Der Basar der letzten Hoffnung

Freitagmorgen erwacht die Stadt der Toten zum Leben: In den engen, ungeteerten Gassen des Kairoer Friedhofsviertels, wo sich zahllose Mausoleen und kleine, mit Mauern aus hellem Stein abgegrenzte Friedhöfe aneinanderreihen, bauen Männer alte Holztische auf. Eifrig breiten sie Decken und Waren vor den Gräbern aus. Vor einer Familiengruft stellt sich ein junger Mann auf einen Stuhl und beginnt, rhythmisch auf eine Trommel einzuschlagen. „Oh mein Gott!“, schreit er, „fünf Pfund für eine Hose, fünf Pfund für eine Hose!“
Sein Kollege steht rauchend auf dem Tisch daneben und wirft die Klamotten für umgerechnet 50 Eurocent in die Menge. Drei Hosen fängt ein Mann mit ausgestreckten Armen auf. Vier T-Shirts die Frau daneben. Links und rechts von ihm tun es ihm andere Händler gleich. Schreiend bieten sie ihre Ware feil; versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Es ist kaum sieben Uhr, doch es drängeln bereits hunderte Menschen durch die Straßen.

Ein Friedhof der anderen Art
Seit einem halben Jahrhundert ereignet sich hier jeden Freitag das gleiche Spektakel. Der Souk el-Goma – übersetzt: Freitagsmarkt – ist der größte Flohmarkt Ägyptens. Er liegt im Stadtteil el-Arafa, einem Friedhofsgelände, das sich im Südosten Kairos über sechs Kilometer Länge erstreckt. Die seit den 1950er-Jahren anhaltende Landflucht hat die ärmsten Ägypter aus dem Stadtzentrum getrieben. Eine halbe Million von ihnen hat sich illegal auf den tausenden kleinen Friedhöfen angesiedelt. Sie leben in den Gruften oder haben sich kleine Hütten aus Holz und Stein zwischen die Gräber gebaut. Seitdem trägt das Viertel den wenig anheimelnden Namen „Stadt der Toten“.
Zum Freitagsmarkt kommen Händler aus der ganzen Stadt. Sie verkaufen alles, was man sich vorstellen kann: mit Perlen bestickte Hochzeitskleider für umgerechnet sieben Euro, alte Münzen, gebrauchte Fernseher, Schuhe mit abgetragenen Sohlen, antike Möbel; lebende Tiere, die teilweise unter Artenschutz stehen. Und toten Fisch, der in der morgendlichen Hitze bereits zu stinken anfängt. Trotz der frühen Stunde brennt die Sonne bereits vom wolkenlosen Himmel.

In einer schmalen Gasse sitzt Ahmed Abu Imad unter einem ausgebleichten Sonnenschirm. Im Gegensatz zu vielen anderen Händlern preist er seine Ware nicht schreiend an, sondern spielt gedankenverloren mit seiner Misbaha, der muslimischen Gebetskette. Er ist kaum 1,50 m groß, in der Menge geht er fast unter. Vor ihm liegen, auf einer Decke ausgebreitet, strassbesetzte Damenhandtaschen, alte Fernbedienungen, Kabel, Spielekonsolen, Bilderrahmen, Halsketten und ein aufblasbarer Wal, auf dem „Pizza Hut“ steht. „Alles Schrott“, sagt er abgeklärt.
Ahmed ist 58 Jahre alt, er ist ein Neuling auf dem Markt – und er schämt sich, hier seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. „Die Menschen sind 2011 für Brot und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen, und ich bin hier gelandet“, sagt er.

Bis zur Revolution vor drei Jahren war Ahmed ein erfolgreicher Mann. Er besaß ein Modegeschäft in der Kairoer Innenstadt. Man sieht, dass er noch immer Wert darauf legt, ordentlich angezogen zu sein, auch wenn seine Kleidung nun von Armut zeugt: Sein grau-gelb gestreiftes Hemd ist sauber, aber ausgebleicht, seine Lederschuhe sind poliert, aber die Sohlen kaputt.
Ahmeds Misere begann mit einer Fehleinschätzung. Ende 2010 hatte er viel Geld in die Hochzeiten seiner zwei Kinder gesteckt. Dafür musste er Kredit bei der Fabrik aufnehmen, von der er seine Ware bezog. „Ich dachte damals, das sei kein Problem“, erzählt er, „früher konnte ich meine Schulden auch immer abbezahlen.“ Doch dann begannen die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz. Plötzlich hatten die Menschen andere Dinge im Kopf, als Jeans bei ihm zu kaufen. Ahmed ging pleite und musste seinen Laden dichtmachen. „Normalerweise hätte mir die Fabrik weiterhin Kredit gewährt“, sagt er, „aber nicht in diesen wirtschaftlich unsicheren Zeiten.“
Seit die Menschen 2011 gegen das Unterdrückungsregime von Hosni Mubarak auf die Straße gegangen sind, konnte noch keine Regierung das Versprechen von sozialem Wohlstand einlösen. Im Gegenteil: 50 Prozent der ägyptischen Bevölkerung fallen unter die Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent, bei jungen Menschen sogar bei über 25 Prozent. Tendenz: steigend. Der Souk el-Goma heißt diese Menschen willkommen.
Menschen, die wirtschaftlich und sozial am Ende sind. Menschen, die von der Gesellschaft ausgespuckt wurden: geschiedene Frauen, Analphabeten, gescheiterte Geschäftsleute.

Solche wie Ahmed. Einige Wochen nachdem er seinen Laden schließen musste, traf er einen Nachbarn in einem Café. Bei Tee und Shisha erzählte ihm der Bekannte, dass er neuerdings kaputte Wasserpfeifen kaufe, sie repariere und anschließend auf dem Souk el-Goma weiterverkaufe. „Komm mit nach Zabbaleen, ich zeige dir, wie auch du dort Geschäfte machen kannst“, schlug der Bekannte vor.
Zabbaleen liegt am Fuße der Mokattam-Hügel in Kairo. Der Name des Stadtteils bedeutet übersetzt „Müllmenschen“, und genau die wohnen hier. Die Zabbaleen sind eine christliche Gemeinschaft, die in den 1940er-Jahren aus Oberägypten an den Stadtrand Kairos emigriert ist. Anfangs haben sie ihren Lebensunterhalt als Lumpensammler verdient, seit den achtziger Jahren recyceln sie den Müll der 16-Millionen-Metropole in ihrem Viertel. Fast 9.000 Tonnen Abfall sammeln sie jeden Tag. Was davon verwertbar ist, verkaufen sie.

Am Mittwoch vor dem Freitagsmarkt sitzt Ahmed in dem Café, wo er damals seinen Bekannten getroffen hat. Es ist sein Ritual, seit sein Geschäft bankrottgegangen ist. Hier stärkt er sich mit einem gesüßten Tee, bevor er sich auf die Suche nach Ware in Zabbaleen macht. Jeden Tag geht er dorthin. Jeden Tag außer freitags.
Man riecht Zabbaleen, bevor man den Stadtteil betritt. Das Viertel erstickt fast in fauligem Müll. Es stinkt erbärmlich. Männer, Frauen und Kinder wühlen sich in engen Gassen durch den Inhalt riesiger Säcke und trennen die Güter. Dreckige Hunde streunen durch die mehrstöckigen Apartmenthäuser und über die Müllhaufen. Tote Ratten liegen auf den unasphaltierten Straßen. Man sieht sie erst, wenn sich tausende schwarze Fliegen im Vorbeigehen von den Kadavern erheben.
„Hast du was für mich?“, fragt Ahmed eine dicke Frau, die träge in einem Hauseingang hockt. Sie schüttelt den Kopf, Ahmed geht weiter. Beim nächsten Haus hat er mehr Glück. Eine Frau winkt ihn zu sich. Sie steht im Eingang eines Rohbaus, wo sie mit ihrer Familie lebt. Im unteren Stockwerk wühlen Schweine durch den Abfall. Auch das obere Stockwerk ist voll mit Müll. Die Matratze, auf der die Familie schläft, und der kleine Esstisch fallen erst auf den zweiten Blick auf.

Die Frau kippt einen Plastiksack vor Ahmed aus. Eine Käsereibe, eine Barbiepuppe, ein grünes Telefon und ein Föhn kommen unter anderem zum Vorschein. Ahmed riecht am Föhn. „Um zu prüfen, ob er durchgebrannt ist oder ob man ihn noch reparieren kann“, sagt er. Eine Steckdose zum Testen gibt es hier nicht. „Was willst du dafür haben?“, fragt er die Frau. „Drei Pfund“, sagt sie. „Ich gebe dir ein Pfund dafür“, entgegnet Ahmed.
Am Ende kauft er den Föhn, drei ausgewaschene Mayonnaise-Gläser und eine leere Spraydose. „Die kann man wieder füllen“, sagt er. So geht es den Rest des Tages weiter. Von morgens um elf bis zum Einbruch der Dunkelheit streift er durch das Viertel. Mit jedem Handel, den er macht, füllt sich der Plastiksack, den er über der Schulter trägt, etwas mehr. „Natürlich war es bequemer, Jeans zu verkaufen“, sagt Ahmed, „aber ich habe mich an das neue Leben gewöhnt.“ Mit Schrott auf dem Souk el-Goma zu handeln sei immer noch besser, als irgendwo angestellt zu sein. „Der Markt gibt mir die Möglichkeit, meine Selbständigkeit zu bewahren“, sagt Ahmed. Sich vor keinem Arbeitgeber verantworten zu müssen, das ist ein hohes Gut für viele Händler auf dem Freitagsmarkt.
Der Markt gibt mir die Möglichkeit, meine Selbständigkeit zu bewahren.
Ahmed, Händler am Flohmarkt
Eine junge Frau und ihr Geschäft
Auch für Rasha Abdelhadi war das der Grund, auf den Souk el-Goma zu kommen: endlich selbständig sein. Die junge Frau steht an ihrem Stand und strahlt vor Freude. Sie hat gerade das erste Geschäft des Tages gemacht: zwei Handyladegeräte für zehn Pfund verkauft, rund einen Euro eingenommen. Rasha nimmt den Geldschein entgegen, küsst ihn und führt ihn dreimal zur Stirn, während sie ein Dankesgebet murmelt. Für arme Menschen wie sie zählt jeder noch so kleine Betrag. Dann steckt sie den Geldschein in ihre Umhängetasche. „Es geht los“, sagt sie freudig erregt.

Obwohl Rasha erst 25 Jahre alt ist, gehört sie zu den Verkäufern, die am längsten hier sind. „Ich habe meine ganze Kindheit auf dem Markt verbracht“, erzählt sie. Bereits ihre Eltern haben hier verkauft. Im Gegensatz zu Ahmed liebt sie die raue Atmosphäre auf dem Souk el-Goma.
Die Leute sagen, ich verhalte mich wie ein Mann. Gut so, ich wollte immer einer sein. Ich gefalle mir in dieser Rolle, die Menschen respektieren mich.
Rasha Abdelhadi 58, Verkäuferin
Drei große Tücher hat sie auf dem Boden ausgebreitet, daneben steht noch ein vollgepackter Tisch. Darauf finden sich Barbiepuppen, denen Gliedmaßen fehlen, Ladegeräte für alte NokiaHandys und IBM-Laptops, Feuerzeuge, Kochtöpfe und Spielzeug. Wie viele Händler auf dem Markt bezieht auch Rasha ihre Ware aus Zabbaleen.

Manche sagen, der Souk el-Goma sei nichts anderes als ein großer Schrottkreislauf, eine Art Umverteilung: Die bessergestellten Bewohner Kairos schmeißen Sachen weg, die für sie keinen Nutzen mehr haben. Die Menschen aus Zabbaleen sammeln sie ein. Händler wie Ahmed und Rasha verkaufen sie aufs Neue – an nicht so begüterte Leute, die auf der Suche nach Schnäppchen sind.
Wie ein unruhiges Tier beginnt Rasha, zwischen ihrer Ware barfuß hin und her zu gehen. Sie bleibt immer in Bewegung, damit niemand etwas klaut. „Mein Vater hat mich früher mit seinem Gürtel geschlagen, wenn von unserem Stand etwas gestohlen wurde“, sagt sie, „das hat mich gelehrt, wachsam zu sein.“ Sie lächelt, während sie das sagt, als sei es völlig normal. Und tatsächlich: Eltern, die ihre Kinder in der Öffentlichkeit schlagen, sieht man oft an diesem Ort.
Obwohl Rasha ein bodenlanges geblümtes Kleid trägt, ist ihr Gestus männlich. Sie ist eine der wenigen Frauen auf dem Markt. Trotzdem übertönt ihre laute und heisere Stimme alle anderen Händler in der Straße. Ununterbrochen schäkert sie mit ihren Kunden, verhandelt mit drei Passanten gleichzeitig. Ein Mann bleibt stehen, er interessiert sich für einen Rasierapparat. „15 Pfund“, sagt Rasha. Der Mann will nur drei Pfund zahlen. „Ich weiß ja nicht, was drinnen ist“, rechtfertigt er sich. „Da ist ein Elefant drin“, sagt sie und nimmt ihm das Gerät wieder weg. Rasha lässt nicht mit sich handeln. Sie nennt einen Preis. Wer ihn nicht zahlen will, den scheucht sie weg.

Auf dem Freitagsmarkt wird generell weniger gehandelt als sonst. Das liegt daran, dass der Spielraum hier geringer ist als anderswo: Die meisten Dinge kosten ohnehin fast nichts. Doch Rasha ist noch eine Spur sturer als andere.
„Die Leute sagen, ich verhalte mich wie ein Mann“, meint sie. „Gut so, ich wollte immer einer sein.“ Mit 13 hat sie die Schule geschmissen. Schulpflicht besteht in Ägypten nur bis zum zwölften Lebensjahr. Rasha wollte lieber selbständige Händlerin sein, als das brave Schulmädchen zu spielen. Aus der Schulzeit weiß sie nur noch, wie sie ihren eigenen Namen schreibt. Mehr nicht.
Rashas unbedingter Wille zur Selbständigkeit ist für ägyptische Frauen ungewöhnlich. Mädchen bekommen in der Regel von klein auf eingebläut, dass Heiraten für sie das wichtigste Lebensziel sei. Wenn man Rasha gefragt hätte, wäre sie ledig geblieben. Doch vor sieben Jahren wurde der Druck der Familie zu groß, sie musste sich für einen der Kandidaten entscheiden, die die Eltern für sie ausgesucht hatten.
Aber über ihre Ehe will sie nicht sprechen. Auf dem Markt ist sie nicht die Ehefrau, die nicht Lesen und Schreiben kann. Hier ist sie Rasha, die härteste Händlerin im Block. „Ich gefalle mir in dieser Rolle, die Menschen respektieren mich.“ Der Souk el-Goma ist für Rasha auch ein Fluchtpunkt aus einem Alltag, in dem sie sich den strikten ägyptischen Konventionen fügen muss.

Der Markt hilft gegen die Einsamkeit
Mohammed Selim flieht vor der Einsamkeit bei sich zu Hause. Der 54-Jährige verkauft Ringe an einem winzigen Stand zwischen lauter Messerhändlern. Seit 2005 kommt er regelmäßig auf den Markt. Damals ist seine Mutter gestorben, mit der er bis zu ihrem Tod zusammengewohnt hat. Geheiratet hat er nie. Gemeinsam haben er und seine Mutter vom Erbe des Vaters gelebt, der einst eine kleine Schokoladenfabrik in Kairo besessen hat. „Als sie starb, brauchte ich eine Aufgabe“, sagt er.
Die Ringe, die vor ihm liegen, sind billige Teile aus Blech. Zwei Pfund verlangt er für das Stück. Doch er verkauft kaum welche, die meisten potenziellen Kunden scheucht er mit einer abfälligen Handbewegung weg. „Ich sehe denen doch an, dass sie nicht ernsthaft interessiert sind“, sagt er. Außerdem seien die Blechringe ohnehin nur ein Vorwand, um hier zu sitzen, während er auf seine richtigen Kunden warte. „Den wertvollen Schmuck habe ich versteckt“, sagt er, lächelt verschmitzt und deutet auf die beige Häkelmütze, die er auf dem Kopf trägt. Darin verbergen sich zehn handgefertigte Ringe. Er wird sie an einen Kairoer Schmuckhändler verkaufen, der jeden Freitag zu ihm kommt und ihm 100 Pfund dafür gibt.

Mohammed schmiedet die meisten Ringe selbst – in seiner Wohnung, sechs Kilometer vom Souk el-Goma entfernt. Sie liegt mitten im Viertel Khan el-Khalili. Im Gegensatz zum schäbigen Freitagsmarkt gibt es dort einen Basar, der Kairos ganzer Stolz ist. Seit Jahrzehnten strömen Touristen durch seine Gassen. Es duftet nach orientalischen Gewürzen, die Läden sind herausgeputzt. Händler, die mehrere Sprachen beherrschen, verkaufen Lampen, Seidentücher und Schmuck zu horrenden Preisen an Deutsche, Japaner und Amerikaner. Theoretisch könnte Mohammed seinen Schmuck ebenfalls hier feilbieten, in der Praxis ist das jedoch schwierig. „Man kommt dort nicht so leicht hinein“, sagt er vage. Außerdem produziere er zu kleine Mengen, als dass sich die Eröffnung eines Ladens lohnte.
Mohammed lebt seit seiner Geburt in der Gegend. In dieser Wohnung ist er aufgewachsen. Drinnen ist es dunkel, die Fensterläden sind verschlossen. Zentimeterdicker Staub liegt auf den Möbeln. Die Luft riecht nach abgestandenem Rauch, zwei Schachteln Zigaretten raucht Mohammed am Tag. In den Ecken hängen Spinnweben, darin die Überreste längst verstorbener Insekten.
Auf seinem Bett liegen Kleidungsstücke verstreut, im Wohnzimmer läuft lautstark der Fernseher. Fashion TV. Wenn er ein Zimmer in seiner Wohnung betritt, schaltet er als Erstes das Radio ein. In jedem Raum steht eins. Sie spielen ägyptische Schlager. „Gegen die Einsamkeit“, sagt er.

Auf einem Tisch im Wohnzimmer liegen hartgekochte Eier und Brot. Mohammeds Körper ist mager, die Hose schlackert um seine Beine, er sieht nicht aus, als würde er viel essen. An der Wand hängt die Schwarz-Weiß-Fotografie einer schönen, unverschleierten Frau mit dunklen Locken und kajalumrandeten Augen. Seine Mutter. „Ich vermisse sie sehr“, sagt er.
Luft und Licht lässt er nur in seine kleine Werkstatt im hintersten Zimmer der Wohnung. Hier hört man das unentwegte Hupen von der Straße, hier wird aus dem Eremiten ein Handwerker. Es ist der Dienstag vor dem Markt, und wie fast jeden Morgen um fünf beginnt er zu arbeiten.
In seiner düsteren Küche stellt Mohammed zwei kleine Töpfe auf den Gasherd. Einen für Kaffee, den anderen für eine Silberlegierung. Er zündet sich seine erste Zigarette an. Rauchend beobachtet er, wie die Metallstücke schmelzen. Anschließend gießt er die flüssige Masse in eine Gipsform – die Zigarette immer im Mund, bis die Asche von selbst abfällt. Er trägt die Form in seine Werkstatt, legt sie auf dem Holztisch ab und bringt einen neuen Schleifstein an einem Motor an. Dann schaltet er die Maschine ein. Mohammed nimmt den Ring und verpasst ihm den Feinschliff. Als er mit dem Ergebnis zufrieden ist, streift er ihn über seinen Mittelfinger und lächelt versonnen.
Es ist einer jener Ringe, die die Laufkundschaft auf dem Souk el-Goma nicht zu sehen bekommen wird, weil er ihn in seiner Mütze versteckt. „Meine Schätze sind zu gut für die Menschen dort“, erklärt er. Mohammed hat ein gespaltenes Verhältnis zum Markt. Er ist ein feinsinniger Mann. Die Menschen auf dem Souk el-Goma sind ihm zu laut, zu roh im Umgang miteinander. Erst vergangene Woche sei es wieder zu einer Schlägerei vor seinem Stand gekommen. „Ich hab mein Zeug zusammengepackt, bin weggerannt, über eine Friedhofsmauer geklettert und habe mich dort versteckt, bis wieder Ruhe war“, erzählt er. Trotzdem geht er immer wieder hin. Er braucht die menschliche Gesellschaft. „Ich habe ja sonst niemanden.
Meine Schätze sind zu gut für die Menschen dort.
Mohammed, Ringhändler
Mit seinem Misstrauen gegenüber dem Markt und seinen Händlern ist Mohammed nicht allein. Der Souk el-Goma gilt als Treffpunkt zwielichtiger Gestalten. Neben ehemaligem Müll werden hier nämlich auch bedrohte Tierarten und Diebesgut verkauft. In einigen Ecken betreiben Gauner illegales Glücksspiel. Die Standmieten auf dem Markt gehen nicht an irgendeine Behörde, sondern an Männer, die im Viertel das Sagen haben. Wer sie genau sind, will keiner sagen.
Die ägyptische Regierung würde dem Treiben auf dem Freitagsmarkt seit Jahren gerne ein Ende bereiten. Pläne dazu gab es bereits. Vor vier Jahren wären sie beinahe umgesetzt worden: Ein Teil des Markts verläuft unterhalb der El-TonsyBrücke, entlang einer stillgelegten Eisenbahnstrecke. Hier werden vor allem Möbel und Antiquitäten verkauft. 2010 stürzte ein Auto von der Brücke und explodierte. Rasend schnell breitete sich das

Feuer zwischen all dem Holz aus und zerstörte Stände, Waren und Häuser. Drei Menschen kamen beim Unglück ums Leben, dutzende wurden verletzt. Zeugen von damals berichten, dass die Feuerwehr erst nach Stunden angerückt sei. Sie sind sich sicher: Die Behörden haben sich absichtlich Zeit gelassen, um den Markt, diesen Schandfleck, endlich loszuwerden.
Nach dem Brand kündigte die Regierung an, den Markt an den Stadtrand verlegen zu wollen – in die 15 May City, 30 Kilometer vom Zentrum entfernt. Doch passiert ist bisher nichts. Denn ein halbes Jahr nach dem Brand begannen die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die Ägyptens politisches System im Mark erschüttern sollten.
Seitdem hat das Land andere Sorgen als einen illegalen Markt: Demonstrationen gegen die jeweilige Gruppe, die gerade an der Macht ist. Islamistischer Terror, der sich auf der Sinai-Halbinsel mehr und mehr ausbreitet. Aufgrund von Reisewarnungen ausbleibende Touristen. Schwache Wirtschaftsleistung, steigende Arbeitslosigkeit, streikende Ärzte. Und mitten in all dem Chaos bauten die Händler den Souk el-Goma einfach wieder auf.
Für eine bessere Zukunft
Neben der Brücke, wo es 2010 gebrannt hat, sitzt Magda Badwi. Die 45-jährige Möbelhändlerin arbeitet nicht nur auf dem Souk el-Goma, sie lebt auch hier – so wie viele, deren Waren zu sperrig und zu schwer sind, um sie jeden Freitag aufs Neue herzutransportieren. Neben ihr leben Händler, die Sofas, Küchenzeilen und Badewannen anbieten. Zwischen all den Schränken, Esstischen und Kommoden, die Magda verkauft, ist ihre kleine Hütte aus Stein kaum zu sehen. Sie wohnt darin mit ihren Kindern, Schwiegertöchtern und Enkelkindern. Insgesamt sind sie zu zehnt.

Die Einrichtung der Hütte besteht aus ein paar Matratzen auf dem Boden, darauf verfilzte Decken, einer Kochnische und einem Plumpsklo, das durch einen Vorhang vom Wohnbereich abgetrennt ist. Vor dem Häuschen findet sich ein kleiner Brunnen, eine von Magdas Schwiegertöchtern lässt gerade einen Eimer mit Wasser volllaufen. Drinnen gibt es kein fließendes Wasser. Hühner rennen zwischen den Familienmitgliedern hin und her. Magda findet es beschämend, auf dem Markt zu leben und zu arbeiten. „Es ist ein Hundeleben“, sagt sie. „Wenn ich bessere Arbeit finden könnte, wäre ich sofort hier weg.“
Magda ist 2009 hierhergezogen. Damals musste sie einen Weg finden, ihre Familie zu ernähren. Ihr Mann, ein Tagelöhner, war wegen Mordes zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Eigentlich hätte er dieses Jahr entlassen werden sollen. Doch vor drei Wochen ist er im Gefängnis an Hepatitis C gestorben. Magda weint, wenn sie über ihn spricht. Er sei unschuldig gewesen, beteuert sie, die Polizei habe ihm das Verbrechen bloß in die Schuhe geschoben. Überprüfen lässt sich das nicht, aber es ist nicht undenkbar in einer Gesellschaft, deren Justizsystem dafür bekannt ist, kurzen Prozess mit Angeklagten zu machen.

„Jetzt muss ich gleichzeitig Mutter und Vater sein“, sagt sie. Sie spricht mit klagender, tiefer Stimme. Die Verzweiflung hat sie vorzeitig altern lassen. Ihre Hände sind schwielig, sie sieht gut 20 Jahre älter aus, als sie ist. Jeden Tag sitzt sie vor ihrer Hütte und wartet auf Menschen, die ihr kaputte Möbel bringen. Männer aus der Gegend reparieren sie, dann verkauft Magda sie weiter. 1.000 Pfund zahlt sie jede Woche für ihren Stand. Wenn es gut läuft, nimmt sie jeden Freitag knapp 3.000 Pfund ein. „Früher lief es besser“, sagt sie. „Aber meine Sachen sind relativ teuer, weil sie groß sind. Und in Krisenzeiten machen die Leute eher keine großen Anschaffungen für den Haushalt.“
Magdas Schwiegertöchter, zwei schüchterne Mädchen mit melancholischen Augen, sitzen meist bei Magda und warten mit ihr auf Kundschaft. Auch ihre Ehemänner, Magdas Söhne, sitzen im Gefängnis: wegen Drogendelikten. Die Frauen sind ganz auf sich allein gestellt. Auf Unterstützung können sie nicht hoffen. „Jeder hier kümmert sich um seinen eigenen Kram“, sagt Magda.

Ihr größter Wunsch ist es, wenigstens den Kindern in ihrer Familie eine Schulbildung zu ermöglichen. Ihr selbst ist das verwehrt geblieben. „Meine Mutter ist früh gestorben, ich musste deshalb meinem Vater im Haushalt helfen“, sagt sie.
Jeder hier kümmert sich um seinen eigenen Kram.
Magda, Möbelverkäuferin auf dem Markt.
Ob sie es schafft, das Geld für Lehrbücher, Stifte und Schuluniform aufzubringen? Magda weiß es nicht. Es schaut allerdings nicht besonders gut aus. Es ist schon später Nachmittag, und sie hat erst einen Schrank verkauft, für 1.200 Pfund. Es wird an diesem Freitag ihr einziger Verkauf bleiben. Die Abenddämmerung hat bereits eingesetzt. Es sind jetzt kaum noch Passanten unterwegs, die ersten Händler haben ihre Stände bereits abgebaut.
Auch Rasha packt zusammen. Zwei Stunden dauert es, bis sie die nicht verkauften Gegenstände in 22 großen Plastiksäcken verstaut hat. Ihr Neffe kommt mit einem Pick-up-Truck vorgefahren, er ist erst elf. Rasha hievt die Sachen auf die Ladefläche. Gleich wird sie nach Hause fahren, Fleisch kochen, das erste Mal an diesem Tag etwas essen. Danach wird sie das Geld zählen und für offene Rechnungen zurücklegen.


War es denn ein guter Tag?
„Elhamdulillah“, sagt Rasha.
„Elhamdulillah“, sagt Mohammed.
„Elhamdulillah“, sagt Magda.
„Elhamdulillah“, sagt Ahmed.
Gott sei Dank ist hier eine gern gebrauchte Floskel. Sie soll ausdrücken, dass sie genug verdient haben, um ein Auskommen für die nächste Woche zu haben. Ahmed ist einer der letzten Händler, der zusammenpackt. Im Gegensatz zu Rasha muss er sein Zeug nicht nach Hause schaffen. Er bezahlt der Familie, die hinter seinem Stand lebt, eine kleine Gebühr. Dafür darf er seine Sachen auf ihrem Friedhof unterstellen. Viel ist diese Woche nicht übrig geblieben, nur ein kleiner Plastiksack. Ahmed stellt ihn neben einen Grabstein, dann zieht er das Friedhofstor hinter sich zu. Ruhe kehrt wieder ein in die Stadt der Toten.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin, Juni 2014.

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