Mein weiser Freund Liman

Liman Feltour, ein gebürtiger Nomade aus dem Norden Nigers, ist der weiseste Mann, den ich kenne. Umso mehr stört es mich da, dass er sich selbst als „ein Tier auf zwei Beinen“ einstuft. Weil er nie eine Schule besucht habe. Anders als sein jüngerer Bruder Rhissa! Der habe studiert, sei nun Bürgermeister von Agadez, der großen Stadt am Wüstenrand. Wohin gegen er, Liman, der ungebildete Kamelzüchter, nie mehr sein könne als jenes „Tier auf zwei Beinen“. Mir geht dieses Gerede ziemlich auf die Nerven. Limans Leben erscheint mir überhaupt nicht als gescheitert, eher wie ein philosophisches Lehrstück. Zeigt es doch, wie ein Einzelner mit Herz die Wüste in eine Oase der Menschlichkeit verwandeln kann. Was könnte wertvoller sein in diesen kalten Zeiten?
Kennengelernt haben wir uns im Frühjahr 1993. Das war während der großen Tuareg-Revolte im Norden Nigers, was dem Süden der Sahara entspricht. Gekämpft wurde dort in Gegenden, die mir so menschenfeindlich erschienen, dass ich nicht begriff, wie jemand um sie kämpfen konnte. Um Gebiete wie die Ténéré, eine Sandwüste ohne Erdöl. Wie Azawad, eine trostlose Ebene aus grauem Sand, der sich in der Trockenzeit – das sind mindestens elf Monate im Jahr – in Staub auflöst. Wie Aïr, ein von den Dürren vorangegangener Jahrzehnte ausgebranntes Gebirge so groß wie Österreich. In seinen Wadis zogen Nomadenmit ihren Herden umher, ständig auf der Suche nach Vegetationsresten, die Liman bis heute überschwänglich „Weiden“ nennt.
Eine Ödnis namens Heimat
Aber wie dem auch sei, für viele Tuareg bedeutete diese Ödnis Heimat. Und Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts trugen sich ein paar hundert Guerilleros mit dem Gedanken, aus dieser trockensten Region der Sahel-Republik Niger einen unabhängigen Sahara-Staat zu machen. Als ich an jenem Märztag das Hauptquartier der Rebellen im Aïr-Gebirge erreichte, herrschte dort gerade beste Stimmung. In der Nacht zuvor hatten sie die nahegelegene Uranmine Arlit angegriffen und geplündert. Voller Stolz zeigten mir die Kämpfer ihre Beute: Waffen, Pick-ups, Werkzeuge, Jacken, Stiefel, Geld, jede Menge Kleinkram.
Und auch eine Anekdote hatten sie von ihrem Raubzug mit in die Wüste zurückgebracht: die Geschichte von Liman Feltou. Nach dem siegreichen Überfall hatte dieser seltsame Kerl seine Kalaschnikow an einen Nagel gehängt und sich auf dem Gelände der Uranmine auf die Suche nach einem Brunnen begeben. Anstatt, wie alle übrigen, Beute zu machen! Liman fand einen Gartenschlauch, folgte ihm bis zu einem Wasserhahn und löschte seinen Durst. Dann ruhte er sich an seinem „Brunnen“ aus. Liman war der einzige Targi, der die Uranmine von Arlit in jener Nacht mit leeren Händen verließ.

Natürlich wollte ich seine Bekanntschaft machen. Man wies mir den Weg zu einem stillen Wadia abseits des Rebellenlagers. Dort kümmerte sich Liman um Reparatur und Wartung von Pick-ups. Ihre Allrad-Flotte war für die Rebellen von strategischer Bedeutung. Ohne funktionierende Geländewagen wäre die Truppe in der Wüste verloren gewesen. Dennoch hatte keiner im Lager die geringste Ahnung von Automechanik. Außer Liman, der dieses Handwerk in einer libyschen Oase erlernt hatte. Eigentlich wollte er Lastwagenfahrer in der Sahara werden.
Warum er sich nicht dem Raubzug seiner Kameraden angeschlossen habe, fragte ich ihn. „Aman iman“, antwortete Liman. Jeder in der Südsahara kennt dieses Sprichwort der Tuareg. In ihrer Sprache Tamascheq unterscheidet ein einziger Buchstabe die Wörter für Wasser (aman) und Leben (iman). Weil das eine das andere bedingt: ohne Wasser kein Leben – aman iman!
Fast alle Rebellen waren Nomaden-Söhne aus den Wadis von Nord-Niger und Nord-Mali. Ab 1980 hatten sie sich als Söldner für den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi verdingt. Ein Jahrzehnt später kehrten sie zurück in ihre alte Heimat, im Gepäck die Kalaschnikow. Sie wollten ihr hellhäutiges Volk von der Macht schwarzer Regierungen in Bamako und Niamey „befreien“– und damit jenes gefühlte Unrecht korrigieren, das ihnen die einstige Kolonialmacht Frankreich hinterlassen hatte.
Mit Sturmgewehr und Panzerfaust
Doch ihre Väter und Großväter, die traditionellen Tuareg in den Wadis, zeigten wenig Respekt für die Heimkehrer. In Libyen hatten die Jungen ihre alte Lebensart verlernt und nichts Neues dazu-gelernt – nur den Umgang mit Sturmgewehr und Panzerfaust. Die Nomaden nannten sie ishomar, abgeleitet von chomeur, dem französischen Wort für „Arbeitsloser“. Es war verächtlich gemeint, sollte heißen: Männer ohne Nutzen. Die Rebellen akzeptierten den Namen, werteten ihn jedoch positiv um. In ihrem Munde bedeutete Ishomar so viel wie „Robin Hood der Wüste“.

Mir kamen die Ishomar eigentlich recht vertraut vor. Trotz der geografischen Entfernung wirkten sie wie die Kinder einer Moderne, deren Ursprung in meiner eigenen Gesellschaft lag. Sie wollten „cool“ sein. Und ständig drehte sich ihr Reden um das, wonach sie sich gerade sehnten: Ruhm, Komfort, Kurzweil. Am Lagerfeuer träumten sie von einem Leben in der Stadt, von bequemen Posten in Armee oder Administration, von klimatisierten Geländewagen, von Mädchen und Musik. Immer ging es um das, was sie wollten – wenn nicht sofort, so doch in greifbarer Zukunft.
Liman hingegen blieb stets in der Gegenwart verwurzelt. Sein Denken orientierte sich weniger am Wollen als am Können. Darin lag der Kern seiner Identität als Nomade.
Geboren und aufgewachsen im Wadi Tiden, rund 100 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, hatte Limans „Schule“ darin bestanden, jene Fähigkeiten zu erlernen, die einem in der kargen Wildnis des Aïr-Gebirges umherziehenden Hirten das Überleben aus eigener Kraft ermöglichen.
Als Siebenjähriger hatte er gelernt, dem Wadi Nahrung für die Herde abzuringen. Etwa, indem man mit einer langen Stange vertrocknete Blätter aus Akazienkronen schlägt, damit sie auf die hungrigen Schafe und Ziegen herabrieseln. Oder durch das Wissen, welche Pflanzen bei Dürre die Kamele am Leben erhalten können, und wo im Wadi sie zu finden sind.
Die existenziellen Probleme der Wüste –Wasser, Weiden und das damit verbundene Überleben der Herde – lassen in den meisten Fällen nur einen einzigen Ausweg zu. Ihn nicht zu erkennen hat fatale Folgen.
Hauptfach im Nomadenunterricht war natürlich Aman iman. In welcher versteckten Felsspalte lässt sich etwa ein guelta finden, ein natürliches Wasserreservoir, das dem fern seines Brunnens Irrenden das Leben retten kann? Und wie stellt man es an, nach der Regenzeit, wenn die alte Wasserstelle im Wadi verschlammt ist, einen neuen Brunnen anzulegen?
Finanziell rechnet sich die Nomadenwirtschaft einfach: Schafe und Ziegen sind das Kleingeld. Brauchte die Familie Feltou etwas vom Markt, wählte Limans Vater eine Ziege oder einen Hammel aus seiner Herde und zog zur nächstgelegenen Oase. Dort verkaufte er das Tier und machte mit dem Erlös die nötigen Besorgungen: Hirse, Zucker, Kautabak, Werkzeug, Stricke, Stoffe.
Heilige Kamele
Nur in allergrößter Not jedoch hätte Feltou Dayak – der heute im Alter von 92 Jahren noch immer im Wadi Tiden lebt – ein Kamel verkauft. Jedem Wüstennomaden gelten seine Kamele als unantastbar. Nicht allein wegen ihres Nutzwerts als Reit- und Karawanentiere. Sondern vor allem, weil sie seinen eigenen Wert als Mensch widerspiegeln. Die Kamele sind das Grundkapital, das Gold jedes Tuareg-Nomaden. Verliert er sie, ist sein Leben verpfuscht und endet womöglich in den Slums der Sesshaften. Oder in einem Auffanglager für Dürreflüchtlinge.

In der Zeit von 1997 bis 2007 sahen wir uns oft. Damals unternahm ich etliche Reisen in komplizierte Ecken der Südsahara. Und stets mit Liman an meiner Seite. Wie hätte ich mein Leben einem anderen anvertrauen können? Sich mit Liman in seiner Wüste zu verirren, ist unmöglich. Er findet Wege, wo es keine Straßen gibt. Weiß die Richtung von den Sternen abzulesen. Oder vom Wellenprofil, das der Passatwind Harmattan in den hart gebackenen Wüstensand gefräst hat. Ja sogar am Schatten seines Toyota Land Cruisers erkennt mein Freund, in welche Richtung die Fahrt gerade führt!
Eines Tages hatten wir eine Panne. Während Liman mit den Händen eine Grube unter dem Wagen aushob und sich daran machte, die Kupplung zu reparieren, stand ich nur unnütz daneben. Vor uns, hinter uns, um uns herum erstreckte sich eine Sandebene ohne geringste Erhebung.
Geografie und Geometrie schienen sich auf antike Art und Weise zu vereinen. Die Erde war wieder eine Scheibe, hinter deren Peripherie gegen 18.30Uhr die Sonne in den kosmischen Abgrund stürzte. Als ich mich langsam um die eigene Achse drehte, stellte ich fest, dass der Horizont einen perfekten Kreis beschrieb. Dessen Mittelpunkt war ich selbst.
Liman findet Wege, wo es keine Straßen gibt. Weiß die Richtung von den Sternen abzulesen. Oder vom Wellenprofil, das der Passatwind in den hart gebackenen Wüstensand gefräst hat.
Ein Gefühl ungeheurer Bodenlosigkeit erfüllte mich. Die Welt, aus der ich kam, bestand aus lauter Gegensätzen. Aus Formen, Konturen, Farben, die sich voneinander abhoben, um ihren Anspruch auf Wichtigkeit gegen die konkurrierende Fülle anderer Konturen, Formen, Farben zu verteidigen. Spazierte ich auf den Boulevards und Avenuen meiner Heimatstadt Paris, empfand ich, was ich sah, oft als visuelle Schreie. Limans Wüste bot das Gegenteil: totale Stille, auch für die Netzhaut. Keine Kontraste, nur Verläufe. Alles ging ineinander über, zerfloss zu dem ermüdenden Eindruck einer sich ewig wiederholenden Einheitlichkeit.
Alternativen? Keine.
Irgendwann wurde ich im Schwindel meiner Gedanken müde, legte mich in den Sand und schlief ein. Liman reparierte sein Auto in einem mehrstündigen Alleingang – mit welchen mechanischen Zaubermitteln, das wollte ich gar nicht wissen. Gegen drei Uhr weckte er mich, wir fuhren weiter. War er denn nicht erschöpft? Ich wusste, es würde keinen Sinn haben, Liman diese Frage zu stellen. Der Nomade tat einfach, was zu tun war. Und in dieser Nacht galt es, vor der nächsten Ruhepause noch eine bestimmte Strecke auf dem Weg bis zum nächsten Brunnen zurückzulegen. Alternativen? Keine. Erst im Morgengrauen hielt Liman an. Wir stiegen aus und legten uns zum Schlafen in den Mittelpunkt des unheimlichen Kreises.

Limans Land ist kleiner geworden. Seit islamistische Terroristen in der Südsahara Jagd auf Kufr, auf „Ungläubige“, machen, ist der Tourismus tot. Auch Reporter bleiben der Region fern. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns kaum noch gesehen. Gelegentlich konnte ich ihn telefonisch in Agadez erwischen. Und erfuhr, dass er nun eine Baufirma betrieb. Seine Baustellen lägen außerhalb der Stadt, sagte Liman. Nur deshalb habe er so selten Handy-Empfang. „Mach dir keine Sorgen“, so mein Freund bei unserem jüngsten Telefonat. „Alles in bester Ordnung. Ich habe viel zu tun, und meine jüngsten Kinder lernen fleißig in der Schule!“
Dann unser Wiedersehen, dass ich mir verständlicherweise anders vorgestellt habe. Jetzt nämlich finde ich einen Mann, der im Alter von 62 Jahren wieder auf dem nackten Wüstenboden schläft. So, als bliebe ihm nur das nackte Leben. Keine Spur von Komfort, von Sicherheit, von Urbanität. „Mein Zuhause“, sagt Liman, „ist jetzt hier.“
Hier? Der Ort liegt nordöstlich von Agadez, ungefähr ein Dutzend holprige Allrad-Stunden von Limans Stadthaus entfernt. Ein Ort ohne Namen. Wir lehnen mit dem Rücken gegen das Hinterrad seines Pick-ups. Mit fortschreitendem Nachmittag spendet der Land Cruiser zunehmenden Schatten. Es ist der einzige Luxus. In unserem Blick liegt nichts als Wüste. Bis hin zu jener Peripherie, wo nachher wieder die Sonne in den Abgrund stürzen wird. Wie damals im Tafassasset. Und doch ganz anders. Denn das scheinbare Nichts des Liman-Landes ist gefüllt mit Leben. Grasende Kamele verteilen sich über die Fläche zwischen LandCruiser und Horizont. „Meine Herde“, sagt Liman stolz. Manchmal tauchen in diesem gewaltigen Raum auch Menschen auf, mit Turbanen und verhüllten Gesichtern: „Meine Nachbarn“, betont Liman. Er meint Hunderte von Nomaden mit Tausenden von Tieren. Gemessen an Südsahara-Verhältnissen, schon fast ein Ballungsgebiet!
Die Menschen der Region haben es Liman zu verdanken, dass ihr Leben relativ sorglos verläuft. Nur wegen seiner Brunnen und Tränken können sie sich mit ihren Herden immer dort niederlassen, wo die letzte Regenzeit tatsächlich stattgefunden hat.
Und seine Bewohner haben es Liman zu verdanken, dass ihr Leben relativ sorglos verläuft. Mit Geldern einer französischen Hilfsorganisation hat Liman im Zentrum dieser Leere einen prächtigen Nomaden-Brunnen gebaut. Und – verteilt auf einen Umkreis von 250 Kilometern – noch Dutzende weitere Tränken für Menschen mit Herden. In diesem Gebiet können die Nomaden nun gefahrlos von einer „Weide“ zur nächsten ziehen. Um sich stets dort niederzulassen, wo die letzte Regenzeit auch tatsächlich stattgefunden hat.
Denn überall finden sie in ihrer Reichweite einen Brunnen. Aman iman – Leben dank Wasser. Aber warum hat Liman sich gerade für diese und keine andere Einöde entschieden? Immerhin erstreckt sich Nigers Wüste über fast eine Million Quadratkilometer. Liman erzählt: „Ich habe einen Freund in dieser Gegend, Ahmed Lebouch.“ Ja, den habe ich auch schon kennengelernt: ein Vollnomade von altem Schrot und Korn. „Als noch Touristen kamen, führte ich sie oft zum Toten Wald.“ Er meint die fossilisierten Baumstämme, die irgendwo hier im Sand liegen. „Damals kam mir die Idee, Kamele zu kaufen und sie Ahmeds Obhut anzuvertrauen.“
Bestimmt, weil sich in Liman die Stimme seiner Kindheit zu Wort gemeldet hatte. Mit typischen Tuareg-Fragen wie: Wo ist deine Herde? Wo ist dein Nomadengold? Was hast du gemacht aus deinem Leben? Und als dann die Dschihadisten die Touristen verjagten, baute Liman die vielen Brunnen und verlagerte seinen Hauptwohnsitz zurück in die Wüste. „Meine Herde“, sagt er, „umfasst schon über hundert Kamele.“

Das ist im Grunde schon die ganze Geschichte. Ein modernes Märchen mit einem bislang wunderbaren Ausgang. Denn der Targi Liman Feltou hat Großes geschaffen: Er verbindet die letzten freien Nomaden mit der Stadt. Und erspart es ihnen dadurch, sesshaft werden zu müssen. Dies gelingt nicht allein durch Brunnenbau. In individuellen Notfällen ist es eher Limans Pick-up, der die Stadt in rettende Reichweite zur Wüste rückt.
Vor einiger Zeit wurde sein Freund Ahmed Lebouch blind. Grauer Star. Also hob Liman den Greis ins Auto und fuhr ihn zum Augenarzt in Agadez. Die Kosten für die Operation beglich er durch den Verkauf eines seiner Kamele. „Heute“, sagt Liman „kann Ahmed die Tiere seiner Herde wieder deutlich erkennen.“
Ein Wort noch zu seiner Bleibe. Im Wesentlichen beschränkt sie sich auf eine geflochtene Bastmatte. Deren Platzierung folgt dem Wanderschatten des geparkten Pick-ups. Tagsüber ist die Matte Wohnzimmer. Der Sand darum herum ist übersät mit vertrockneten Kamelköteln, die hier das Feuerholz fürs Teebrauen ersetzen. Manchmal, wenn ihm die ewige Kamelmilch nicht genügt, bestellt Liman Hirsebrei bei einer Nachbarin. Die kocht ebenfalls auf Kötelfeuer.
Am Nachmittag verlässt Liman sein Wohnzimmer für ein paar Stunden, um die Herde zum Brunnen zu treiben. Dort findet auch die tägliche Generalversammlung der Nomaden statt. Nachrichten werden ausgetauscht, neue Gerüchte in die Welt gesetzt, alte bestätigt, weiter ausgeschmückt, notfalls widerrufen oder ignoriert. Menschen in der Wüste interessieren sich nur für Dinge, die sie tatsächlich betreffen. Weder Werbung noch People News. Das kann man für Ignoranz halten, aber auch für eine Gnade.
Die schönste Stunde
Die schönste Stunde liegt zwischen Sonnenuntergang und dem Einbruch der Nacht. Wenn die Hitze abklingt, stehen am Rande von Limans Wohnzimmer meist vier oder fünf Paar Schlappen. Weil dann seine nächsten Nachbarn zu Besuch sind. Jetzt werden auch die Stuten gemolken, die gerade von ihren Tagesweiden zurückkehren. So kann Liman mit seinen Gästen eine große Schale Frischmilch teilen.
Und nur einem flüchtigen Blick kann dabei entgehen, dass Liman unter den Nomaden mehr ist als ein Gleicher unter Gleichen. Der Ehrenkodex der Tuareg verbietet es einem Mann, um etwas zu bitten. Und auch, sich für einen Gefallen zu bedanken. Jeder weiß, wo sein Platz in diesem Kreise ist. Was sich zu tun schickt und was nicht. Wie unehrenhaft es ist, jemandem in Not Hilfe zu verweigern. Also gelten auch Limans Rettungsaktionen unter den Nomaden nur als normal. Und doch: Wie könnte ich den diskreten Stolz der Nachbarn übersehen, die mit auf Limans Matte sitzen? Ihre Genugtuung, sich hier auf ein und derselben Gedanken- und Augenhöhe zu befinden wie ihr Held und ewiger Retter.
Liegt irgendwann nur noch ein Paar abgewetzter Schlappen vor der Matte, wird diese zum Schlafzimmer. Vor der Nachtruhe kniet Liman nieder, presst die Stirn in den Sand und bittet Allah wie stets um die Fortführung Seiner endlosen Gnade. Dann streckt er sich aus – und zwar stets im rechten Winkel zum Land Cruiser, damit der hintere Reifen, gepolstert durch Limans Turban, ihm auch als Kopfkissen dienen kann. Und wenn dann noch das Brüllen des letzten Fohlens aufhört, weil es im Getümmel der Herde seine Mutter wiedergefunden hat, kann Liman dem Wind lauschen. Es ist ein leises Rauschen, dessen An-und Abschwellen mitunter klingt, als hätte die Wüste eine Brandung.
Limans Land liegt da, wo er hingehört. „Ich bin ein Tier auf zwei Beinen“, sagt er noch immer. Und ich wünschte, er würde endlich aufhören mit diesem Gerede. Du bist ein heimatverbundener Nomade, Liman, ein Mensch unserer Zeit. Und was für ein Mensch! Was für ein Freund.

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