sich schöner Schmuck herstellen. Die See ist für die Grönländer wie ein Garten, der sie mit Lebensmitteln versorgt. Fleisch ist ihr Gemüse. Und Robben fehlen auf keiner Speisekarte. Lars mag die Augen. Sie werden frisch gegessen, ausgelutscht. Sie schießen noch auf einige Robben an diesem Tag, Lars, die anderen Jungs, die Jäger, doch sie verfehlen ihr Ziel.


Schon sinkt der Nebel, der bereits am Morgen am Himmel hing, herab auf das Wasser. Doch sie wollen nicht aufgeben. Noch ein Versuch. Und noch einer. Immer weiter hinaus, Richtung offenes Meer. Nächster Halt: Kanada. Dann ein Funkspruch von Uunartoq. Er, der doch den Fjord seit Kindertagen kennt, hat die Orientierung verloren. Der Nebel zu dicht – und keine Instrumente an Bord. Simion Lovstrom und Jens Klemmensen ziehen mit ihren Booten weite Kreise. Bald sehen sie die felsigen Inseln nur noch als Schemen, wenn sie dicht an ihnen vorbeifahren. Der Kontakt zu Uunartoq reißt ab. Großer Jäger Uunartoq, wo bist du? Über eine Stunde dauert die Suche. Die Dämmerung kommt ohne Ankündigung, der Nebel verwandelt die Welt in einen dunkelgrauen Brei.

Schließlich meldet sich Uunartoq. Ein Defekt am Funkgerät. Er ist längst in Sicherheit, schon nahe dem heimischen Hafen. Natürlich, einer wie Uunartoq verirrt sich nicht dauerhaft. Die Jäger wenden die Boote. Jetzt schnell nach Hause. Schneekristalle fegen waagrecht durch die Luft. Vor den Booten türmen sich die Wellenberge. Der Sturm ist da. So beginnt die Heimreise. Was wird aus Kindern wie Lars, Adam, Aqqalu und Mathias, wenn sie erwachsen sind? Machen dieses Kinderheim, Ann Andreasen, die Jäger, die Eisberge sie stark genug für die Zukunft? Keiner kann das mit Sicherheit sagen. Nicht mal Ann Andreasen, die sonst auf alles eine Antwort hat.
Mit 15, 16 Jahren beenden die Kinder die Schule. Und sind noch lange nicht erwachsen. Dann beginne erst die Arbeit, sagt Ann Andreasen. „Wer will noch etwas von den Kindern wissen, wenn sie nicht mehr klein und süß sind, sondern picklige, maulige Teenager?“ Sie will. Wenn ihre Schützlinge fortziehen und dann zur Ausbildung in den Städten Südgrönlands wohnen, schickt sie die Nachbarn der Kinder los, damit sie nicht den Wecker überhören. Und sie organisiert Nachhilfeunterricht für diejenigen, die es auf höhere Schulen schaffen. Am liebsten ist es Ann Andreasen, wenn sie noch zwei, drei Jahre länger bei ihr auf Uummannaq bleiben, Robben jagen, Hundeschlitten lenken. Sie sollen nicht alle Jäger werden.
Aber lernen, dass sie mehr erreichen können, als sie glauben. Immer wieder Misserfolge. Der Junge, der mit 17 Jahren in drei Wochen mit einem Hundeschlitten die Halbinsel Nuussuaq überquerte, 500 Kilometer Tiefschnee, 1.000 Meter hohe Berge. Alle waren stolz auf ihn, am meisten er auf sich selbst. Er zog in die Hauptstadt Nuuk und wurde alkoholabhängig.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin Februar 2016

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