Ein Tag schreibt Geschichte: Die Erfindung der Cornflakes

Die Geschichte der Cornflakes beginnt nicht am Anfang, aber 28 Sätze später. „Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“ Diese Stelle in der Genesis (1:29) führte – unter Zuhilfenahme einer Sekte und nach Zutat eines Bruderzwists – zur Entstehung von neuen Ernährungsgewohnheiten und ließ dabei auch gleich noch einen Weltkonzern entstehen.
Das Bibelzitat gilt den Siebenten-Tags-Adventisten als diätologischer Imperativ: kein Fleisch! Gegründet 1863 als eine der protestantischen Freikirchen, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA zahlreich aus dem Boden schossen, haben die Adventisten heute mehr als 20 Millionen Mitglieder weltweit. Gar nicht schlecht für eine fundamentalistische Sekte mit größtenteils vergnügungsfeindlichem Anordnungsapparat. Man muss aber einräumen, dass unter den Adventisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen kaum vorkommen, das ist wissenschaftlich erwiesen.
Diese Kirche gedieh in einem Land, in dem man zum Abendessen ebenso Schweinerippchen oder Steaks essen mochte wie zum Frühstück. Gemüse galt als überflüssig. Verdauungsstörungen waren daher weit verbreitet. Man kann sagen, das Feld war bestellt für Idealisten, die das Fleisch ebenso vom Tisch verbannen wollten wie die damit zumindest sprachlich verknüpfte Lust aus den Schlafzimmern. Denn Fleisch, gewürzte Speisen und andere Köstlichkeiten galten als Reizstoffe, welche die Libido anregen.
Und so sind die Adventisten und andere Sekten eingebettet in einen breiten Strom gesundheitsreformerischer Bemühungen, in denen stets triviale physiologische Ansätze mit moralischem Impetus der harten Sorte verbunden waren. Genuss von Alkohol, Kaffee, Fleisch, die Selbstbefriedigung, der Sex im Allgemeinen, alles Teufelszeug, welches den Menschen verdirbt. Fleisch zudem führt im Dickdarm zu Eiweißfäulnis.
Ellen White, Zentralfigur der Siebenten-Tags-Adventisten, erhielt am Weihnachtstag 1865 per himmlischer Stimme den Befehl, in Battle Creek, Michigan, ein Kurhaus für Adventisten zu eröffnen. Ein Jahr später war es fertig. Nach weiteren zehn Jahren wurde der damals erst 24-jährige Arzt John Harvey Kellogg (1852–1943) zum Chefarzt und Leiter ebendieses Hauses bestellt. Kellogg entstammte einer adventistischen Familie; die Sekte hatte auch sein Medizinstudium finanziert. Sein weltanschaulicher Hintergrund war dementsprechend.

Kellogg war jedoch kein in sich gekehrter Sonderling, sondern vielmehr ein großer Macher amerikanischen Zuschnitts. Unter seiner Ägide entwickelte sich das obskure Adventistenkurhaus als „Sanitarium“ zur größten, modernsten und eigentlich abgefahrensten Naturheilklinik der Welt. Viele tausend Menschen, darunter Zelebritäten wie Henry Ford, John D. Rockefeller und Dale Carnegie frequentierten das zunehmend luxuriöse und großartige Haus und unterzogen sich einschüchternden Behandlungen wie kalten Duschen, Elektroschwitzbädern, Reiten auf dem mechanischen Pferd ebenso wie hygienischen Notwendigkeiten wie Rektalduschen, Einläufen, Vaginalduschen, Licht- und Luftbädern. Hygiene war wichtig und erfasste alle Lebensbereiche: Magen, Darm, Haut, Moral, Eheleben.
Die Legende um die Erfindung der Cornflakes erzählte John Harvey Kellog gerne so: Alles begann mit einer Patientin, die sich am harten Frühstückszwieback das künstliche Gebiss zerbrochen hatte.
Die Wahrheit war eine andere: Die Weizenflocken entstanden nach dutzenden Versuchen
Der Chirurg Kellogg (Spezialität: Darm-OPs) betätigte sich bald auch als Hüter der Moral und bekämpfte vor allem die Masturbation bei Jugendlichen, wobei von Hände zusammenbinden bis hin zur Beschneidung ohne Anästhesie (damit es ihnen eine Lehre sei) ein breites Spektrum an Behandlungen zur Anwendung kam. Zu essen gab’s im hypereleganten Speisesaal des Sanitariums natürlich nur Gesundes bzw. was man damals dafür hielt – und was großteils auch heute noch als gesund gilt. Kellogg erkannte etwa die Bedeutung von Ballaststoffen.
Der gerne in Weiß gekleidete Kellogg verstand sich als Vertreter der Naturheillehre. Gleichzeitig aber betätigte er sich – denn er war ja Amerikaner – auf dem neuen Feld der Erfindung von Fertigspeisen. Die Großküche des Sanitariums war sein Labor, in dem wissenschaftlich gearbeitet wurde. Über 80 Neuschöpfungen entstanden hier, von der Erdnussbutter (ja, auch die wurde von Kellogg in Battle Creek erfunden!) über gesunde Schokolade und Fertigsuppen sowie Ersatzstoffe für Fleisch (Protose), Kaffee (Noko) und Kakao (Koko) – bis hin zu den Cornflakes.

Um diese ranken sich Legenden, eine davon erzählte der große Chef selbst: Eine Patientin hatte sich am harten Frühstückszwieback das künstliche Gebiss zerbrochen. Kellogg ging schlafen, träumte, wachte auf und ließ Weizenbrei kochen. Will Keith, der jüngere Bruder von John Harvey, schabte mit einem Messer am getrockneten Brei, woraufhin sich Flocken lösten. Diese schoben die Brüder in den Ofen – fertig waren die ersten geschmacklosen Flocken. In Milch gelegt, ergaben sie ein Frühstück, das die Zähne nicht bedrohte. So weit die Legende.
In Wahrheit waren die Cornflakes das Ergebnis einer Reihe von Versuchen, systematisch durchgeführt und zielstrebig zum Erfolg gebracht. Wenn auch nicht gleich: Zwischen dem Traum – oder der Idee – und dem 7. März 1897, dem Tag, an dem im Sanitarium in Battle Creek zum ersten Mal Cornflakes, damals noch Granose genannt, als Frühstück gereicht wurden, waren vier Jahre vergangen. Danach wurde das Tempo angezogen, zunächst von John Harvey selbst, der noch 1897 die Sanitas Food Company als Teil des Sanitariums gründete. Dort wurde auch die Granose hergestellt und in übersichtlichen Mengen verkauft.
Der Arzt John Harvey Kellogg entwickelte die Vorläufer von Cornflakes aus medizinischen Gründen. Sein Bruder Will Keith Kellogg veränderte das ursprüngliche Rezept und machte die Maisflocken zur Grundlage seines Weltkonzerns.
Die Cornflakes wurden zum Erfolg, doch die Kelloggs-Brüder entzweiten sich darüber
Nach 1897 entstanden, durch das Beispiel der Kelloggs angeregt, in Battle Creek an die vierzig Unternehmen, die sich der Herstellung von Weizenflocken verschrieben. Das wiederum inspirierte Will Keith, aus dem Schatten seines großen Bruders zu treten. Gegen dessen Willen löste er die Cornflakes-Herstellung aus dem Sanitarium-Imperium. Mit der Battle Creek Toasted Corn Flake Company gründete er sein eigenes Unternehmen, das fortan die Cornflakes mit Zucker süßte, sodann den Weizen durch Mais ersetzte und schließlich für den weltweiten Siegeszug von etwas sorgte, was mit dem ursprünglichen Gedanken des John Harvey Kellogg nichts mehr zu tun hatte.
Dieser ging während der Weltwirtschaftskrise mit seinem Sanitarium pleite, während sein Bruder, mit dem er nie wieder ein Wort sprechen sollte, die Kellogg Company als Weltkonzern etablierte, der weltweit die Frühstücksgewohnheiten beeinflusste. Praktisch nichts von dem, was die Firma heute erzeugt, hätte John Harvey Kellogg auch nur seinem schlimmsten Feind serviert.

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