Insekten-Diät: Heuschrecken als Hauptgang

Es ist noch stockdunkel, als Pedro Contreras sein Haus verlässt. Er spannt sein Pferd vor einen kleinen Karren und bringt es mit einem Zungenschnalzen auf Trab. Nach wenigen Minuten lässt die Fuhre Santiago Apóstol hinter sich, ein kleines zapotekisches Dorf im Hochland von Oaxaca. Das Pferd schnaubt weiße Wolken aus den Nüstern, die Nacht ist kalt. Rechts und links des Weges ziehen Felder vorbei. Das Getreide ist bereits abgeerntet, in zwei Monaten beginnt die Maisernte.
Nach einer Viertelstunde hält Contreras. Er knipst seine Stirnlampe an und holt ein seltsames Werkzeug vom Karren, eine Art übergroßen Schmetterlingskescher: ein längs aufgeschlitzter Sack, mit Draht kunstvoll am Ende eines mannshohen Stocks befestigt.
Beidhändig schwingt Contreras den Kescher von rechts nach links, von links nach rechts – so, als würde er die Wiese kämmen. Seine Bewegungen sind sicher, fest hält er den Kescher, holt weit aus und streift den geöffneten Sack über die noch taunassen Wildgräser, Kräuterstauden und Sträucher. Die Spitzen der Pflanzen weichen aus und schnalzen wieder hoch. „Wir nennen den Kescher ‚el avión‘, das Flugzeug“, schmunzelt der 48-Jährige. „Findest du nicht auch, dass seine Bewegungen an die Volten eines Kunstfliegers erinnern?“

Nach 30, 40 Schwüngen zeigt Contreras seine Beute: Im Sack haben sich hunderte kleine grüne Heuschrecken verfangen, Chapulin genannt. Der Name stammt aus dem Nahuatl, der Sprache der Azteken, und bedeutet „ein Insekt, das wie ein Gummiball springt“. Entomologen nennen die Tiere Sphenarium purpurascens, die Maisfeldheuschrecke. „Sie sind eine Delikatesse und eine wichtige Proteinquelle“, erklärt Contreras. Er schnalzt mit der Zunge. „Wir essen sie, und wird das Geld knapp, verkaufen wir sie auf dem Markt.“
Zwischen August und November ziehen jeden Morgen viele Menschen durch die Felder von Oaxaca auf der Jagd nach Chapulines, oft ganze Familien mit ihren Kindern. Auch Contreras hat einst seinen Vater als Junge begleitet. Ein geschickter Chapulinero, wie die Heuschreckensammler heißen, fängt in einer Stunde ein halbes Kilo Heuschrecken. Auch Contreras. Die Sonne geht auf, mit jeder Minute wird es wärmer. Contreras kehrt nach Hause zurück, wo die Kinder schon beim Frühstück sitzen. Seine Arbeit in der Stadtverwaltung beginnt um 9 Uhr. „Die Heuschreckenjagd ist für uns meist ein Zubrot – die Leute haben so wie ich andere Jobs, um ihre Familien zu ernähren.“
Das Essen von Insekten hat in Mexiko schmackhafte Tradition. Können Weideland und Felder die Familie nicht ernähren, springen Käfer und Würmer ein, stillen Raupen und Heuschrecken den Hunger, und sogar Skorpione und Ameisen finden ihren Weg auf den Speisezettel.
Andere Länder, andere Geschmäcker

Heuschrecken kommen als eine von vielen Insektenarten in Mexiko seit Jahrtausenden auf den Tisch. Der Franziskanerpater Bernardino de Sahagún, im 15. Jahrhundert ein wichtiger Chronist der spanischen Eroberung, hat 96 Insektenarten beschrieben, die damals von der atztekischen Bevölkerung gegessen wurden. Die neuen Kolonialherren ekelten sich hingegen vor Krabbeltieren: Sie verdammten den Verzehr von Insekten als Zeichen von Armut und Rückständigkeit.
In Gebieten mit stark indigener Präsenz überlebte die Tradition und feiert nun – seit etwa 15 Jahren – eine triumphale Rückkehr in die mexikanische Gastronomie. Top-Chefs greifen auf Insekten zurück, um ihren Gerichten spannende Geschmacksnoten zu verleihen. Alte Rezepte werden ausgegraben, Dorfköchinnen bieten traditionelle Kochkurse an, Ernährungsexperten preisen die Vorzüge der Insekten-Diät.
Auf dem Mercado de San Juan in der Calle Ernesto Pugibet in Mexiko-Stadt bekommt man einen Vorgeschmack auf die kulinarische Vielfalt des Landes, Insekten inklusive. Gemüse- und Obststände mit Dutzenden Chili-und Tomatensorten reihen sich an Theken mit Tortilla-Fladen in unterschiedlichen Farben und Größen. Neben Geflügel und Fleisch werden wie selbstverständlich Heuschrecken, Agavenwürmer, Skorpione, Käfer und Kakerlaken, sogar Hundertfüßer und Taranteln verkauft und auch vor Ort zubereitet.
„In den vergangenen Jahren ist die Nachfrage deutlich gestiegen“, erzählt Adrián Álvarez. Er hat früher mit Hühnern gehandelt, vor fünf Jahren sattelte er um und gründete die Firma Productos Prehispánicos Álvarez. Sie kauft Insekten bei Zwischenhändlern im ganzen Land und beliefert damit überwiegend Restaurants in der Hauptstadt, aber auch Privatpersonen und Touristen.
Álvarez’ Stand mit der Nummer 117 zieht viele Schaulustige an. Auf der Edelstahl-Theke präsentiert er ihnen ein Dutzend Glasschalen mit unterschiedlich zubereiteten Chapulin-Heuschrecken, mit Chicatana-Ameisen, Kakerlaken und Skorpionen, dazwischen stehen Plastikbecher gefüllt mit Agavenraupen. „Skorpione und Taranteln sind bei Touristen beliebt – der Verzehr ist eine Mutprobe, mit der sie zu Hause angeben können“, grinst der Händler. „Chapulin, Chicatana und Chinicuil-Raupen gehören dagegen zu unserer kulinarischen Tradition, vor allem in den Bundesstaaten Oaxaca und Hidalgo.“

Oaxacas Hauptstadt, Oaxaca de Juárez, wird auch Heuschreckenstadt genannt: Die Tiere finden sich hier auf den Speisekarten von Gasthäusern und Restaurants und werden in den Straßen und auf Märkten verkauft. In der Stadt pflegt man zu sagen: Wer hier einmal Chapulin gegessen hat, wird immer zurückkehren.
Auf dem Mercado Benito Juárez im Zentrum von Oaxaca, einen Häuserblock vom Hauptplatz Zócalo entfernt, werden täglich Dutzende Kilos von Heuschrecken verkauft. Es gibt sie in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichem Geschmack.
„Die winzigen werden im August, die größeren Ende September, die ganz großen Anfang November gefangen“, erklärt Marktfrau Teresa Avendaño. „Die einen werden mit Salz und Limone zubereitet, die anderen mit Knoblauch und die roten dort drüben mit Chili.“ Für die meisten Käufer sind die Heuschrecken ein beliebter Snack, den sie gerne zu Bier oder Meskal an der Bar knabbern. Andere mischen sie ihren Rühreiern bei.
Seit 20 Jahren verkauft Teresa Avendaño die Chapulines, dazu auch Chicatana-Ameisen und Maguey-Würmer. Sie ist längst eine Spezialistin: „Je nach ihrem Geschmack kann ich sagen, was die Heuschrecken gefressen haben: Luzerne, Mais oder Erdnussblätter. Größere Exemplare müssen einen Tag lang in Behältern bleiben, damit sie die bitteren Essensreste ausscheiden können.“
Nach dem Aufkochen werden die Heuschrecken rötlich. Nun werden sie gewaschen und gesiebt, um Sand, Gras und Blätter zu entfernen, dann mit Limone, Knoblauch oder Chili mariniert und über dem Feuer oder im Ofen geröstet. Teresa Avendaño: „So halten sie ein Jahr lang, bis die neue Ernte da ist.“
Seit einigen Jahren werden Chapulines auch in Supermärkten angeboten – getrocknet im Glas oder in einer Tüte, verarbeitet zu Saucen oder gemahlen mit Salz. „Wir halten uns an die traditionellen Rezepte und verzichten weitgehend auf chemische Konservierungsmittel“, sagt Roberto Pérez. „Das Ergebnis ist dann zwar nicht so lange haltbar, aber besser im Geschmack.“ Pérez und sein Partner Hugo Sandoval, beide Lebensmittelingenieure, haben noch während ihres Studiums die Firma Inalim gegründet. Sie beschäftigen in ihrer Fabrik in Santa María Coyotepec fast 80 Mitarbeiter und vertreiben ihre Produkte weit außerhalb von Oaxaca – in Mexiko-Stadt, Guadalajara und Monterrey. Zurzeit bemühen sie sich um eine Exportlizenz für die USA.
Die Atta mexicana, eine wohlschmeckende Blattschneiderameise, verlässt nach den ersten Regenfällen im Jahr ihr unterirdisches Nest, um zu schwärmen. Wer diese Nächte im Juni verpasst, hat Pech gehabt, denn tagsüber verschwinden die Insekten wieder unter der Erde.
Scheue Zutaten machen Spitzenköche zu Entomologen
Insekten verleihen selbst den besten Speisen eine besondere Note. Das weiß Rodolfo Castellanos, 2016 Gewinner des mexikanischen Top-Chef-Wettbewerbs. In seinem Restaurant Origen in Oaxaca-Stadt serviert er Salat mit Heuschrecken und Agavenwürmern sowie eine Pilz-Quiche mit Apfelsoße und Chicatana-Ameisen – nicht als Mode, sondern als Teil kulinarischer Tradition. Castellanos: „Ich bin überzeugt, dass Insekten in Zukunft eine große Rolle in der Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung spielen werden.“
Weltweit gibt es fast 1.900 essbare Insektenarten, davon allein 600 in Mexiko. Gesund sind sie alle: Eine Heuschrecke enthält viel Eiweiß, Kalzium, Eisen, Phosphor und Magnesium, aber kein Fett. Auch die Umwelt profitiert vom Insektenverzehr. „Insekten stoßen kaum schädliche Gase aus und nehmen schnell an Gewicht zu: Aus zwei Kilo Nahrung wird ein Kilo Insektenmasse“, sagt Alejandro Ruiz. „Und wer sie isst, sorgt zusätzlich dafür, dass sie uns nicht unsere Nutzpflanzen wegfressen.“
Auch Ruiz gehört zu Mexikos berühmtesten Chefköchen: Unter seiner Leitung ist die Casa Oaxaca vor 15 Jahren zu den besten Restaurants Lateinamerikas aufgestiegen. Ruiz’ berühmteste Kreation setzt auf Insekten: Es ist eine Tostada, eine große geröstete Tortilla, mit frischer Guacamole sowie in Butter gebratenen Chapulines, Chicatanas (Blattschneiderameisen) und Chinicuiles (Mottenlarven). „Die Insekten sorgen für Würze und das köstliche Aroma“, sagt Ruiz.
Aromatisch ist auch seine Chicatana-Mole, eine dickflüssige Sauce aus Atta mexicana, Blattschneiderameisen. Diese kriechen nach den ersten großen Regenfällen des Jahres im Juni aus ihren unterirdischen Nestern und schwärmen aus. Ruiz: „Sie müssen in dieser Nacht gesammelt werden, denn tagsüber verschwinden sie wieder.“




Im Hochland um San Luis Potosí lebt weder die gefräßige Heuschrecke noch die Chicatana-Ameise; sie finden hier kein Futter. Im Sommer brennt die Sonne vom Himmel, im Winter ist es empfindlich kalt – und es gibt kaum Regen. Alles, was der ausgedorrte Boden hier wachsen lässt, trägt Dornen, Nadeln und Zacken. „Das Leben hier ist hart“, sagt der Bauer Juan Gaitán, dessen Gehöft im Dorf Cerro Prieto steht, errichtet aus Lehmziegeln und Zementblöcken, mit vier Kühen und drei Eseln hinterm Haus. „Bohnen und Mais werfen kaum genug ab. Und Jobs gibt es nur auf Tomatenfarmen – für fünf Euro am Tag.“
Zweimal im Jahr haben die Bauern im Potosí-Hochland dennoch Grund zur Freude. Im März suchen sie nach Escamoles, Ameisenlarven, in Mexiko „Kaviar der Wüste“ genannt. Mitte August beginnt die Saison für Chinicuiles, die sich in den Maguey-Agaven einnisten, aus denen sonst Meskal gebrannt wird. „Das Überleben unserer Familien hängt heute weitgehend von den Insektenernten ab“, erzählt Gaitán.
Auch Chinicuiles werden früh am Morgen geerntet. Mit einer Spitzhacke auf der Schulter und einem Messer im Gurt kreuzt Gaitán zwischen den Maguey-Agaven hin und her – und mustert sie: „Ihre unteren Blätter müssen gelb und leicht vergammelt sein. Das ist ein Zeichen, dass sie von Chinicuiles befallen sind.“ Hat er eine passende Agave gefunden, schwingt er seine Spitzhacke durch die Luft. Er trifft die Pflanze am Ansatz der Wurzel, reißt sie aus der dunklen Erde. Zwischen den Wurzeln tauchen sofort rosa leuchtende Raupen auf. Vorsichtig schaufelt Gaitán die Erde mit den Händen heraus, um die gusanos, wie die Würmer heißen, nicht zu zerdrücken. Doch die meisten muss er aus dem kurzen Agavenstamm herauspullen, in den die Raupen ihre verwinkelten Kanäle gefressen haben.
Chinicuiles sind eine Plage – für die Menschen in Cerro Prieto aber ein Segen. An guten Tagen sammeln die Bauern bis zu 1,5 Kilo Raupen. Ein Kilo bringt auf dem Markt in der Stadt Charcas oder beim Zwischenhändler, der in ihr Dorf kommt, etwa 600 Pesos, fast 25 Euro. „In sechs Wochen verdiene ich bis zu 1.200 Euro“, rechnet Gaitán vor, der damit die Hochzeit seines Sohnes finanziert hat.
Nur selten isst er die Raupen selbst: „Für das Geld aus dem Verkauf bekommen wir eine Menge Bohnen.“ Wenn doch, dann wäscht Gaitáns Frau die Gusanos und brät sie in Öl in einer Pfanne. In einem Mörser zerdrückt sie Chilis, Knoblauchzehen und Tomaten und fügt der Sauce frittierte Würmer hinzu. Die Mahlzeit aus frisch gebackenen Tortillas mit gestampften Bohnen, der Chinicuil-Sauce und den frittierten Raupen schmeckt nussig und angenehm scharf.





Berühmt für seine Insektenspezialitäten ist auch das Mezquital-Tal im Bundesstaat Hidalgo. Im Städtchen Santiago de Anaya, zwei Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt, findet jeden April ein einschlägiges kulinarisches Festival statt. „Bei uns landet alles im Topf, was läuft, kriecht und fliegt“, scherzt Stadtführer José Hernández Cruz und zählt gleich die seltensten Spezialitäten auf: „Xamues-Baumkäfer, weiße Chicharras-Würmer, Ixtle-Wespeneier – oft essen wir die Insekten mit Blütenblättern der Königspalme.“
Hernández streicht sich über den runden Bauch, während er erzählt. Mit einem ironischen Unterton fügt er hinzu: „Die Natur sorgt für uns: Hier muss niemand verhungern.“
Die Insektenküche erlebte in Mexiko in den vergangenen Jahren eine Renaissance. Spitzenköche verleihen mit den Tierchen ihren Speisen neue und spannende Geschmacksnoten, alte Rezepte werden wiederbelebt, und Köchinnen auf dem Land bieten traditionelle Kochkurse an.
Herausforderung für Hobbyköche



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