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Sumo-Ringen: Im göttlichen Gleichgewicht

Ein Ringkampf als schräge Mischung aus dicken Männern, Religion und Tradition. Den meisten Ausländern bleibt Japans Nationalsport Sumo ewig ein Rätsel. Terra Mater wurde in die inneren Zirkel vorgelassen und gewann tiefe Einblicke in die japanische Seele.
Text: Manfred Sax, Fotos: Palani Mohan / 13 Min. Lesezeit
Sumo Regeln Tradition Foto: Palani Mohan
Jetzt geht's gleich los: Wenn alle vier Fäuste den Boden berühren, beginnt der Kampf der Kolosse.
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Die Luft riecht nach Testosteron, der Raum ist erfüllt von Klatschgeräuschen, die entstehen, wenn Handflächen auf nackte Körperteile prallen. In einem Ring, begrenzt von einem dicken Seil, schenken zwei Riesen einander ordentlich ein, rundherum verfolgt ein knappes Dutzend Männer im Lendenschurz das Geschehen aufmerksam.

Der Kampf dauert keine zehn Sekunden. Einer der Riesen verliert das Gleichgewicht und kommt außerhalb des Ringes zu stehen, was seine Niederlage bedeutet. Zerknirscht begibt er sich zu einem Mann, der erhöht auf einem Podium kauert und offenbar Alphastatus besitzt. Der herrscht ihn an: „Nicht vergessen: Wenn du einmal vor einem Gegner zurückweichst, hast du schon verloren!“

Hai!“ Dieses „Hai“ ist mehr als nur ein „Ja“. es klingt militärisch zackig wie ein Peitschenknall – laut, kurz, trocken.

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Die Kämpfe werden fortgesetzt, der Sieger bleibt stets im Ring und wird vom nächsten Ringer gefordert, Schweiß fließt in Strömen. Es ist ein permanentes Keuchen, und über allem tönt die Stimme des Alphas, scharf wie ein Schwert: „Gib dem Gegner keine Ruhe, du musst mehr explodieren!“ – „Hai!“ – „Deine Beine sind nicht schnell genug!“ – „Hai!“ – „Was soll dieses Fuchteln mit den Armen? Du musst deinen Gegner sofort töten!“ – „Hai!“ Die Atmosphäre ist angespannt, der Alpha unerbittlich, jede Widerrede wäre Frevel.

Über Sumo schwebt ein Hauch von Ewigkeit

Wir sind zu Gast im Kokonoe Beya im Bezirk Sumida zu Tokio, einem von insgesamt 44 „Ställen“ des professionellen Sumoringens. und was wir hier erleben, ist die Vorbereitung auf das Natsu Basho, das große Sommerturnier des japanischen Nationalsports.

Eine in der japanischen Mythologie verankerte Legende besagt, dass die Nation dem Sumo ihre Existenz verdankt. Zwei Götter gerieten in Streit und regelten den Konflikt mit einem Ringkampf. Der Sieger wurde der erste Regent Japans.

Historiker stimmen überein, dass die Wurzeln von Sumo gut 2.000 Jahre in die Vergangenheit reichen, als Sport etablierte es sich aber erst im frühen 17. Jahrhundert. Die vielen strikten Regeln der Anfangszeit haben sich bis heute kaum verändert.

Sumo ist denn auch nur vordergründig ein Ringkampfsport, in dem es darum geht, den Gegner – frei nach Einsteins Formel „Energie ist Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat“ – aus einem Kreis zu befördern oder ihn zu Boden zu zwingen. Hinter Sumo stehen nämlich eine Vielzahl alter religiöser Rituale sowie eine Menge von martialisch trainierten Tugenden, deren perfekte Beherrschung in eine Großmeisterlichkeit münden kann, der das Prädikat „göttliches Gleichgewicht“ zugemessen wird.

Die Kämpfer sind halbe Götter

Ein Großmeister (Yokozuna) des Sumo sonnt sich bis heute in der Aura eines Halbgottes, symbolisiert durch die Tsuna, ein dickes Seil, das er bei Zeremonien um die Leibesmitte trägt und das im Shintoismus – der den Japanern eigenen Spiritualität – eine heilige Zone signalisiert.

Ein Yokozuna ist die personifizierte heilige Zone. Außerdem ist er Besitzer einer Katana – jenes Schwertes, das ihn offiziell als Samurai auszeichnet. De facto als letzten seiner Art. Denn Samurais („jene, die der Ehre dienen“), waren nur bis ins 19. Jahrhundert die höchsten Krieger der Herrschenden. Im modernen Japan sind sie längst kein Thema mehr.

In seiner Erscheinung transportiert ein Yokozuna das traditionelle Idealbild eines japanischen Mannes – in der äußeren Wahrnehmung mächtig, diszipliniert und grimmig, in seinem Inneren im perfekten Gleichgewicht ruhend. Eine Rarität: Vergangenes Jahr ist erst der 70. Sumokämpfer der Geschichte zum Yokozuna aufgestiegen.

Der bereits erwähnte Alphamann von Kokonoe Beya, den sie heute schlicht Kokonoe-oyakata (Boss von Kokonoe) rufen, war Yokozuna Nummer 58, eine Legende namens Chiyonofuji. Kein lebender Sumokämpfer kann sich mit seinem Status messen. Zum Kult wurde er auch deshalb, weil er seine Erfolge mit einem Kampfgewicht von „nur“ 120 Kilo als David unter Goliaths errungen hatte. (siehe auch „Interview mit einem Halbgott“).

Chiyonofuji – bürgerlicher Name: Mitsugu Akimoto – ist heute 58 Jahre alt. Ein Talentscout entdeckte ihn 1970 als 15­jähriges Bürschchen mit nur 71 Kilo Lebendgewicht in seinem Heimatort Fukushima auf Hokkaido und brachte den Sohn eines Fischers zum Kokonoe­Stall nach Tokio – den er 1992, ein Jahr nach seinem Abschied von der aktiven Laufbahn, als Chef übernahm.

Jeder Sumoringer (Rikishi) des Kokonoe­Stalls trägt das japanische Schriftzeichen für Chiyo (übersetzt: „tausend Jahre“ oder „für immer“) im Namen. Chiyonofuji (Fuji steht für den gleichnamigen Berg) ist erst der dritte Yokozuna, den Kokonoe hervorgebracht hat.

Bei seinem Antritt als Oyakata verfügte der Stall nur über einen erstklassigen Sumoringer (Sekitori), heute ist man auf fünf Top­Athleten stolz. Einem von ihnen – Chiyootori – gilt an diesem Tag des Meisters besonderes Augenmerk: Dem 20­Jährigen aus Kagoshima (Größe: 178 cm, Gewicht: 175 kg) wurde soeben Erstklassigkeit zugesprochen, er tritt in ein paar Tagen erstmals in der MakuuchiDivision an, der obersten Liga des Sumo.

Die besten Sumo-Athleten essen zuerst – in Anwesenheit des stets zum Dienen bereiten Nachwuchses, der sich mit den Speiseresten zu begnügen hat.

Tradition beginnt im Sumo bei den Mahlzeiten

Das ist nicht nur eine Ehre, es bedeutet vor allem einen massiven Gehaltssprung – von einem Taschengeld von 75.000 auf 900.000 Yen (rund 7.000 Euro) pro Monat. Entsprechend streng wird sein Training heute von Chiyonofuji beobachtet. Müdigkeit ist verboten. Leviten werden gelesen: „Beim Drücken nicht die Arme öffnen, lass die Ellbogen nah an der Seite, das transferiert die Energie am besten!“ – „Hai!“

Das Ambiente bei Kokonoe ist durchwegs spartanisch, die Räume sind schmucklos funktionell. Der Sumo-Stall hat eine mönchische Ausstrahlung, für Anfänger ist das Beya Lebensmittelpunkt, sie halten sich rund um die Uhr hier auf. Es dominieren Dienen und Training, Privilegien kommen erst mit einem Aufstieg in der Hierarchie und dem damit verbundenen Salär. Nur Sumoringer im Rang eines Meisters haben Anspruch auf Privatleben, Eigenheim und Familie.

Die täglichen Trainingseinheiten (Keiko) beginnen um fünf Uhr früh. Der Zeitplan folgt einer streng hierarchischen Ordnung: Ganz am Anfang sind die Nachwuchsringer dran. Der Sumoring (Dohyo) belebt sich nach und nach; je höher der Rang eines Ringers, desto später seine Ankunft. Gegen neun Uhr treffen die Erstdivisionäre ein und bellen ihre Instruktionen Richtung Nachwuchs-Rikishi. Dann, endlich, tritt der Oyakata auf. Ab da bellt nur noch einer.

Die besten Athleten essen zuerst

Zu Mittag ist das Training vorüber, schweißgebadet gehen Chiyootori und die anderen Kämpfer hinaus. Die Nachwuchsringer kochen das erste Mahl des Tages, das Chanko-Nabe, einen kräftigen Eintopf aus Fisch, Fleisch und Gemüse, der mit Unmengen von Reis verschlungen wird. Die besten Athleten essen zuerst – in Anwesenheit des stets zum Dienen bereiten Nachwuchses, der sich mit den Speiseresten zu begnügen hat.

Meister Chiyonofuji hat das Gebäude verlassen, die Atmosphäre entspannt sich fühlbar. Ein Friseur (Tokoyama) taucht auf und verpasst einigen Kämpfern ein Chonmage, jene Haartracht, wie sie die historischen Samurai trugen und die heute nichts als Tradition ist. Seinerzeit hatte sie auch den Sinn, in der Schlacht dem Helm besseren Halt zu bieten.

Der Großteil der Top-Ringer zieht sich nach dem Essen zum Mittagsschlaf nach oben zurück – „das macht uns schneller fett“. Das Gebäude hat mehrere Etagen, jedes Stockwerk ziert ein Gemälde von Yokozuna Chiyonofuji. Die jungen Sportler teilen sich Kojen, die etablierten haben Einzelzimmer. Am Dach hängt ein junger Kämpfer die schweiß-nassen Lendenschurze (Mawashi) zum Trocknen auf. Mawashi werden nie gewaschen.

Unten, am Ausgang, schwingt sich Chiyotairyu, der aktuell beste Kämpfer des Stalls, auf sein Fahrrad – den gewaltigen, 175 Kilo schweren Körper in eine Yukata, den traditionellen japanischen Sommerkimono, gehüllt, die Füße in Schlapfen. Das sei die Ausgehuniform der Rikishi, erklärt man uns. Ein Sumokämpfer soll immer weithin als solcher erkennbar sein.

Sumo Japan Tradition Foto: Palani Mohan
Ausgehuniform: Ein Sumokämpfer soll stets als solcher erkennbar sein.

Kokonoe-Managerin Sakamoto-san gibt sich indes alle Mühe, der am Vormittag zur Schau gestellten Strenge ihres Chefs menschliche Züge zu verleihen. Sie empfiehlt etwa einen Besuch des Gyokurinji-Tempels. Dort blickt eine Statue von Chiyonofuji auf ein Grab, in dem seine Tochter Ai liegt. Sie wurde kein Jahr alt. Ai war 1989 kurz vor Beginn des großen Sommerturniers überraschend gestorben. Selbstverständlich gewann Chiyonofuji das Turnier dennoch, es war sein 28. von insgesamt 31 Turniersiegen. Und gleichzeitig der eine Sieg, für den die von Chiyonofuji im Interview angesprochenen Siegerqualitäten – Technik, Schnelligkeit und die Intelligenz, die Schwächen des Gegners zu erkennen – nicht gereicht hätten. Es brauchte auch eine kräftige Dosis Shinto-Geist.

Shinto (wörtlich: „Weg der Götter“) ist nicht wirklich eine Religion, vielmehr eine praktische Spiritualität, eine Vielzahl von Praktiken, die der Japaner eifrig pflegt, um mit der „japanischen Urseele“ in Verbindung zu bleiben. Einer Seele, die bis zur Geburtsstunde der Nation zurückführt: Der Legende nach wurde Japan von zwei „Geistheiten“ erschaffen, die mit ihren Speeren ein paar Inseln aus dem Meerwasser zauberten.

Shinto spricht allen Dingen ein Wesen zu. Wesenheiten, mit denen jedenfalls in Einklang zu leben ist. Das Dumme ist, dass Menschen dazu neigen, ständig die Harmonie mit den Wesen der Welt zu stören, was eine Unreinheit nach sich zieht, die beseitigt werden muss.

Unterhaltung für die Götter

Und so wird Shinto zur japanischen Lebenspraxis. Reinigungsrituale gehören zur täglichen Übung. Sie sind auch die Essenz von Sumo. Sumo ist Unterhaltung für die Götter – so, wie die Olympischen Spiele ursprünglich zum Vergnügen von Gottvater Zeus abgehalten wurden. Und in Japan ist so ein Vergnügen jedenfalls etwas, das nur in perfekt gereinigten Umständen stattfinden kann. Tatsächlich ist im Sumo schwer zu erkennen, wo Shinto endet und der Kampfsport beginnt.

Am Tag vor Beginn des großen Turniers herrscht im Sumo-Mekka Ryogoku Kokugikan, einer 13.000 Sitzplätze fassenden Halle, emsige Betriebsamkeit. Gemeines Publikum ist nicht zugelassen, der Tag dient ausschließlich der Einweihung der Kampfzone nach strengem Zeremoniell, auf dass die Götter wohlgefällig auf das Turnier blicken mögen.

Der Ring, ein Kreis mit 4,55 Meter Durchmesser auf einem quadratischen Sockel, bestehend aus lößähnlicher Rakida­Erde, die aus dem benachbarten Chiba herangekarrt wurde, muss nach allen Regeln des Shinto gereinigt werden. Anwesend sind neben einem ehrenamtlichen Shinto­Priester (Gyoji) – im Turnier wird er die Funktion des Schiedsrichters erfüllen – nur Funktionäre des Sumoverbandes und die höchsten drei Ränge der Sumokämpfer (Sekiwake = Juniormeister, Ozeki = Meister, Yokozuna = Großmeister).

Auch Yokozuna Hakuho, der Superstar der gegenwärtigen Sumo­Szene, ist da. Er ist selbst in diesem hochkarätigen Rahmen eine herausragende Erscheinung: 155 Kilo, verteilt auf das Gardemaß von 1,95 Metern. Der heute 28­jährige Mongole mit dem sanften Antlitz kam Anfang des neuen Jahrtausends als 15­Jähriger aus Ulan Bator nach Japan. Er hatte das Ringen im Blut: Sein Vater hatte bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko die Silbermedaille im Freistilringen gewonnen. Bereits mit 18 schaffte Hakuho den Sprung in die oberste Liga des Sumo, mit 22 wurde er – als erst vierter Nichtjapaner – zum Yokozuna gekürt. 2009 gewann er 86 seiner 90 Kämpfe, ein einsamer Rekord. Seither liegt ihm ganz Sumo­Japan zu Füßen. Experten trauen ihm zu, der Beste aller Zeiten zu werden.

Hinter den Kulissen einer Sumo-Schule

Die Szenerie in der Halle ist eine sinnliche Augenweide. Beton und Neon und die schrille Mode des modernen Japan sind verschwunden, hier regieren Holz und Erde und Kimonos aus kostbarer Seide. Shinto­Symbole überall: Der Sand im Ring steht für absolute Reinheit. Das darüber aufgehängte Dach (Yakata) ist im Stil eines ShintoSchreins gefertigt, die vier Quasten an den Ecken repräsentieren die vier Jahreszeiten.

Hyoushigi klingen an, tönende Holzstäbe, die zu Beginn und am Ende eines Sumo­Ereignisses aufeinander geschlagen werden. Der in prächtiges Weiß gekleidete Priester spricht ein Gebet (Norito) für den Erfolg des Turniers. Anschließend versenkt er Glücksbringer in ein Loch in der Mitte des Rings – getrockneten Tintenfisch, Salz, Seetang, Nüsse und Reis – und verschließt es. Heilige Sträucher (Sakaki) verscheuchen etwaige Geister, gesegneter Sake wird verschüttet. Dann ist der Ring endlich rein, die Zeremonie vorbei.

Inzwischen warten vor dem Kokugikan hunderte Fans auf die Parade der Meister. Sie werden von Trommlern angekündigt, die im Stil historischer Dorfschreier auf einem Turm darauf aufmerksam machen, dass Sumo stattfindet. Es regnet leicht, als die Stars schließlich auf die Straße kommen. Die Passanten, großteils ältere Damen, reagieren ekstatisch. Handys blitzen, die Frauen kreischen, Kleinkinder werden den Meistern in die Arme gedrückt. Die Ringer melken die Begeisterung mit gelassener Würde.

Sumo Japan Tradition Foto: Palani Mohan
Fan-Ansturm bei der Parade der Meister: Besonders ältere Damen sind zu ekstatischer Begeisterung fähig.

Die Straße ist wie ein „Sumo Walk of Fame“ dekoriert, links und rechts Statuen von legendären Großmeistern nebst ihren originalen Handabdrücken. Nach etwa 500 Metern mündet sie in eine Kreuzung, wo dieses Stück altertümliches Japan plötzlich auf die Gegenwart trifft und in ihr erlischt. Taxis schlucken nach und nach die Sumomeister, um sie in ihre Privatgemächer zu bringen.

Die Parade ist vorbei, das Turnier hat für das Publikum offiziell begonnen. Eines steht trotz der augenfälligen Begeisterung fest: Dem japanischen Nationalsport geht es augenblicklich nicht so gut. Früher waren Kämpfer, die nicht aus Japan stammten, bestenfalls eine Kuriosität, ein erfolgreicher ausländischer Rikishi ein Ding der Unmöglichkeit. Wie sollte auch ein Nichtjapaner den Geist des Sumo verstehen?

Heute sind sieben Prozent der 613 registrierten Athleten Ausländer. Das ginge ja noch. Aber dass fünf der besten sieben Sumoringer nicht aus Japan kommen, schmerzt mindestens genauso wie der Umstand, dass beide aktiven Yokozuna Mongolen sind. Schlimmer noch: Die letzten 32 Turniere sahen keinen einzigen japanischen Sieger. Der letzte einheimische Sieg datiert aus dem Jahr 2006.

Generationenkonflikt im Sumo

Sumo­Funktionäre machen die „Wohlstandsgesellschaft“ für die Misere verantwortlich. Kein junger Japaner wolle sich mehr quälen, sagen sie. Die Dominatoren der Gegenwart – Mongolen, Bulgaren, Esten – kämen durch die Bank aus armen Familien und Ländern mit großer Ringerkultur. Dazu trüben noch ein paar peinliche Skandale die gar nicht mehr heile Welt des Sumo: 2008 wanderten ein Coach und drei Ringer ins Gefängnis, weil sie im Training einen 17-Jährigen zu Tode schikaniert hatten. 2010 brach der große Schiebungsskandal los, der zum Ausschluss von 25 Trainern und Ringern führte. Sumo, der Inbegriff von Sauberkeit und Ehre, war plötzlich beschmutzt.

Und als wäre das alles noch nicht genug, gibt es da noch einen Generationenkonflikt. Tenor der jungen Japaner: Sumo ist erstens zu teuer und zweitens ein alter Hut. Ersteres ist leicht nachvollziehbar: Ein Ticket für eine Box mit vier Sitzen, auf denen man knien muss, wenn wirklich vier Personen Platz finden sollen, kostet umgerechnet 250 Euro. Pro Tag. Und das Turnier dauert 15 Tage.

Sonntag, erster Tag des Natsu-Basho-Turniers. Die Pforten des Ryogoku Kokugikan sind seit dem frühen Morgen offen, die Ränge füllen sich allerdings erst am Nachmittag mit Beginn der Kämpfe in den Top-Divisionen.

Um 15 Uhr steigt die erste wesentliche Zeremonie: Dohyo-iri, das Ring-Ritual der Makuuchi Ringer vor den Kämpfen. Gehüllt in kostbare Schürzen, betreten sie gemeinsam den Ring, sie werden von einem Hallensprecher mit melodisch singender Stimme vorgestellt. Gemeinsam klatschen sie in die Hände, um den Göttern zu signalisieren, dass ihr Auftritt naht. Dann öffnen sie die Arme und drehen die Handflächen, um den Gegnern zu zeigen, dass sie unbewaffnet sind – eine alte Samurai-Tradition.

Nur den beiden Yokozuna ist eine persönliche Zeremonie gestattet – es ist der erste, vom Publikum in der nunmehr vollen Halle enthusiastisch bejubelte Höhepunkt. Aber während die rituelle Nummer des ersten Großmeisters – Harumafuji – nur höflichen Applaus erntet, wird Hakuhos Vorstellung von einer Woge der Euphorie getragen. Als er das eine Bein in die Erde hämmert, um etwaige Dämonen zu verjagen, ertönt ein Yusho! aus tausenden Kehlen (etwa: „Dem Besten der Sieg!“).

Der Kampf um das Gleichgewicht

Und so beginnt das Kräftemessen. Kolossale Kämpfer treten in den Ring, Gleichmut in den Gesichtern. Von den Mawashi herunterbaumelnde Stäbe definieren jene Körperstellen, die für den Gegner tabu sind. Beide Parteien haben ihre Ecke, wo ein Salzfass und ein Wasserbehälter stehen. Sie nehmen einen Schluck Wasser, greifen ins Fass, werfen Salz in den Ring – beides dient der rituellen Reinigung – und gehen voreinander in die Hocke, zwischen ihnen der Schiedsrichter mit einem Fächer in der Hand.

Langsam, einander nicht aus den Augen lassend, richten die Ringer sich wieder auf, wenden sich mit einer zeitlupenhaften Drehung ab, und schreiten wieder auf ihre Ecke zu, muskelspielend, sich mit flacher Hand auf Bauch oder Hinterbacken schlagend. Der Ablauf wiederholt sich, die Spannung steigt stetig, bis die Zeit – im Schnitt nach vier Minuten – um ist und der Referee den Fächer genau in die Mitte des Ringes legt. Es ist dies die Aufforderung zum ersten Zusammenprall, dem Tachi-ai. Der Rest dauert selten länger als 20 Sekunden.

Für den Sieger ist der Tag mit dem Kampf noch nicht beendet, er muss dem nächsten Ringer noch das Wasser für die Reinigung reichen. Verlierer sind von dieser Pflicht befreit – weil ein Verlierer nun einmal kein Glück bringen kann. Kokonoes Debütant Chiyootori feiert eine erfolgreiche Premiere, sein erster Kampf in der Makuuchi-Division endet mit einem Sieg.

Applaus für Ohrfeigen

Die Reaktionen im Publikum sind zum Teil interessant („Der Gyoji bewegt sich heute besonders elegant“), dann wieder erstaunlich. Szenenapplaus ernten zum Beispiel aggressive Mongolen, die sich vor dem Kampf klatschend ohrfeigen, um sich in Stimmung zu bringen – was eigentlich nicht die feine japanische Art ist. Generell erweisen sich die ausländischen Rikishi als äußerst populär: Die Ovationen für Sekiwake Baruto, einen ehemaligen Judochampion aus Estland, der seinen Gegner mit der unerbittlichen Wucht seiner 193 Kilo aus dem Ring panzert, reißen erst mit seinem Abgang durch das Westtor ab.

Die Kämpfe der beiden Yokozuna bilden den krönenden Abschluss des Tages. Der 29-jährige Mongole Harumafuji fasziniert mit panthergleichen Bewegungen, die im Lauf der minutenlangen Rituale stufenlos an Aggression gewinnen. Sein Kampf ist binnen drei Sekunden vorbei: Er bekommt sofort den Mawashi seines Gegners zu fassen und wirft ihn aus dem Ring. Erwartungsgemäß: Der Kontrahent hatte den Rang eines Maegashira – zwar erste Liga, aber im Verhältnis zu einem Yokozuna bloß Kanonenfutter.

Seit Sumo-Superstar Hakuho ein japanisches Model geheiratet hat, verzeihen ihm selbst Nationalisten seine mongolische Herkunft.

Die Werbung schätzt nichts so sehr wie verlässliche Sieger, egal, woher sie stammen

Schließlich betritt Yokozuna Hakuho den Ring, gefolgt von Dutzenden Fahnenträgern – ein Spektakel, das dem Laien erst durch Übersetzung der Schriftzeichen verständlich wird. Jede Fahne steht für einen Sponsor. Dass die Fahnenträger bei anderen Kämpfern kaum, bei Hakuho jedoch massiv auftreten, hat mit einem ungeschriebenen Gesetz zu tun: Die Werbung schätzt nichts so sehr wie verlässliche Sieger. Und seit Hakuho ein japanisches Model geheiratet hat, verzeihen ihm selbst Nationalisten die mongolische Herkunft, zumal er mit Hingabe die japanische Lebensart pflegt und in der Öffentlichkeit niemals die Haltung verliert.

Hakuho strotzt vor Selbstbewusstsein, jede Bewegung seines Vorkampfrituals exerziert er ebenso elegant wie mit Bedacht, begleitet von Wogen der Begeisterung. Der Gegner – obwohl alles andere als ein Niemand – wird routiniert erledigt. Das ist für einen Yokozuna nicht nur Kür, sondern Verpflichtung: Beginnt er einmal zu verlieren, muss er von sich aus die Karriere beenden.

Doch damit muss sich ein Hakuho nicht herumschlagen: Hinter ihm liegt ein Triumph im Frühlingsturnier (15 Siege, 0 Niederlagen), vor ihm ein Natsu Basho, das er wieder ohne Niederlage gewinnen wird.

Hakuho ist ein Großmeister, dessen Vorbild auch Chiyonofuji seinen Kokonoe-Schützlingen ans Herz legt: „Weil er alles richtig macht, was man im Sumo richtig machen kann.“ Und am Ende führt das wohl zu einem Gleichgewicht, wie es die Götter lieben.

Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 3/2013.

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