Es war einmal in China

ALS ERSTER MACHT YANG WAN-SHAN Die Busfahrt zum großen Festival im Dorf Ma Jie würde 80 doch so viel hat er nicht. Also verabschiedet er sich von sei Yuan kosten, rund 10 sich auf den Weg. Euro, ner Mutter, mit der er seit 56 Jahren lebt, schwingt sich auf sein Fahrrad Marke Fliegender Adler – mit Abstand das älteste im Dorf, alle wundern sich, dass es noch fährt – und strampelt sieben Wintertage lang durch Henan, seine Trommel baumelt unter der Querstange. Er schläft bei Bauernfamilien, denen er, statt Quartiergeld zu zahlen, eine Privatvorstellung gibt.
Yang ist selbst Bauer, auch wenn sein schmales Feld kaum was abwirft. Außerdem zieht er als Geschichtenerzähler durch die Dörfer, obwohl er auch damit selten reüssiert. Er versteht sich nicht recht auf die Pflichten des Lebens. Umso mehr versteht er von Begeisterung. Beim größten Fest seiner Zunft anzutreten, das lässt er sich nicht nehmen. Vielleicht heuert ihn ja hinterher jemand an.
Als Nächster bricht Lin Fengcheng auf. Gewissenhaft dreht er den Schlüssel im Schloss, seine Wohnung im 32. Stock steht voller Antiquitäten. Zwei Tage braucht er mit der Bahn von Harbin in der Mandschurei. Auch er ist Geschichtenerzähler, einer der gefragtesten im Land. Er tritt regelmäßig im Radio auf, und jeden Samstag glänzt er als Zugnummer einer Theaterrevue. Lin entstammt einer alten Künstlerfamilie, schon die Großmutter war Akrobatin. Die Eltern führten ein OpernEnsemble, bis die Roten Garden während der Kulturrevolution alle Kostüme und Instrumente zerstörten – die Lebensgrundlage der Familie. Woraufhin der damals zehnjährige Knirps sein Talent auf der Straße zur Schau stellte, um etwas Geld zu verdienen. Vielleicht ist er auch deshalb so erfolgreich, weil er so die Schmach der Eltern tilgen kann.
Am nächsten Tag folgt Meister Li, ein Veteran des Festivals. Für drei Stunden besteigt er in Luoyang den Schnellzug Richtung Shanghai. Die Strecke führt durch kleinkariertes Ackerland, beherrscht von Kraftwerken und Strommasten. Eine scheue Sonne glimmt durch den Dunst.
Die letzten Tage des Neujahrsfests stehen an. Nur im Liegewagen hat Li noch einen Platz ergattert. Die Reisenden stapeln sich dort wie in Hochregalen; schnell kommt er mit ihnen ins Gespräch. Und beklagt das schwere Los seines Standes. Im Teehaus, wo er viele Jahre aufgetreten ist, wollen sie ihn nicht mehr. Hübsche Mädchen sind beliebter, selbst wenn es bei ihnen nur zum Fächertanz reicht. Was hilft es da, dass die Kulturbehörde ihm den Titel eines Großmeisters verliehen hat. Davon, räsoniert Herr Li, könne er sich nichts kaufen. Dann nickt er ein.
Es ruft in allen die Kindheit wach und damit auch die eigene Geschichte. Und es verwandelt das Dorf Ma Jie zwei Tage lang in Chinas größter Bühne.
Das Geheimnis des Festivals der Geschichtenerzähler
Als eine der Letzten macht Zhao Tao sich auf den Weg. Auf ihrem Moped braust sie bei Tagesanbruch in anderthalb Stunden nach Ma Jie, ein Nest, 900 Kilometer südwestlich von Peking. Mit vierzig zählt sie noch zur jungen Garde. Der rote Schopf, die prallen Stiefel, die stramme Erscheinung – sie könnte selbst einer ihrer Geschichten entsprungen sein, die Anführerin einer verwegenen Truppe, leichte Kavallerie.
Früh erreicht sie das Festivalgelände. Über Nacht ist etwas Schnee gefallen, der Boden wirkt wie mit Mehl bestäubt. Zwei tolle Tage wird das Areal nun zu Chinas größter Bühne.
Knatternde Lastendreiräder und bunte Motorrikschas, schnaubende Zubringerbusse, Kolonnen von Radfahrern und Scharen herbeiströmenderSchaulustiger vermengen sich zu einem zähflüssigen Brei. Dürre Pappeln säumen die Straße, dazu ein Spalier aus dampfenden Garküchen und improvisierten Verkaufsständen, an denen fliegende Händler Waschschüsseln, Wundertees und Heizstrahler feilbieten.
Als Zhao vor 15 Jahren das erste Mal teilnahm, standen neben den Tischen der Erzähler nur einige wenige Imbissstände auf dem Feld. Inzwischen ist ein riesiger Jahrmarkt daraus geworden, mit Bühnen und Zirkuszelten, Fressmeilen und Fahrgeschäften. Doch allein dafür käme niemand hierher. Nein, diese Leute hungern nach Geschichten. Es ist ein Zug profaner Pilger, die nicht beten, sondern lauschen wollen.
Tatsächlich entstammt das Fest der spirituellen Sphäre. Der örtliche Tempel war dem taoistischen Feuergott geweiht. Wo ein Tempel steht, kommen Leute zusammen. Und wo Leute zusammenkommen, erzählen sie Geschichten. Nur dass diese uralte Passion sich hier zum Gipfeltreffen eines Berufsstandes entwickelt hat. Erste Berichte über einen Sängerwettstreit reichen siebenhundert Jahre zurück. Und als 1863 jeder Künstler aufgefordert wurde, der Gottheit einen Groschen zu stiften, zählte man hinterher 2.700 Münzen.



Zwei muskulöse Männer dreschen auf Kriegstrommeln vom Kaliber eines Traktorreifens ein. In beschwingter Polonaise umrunden die Helfer den Vorplatz, scheppern und schallen mit Becken, Gongs und Zimbeln. Dazu feuern sie noch salvenweise Böller ab. Radau gilt in China als Ausweis von Geselligkeit. Und so legen sich die Musiker ordentlich ins Zeug, als sollte man sie bis nach Peking hören.
Früher fand diese Zeremonie im Morgengrauen statt. Wacht auf! Kommt herbei! Sobald der erste Krähenschrei ertönte, begannen die Sänger mit ihren Darbietungen. Wer heute auf freiem Feld antritt, hat Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Neben dem Gedudel der Karussells und den Tiraden der Marktschreier, Wahrsager und Losverkäufer beschallen auch Lautsprecher der großen Bühnen unablässig das Gelände. Shen Zhen-zhu, von der mächtigen Volkskunstvereinigung entsandt, darf eine dieser Bühnen bespielen.
Er nestelt noch an seinem Bügelmikrofon, entert dann entschlossen die Rampe und legt los: Wu Song, der Geächtete, will nach Hause. Tikitikik! Und schon beißen die Leute an. Der Held Wu Song ist eine populäre Gestalt, die Story mit dem Tiger ein Gassenhauer: Wu Song kehrt also in einer Taverne ein. Erst warnt der Wirt ihn vor dem Wein: „Drei Schalen, und du bist blau!“ Wu Song schlürft achtzehn davon leer. Dann warnt der Wirt ihn vor einem umherstreifenden Tiger. Tikitikik! Wu zieht trotzdem in die Berge. Wo sich der Tiger über die leichte Beute freut – dann aber sein blaues Wunder erlebt, als der betrunkene Wanderer ihn zum Zweikampf stellt.
Wie packend ist der Vortrag, wie schillernd die Erscheinung, wie einfallsreich das Begleitspektakel?
In zwölf Kategorien ermittelt die Jury des Festival je einen Sieger
In der taillierten roten Jacke mit Stehkragen gibt Shen eine weltgewandte Erscheinung ab. Dreihundert Schaulustige hängen an seinen Lippen. Scheinbar mühelos spielt er alle Rollen gleichzeitig: den Helden, den Wirt, den Tiger. Dreißig Jahre jung und von Beruf Volksschullehrer, deklamiert er lautmalerisch und einprägsam – so, wie man Kindern ein Märchen erzählt. Stellt euch vor: Wu Song packt den Tiger am Schwanz! Und das ist das Geheimnis vom Festival der Geschichtenerzähler: dass es in allen die Kindheit wachruft, und damit auch die eigene Geschichte.
Irgendwo in der Menge hat Meister Li seinen Stand aufgeschlagen. Ein efreundeter Taxifahrer begleitet ihn auf einer kleinen, dreisaitigen, immer etwas winselnden Geige. Statt der Metallscheiben nutzt er zwei hölzerne Stäbe, mit deren kastagnettenartigem Tremolo er ein ganzes Dorf zusammentrommeln kann. Takatakatak, immer klappern, immer klopfen – alle mal herhören, unsere Geschichte beginnt: Die Han-Dynastie macht schwere Zeiten durch, als General Guan Yü sich in den Sattel schwingt …
Dreißig Zuschauer drängen sich um ihn. Dass es mit der Han-Dynastie bereits vor 1.800 Jahren zu Ende ging, spielt keine Rolle – Li erzählt so plastisch, als wäre der General noch letzte Woche durch den Ort getrabt. Er verkörpert Treue, Gerechtigkeit und Mut. Und die Moral von der Geschicht’: Breche keine Regeln nicht. Taktarak, taktarak, taktarakatak!




Etwas weiter hat sich Bauer Yang Wan-shan postiert. Tischchen hat er keines, schon gar keinen Lautsprecher. Weshalb er stoisch darauf wartet, dass zumindest auf der nächstgelegenen Bühne Mittagspause eintritt. Als keiner mehr nachkommt, setzt Yang zu seinem Lieblingsstück an: Die Geschichte von der Goldenen Turteltaube. Eine verschnörkelte Legende aus seiner Heimatregion, die um zwei Beamte kreist, der eine ehrlich, der andere korrupt. Yang versetzt sich durch den Vortrag selbst in Trance: Die eingängigen Verse und die zackigen Rhythmen bringen ihn in Fahrt. Tokotokotok, immer klopfen, immer klimpern, damit das Publikum dranbleibt.
Doch gerade als der rechtschaffene Beamte im Wald auf einen Räuber stößt, plärrt aus den Lautsprechern nebenan die Filmmusik der Glorreichen Sieben“. Die Bühne mag vorübergehend leer sein – doch deshalb braucht sie nicht totenstill dazuliegen. Resigniert bricht Yang seinen Vortrag ab. „Die schallen uns zu“, schimpft er. Viel Publikum hat er ohnehin nicht anlocken können. Sein Aufzug und seine ungewohnte Mundart wirken nicht gerade anziehend. Wie soll er jetzt ein Engagement durch einen Dorfvorsteher oder Fabrikdirektor ergattern?
Was die Erzähler in Ma Jie heute darbieten, haben ihre Vorgänger vor vielen Jahrhunderten ins kollektive Gedächtnis eingespeist. Viele Geschichten entstammen den „vier klassischen Romanen“ (Geschichte der Drei Reiche, Räuber vom Liang-SchanMoor, Reise nach Westen, Traum der Roten Kammer), den Grundpfeilern der chinesischen Literatur. Aufgezeichnet zwischen 1390 und 1792, sind sie großteils aus alten Märchen zusammengesetzt und mit ihren hunderten Figuren ein unerschöpfliches Reservoir.

Irgendwo im Gewühl erklingt der Donauwalzer. Das ist das Telefon von Zhang Mantang. Der kleine, bescheidene Bauer ist die Seele des Festivals. Während die Profis von Beamten des Landkreises betreut werden, halten sich Laienerzähler und Kleindarsteller an Zhang und seinen Sohn, der ihre Vorstellungen mitfilmt. Auf eigene Kosten haben sie ein Langhaus errichtet, in dem fünfzig Künstler übernachten können. Bis tief in die Nacht fiedeln und feixen sie dort noch, jeder gibt sein Bravourstück zum Besten. Die einzigen Wärmequellen sind die Menschen selbst und die kleinen Scheinwerfer über dem Podest. Dann kriechen sie unter ihre Decken und ziehen sich eine Mütze über den Kopf.
Zhang hört begeistert zu. „Von klein auf war das Fest Teil meines Lebens“, bekennt er. „Das darf nicht verschwinden.“ Ob es nicht auch ein Kandidat für die UNESCO wäre, für die Liste des immateriellen Weltkulturerbes? „UNESCO“, grübelt er, „ist das ein Volkskunstverein?“ Na ja, so etwas in der Art. „Dann sind sie uns willkommen!“
Auch am nächsten Tag ziehen die Dorfbewohner hinüber zur Festwiese, die älteren mit einem Klappstühlchen, die jüngeren mit Kind und Kegel. Im Winter haben die Bauern Zeit. Seifenblasen schweben vorüber, die Kühltürme des nahen Kraftwerks paffen Schäfchenwolken in den Himmel. Die Kinder mampfen Zuckerwatte und drängen sich ums Kettenkarussell, die Erwachsenen versuchen ihr Glück in den Würfelbuden oder am Schießstand, wo ein Konterfei des japanischen Premierministers als Zielscheibe dient. Auch die Mitgliederverschiedener Jurys lauschen den Kandidaten.

Der Boden taut auf, der Rundgang gerät zur Schlammschlacht. Hoch über dem Geschehen prangt auf einem Obelisken die Nachbildung einer Terrakottastatue, die quietschvergnügt auf eine Trommel eindrischt. Das Original diente als Grabbeigabe – der Verstorbene sollte auch auf seiner letzten Reise gut unterhalten werden. Zweitausend Jahre liegt das zurück. Doch der Zauber des Erzählens wirkt ungebrochen, allen modernen Massenmedien zum Trotz.
Nach zwei Tagen ist der Spuk vorbei. Im Handumdrehen verschwinden Zelte und Bühnen. Der Winterweizen ist zertrampelt und mit Plastikmüll garniert. Im Frühjahr wird er trotzdem grünen. Die Kulturverwaltung des Landkreises meldet, dass 300.000 Besucher teilgenommen hätten und über 1.500 Künstler. Im nächstgelegenen Theater findet eine Gala für 2.000 Gäste statt, mit großer Revue und Preisverleihung. Shen Zhenzhu und sein Tiger haben einen von zwölf ersten Preisen errungen. Großmeister Li dagegen trollt sich verärgert. Die Jury hat ihn übergangen. Dafür wird er übermorgen zu Hause eine Einlage im Garten des „Weißen Pferdes“ geben, dem ältesten buddhistischen Tempel Chinas. Ha!
Frau Zhao Tao ist nach Jiao Lou eingeladen worden, ein unscheinbares Dorf, nur dass Deng Xiao-ping dort 1947 einmal eine Woche verbracht hat, als Agitator für die Volksbefreiungsarmee. Die Alten erinnern sich noch an das malerische Heerlager und die Soldaten mit ihren Gewehren, aus deren Läufen bekanntlich alle Macht kommt.
Mao starb zu früh, für uns war er ein guter Kaiser. Was wir damals essen mussten, verfüttern wir heute an die Schweine.
Die ältere Landbevölkerung in China kennt nur einen Helden
Auch dieses Dorf besitzt einen buddhistischen Tempel, von dem die kulturrevolution freilich nur die Mauern stehen gelassen hat. Seither prangt, statt des schmerbäuchigen Religionsstifters, ein Mao-Plakat an der Wand. Bis vor kurzem hing auch Marx noch daneben, ein widerspenstiger Buddha aus Trier. „Mao starb zu früh!“, klagt eine 88-jährige Bauersfrau, „für uns war er ein guter Kaiser. Was wir damals essen mussten, verfüttern wir heute an die Schweine.“
Die ältere Landbevölkerung kann oft nur schlecht lesen und schreiben. Gerade der Analphabetismus aber ist der Grund, warum die Kultur des Vortrags hier so lebendig geblieben ist. Die Erzähler waren wandelnde Medien, waren Zeitung, Radio, Nachrichtenagentur und Unterhalter in einem. Drei Tage lang tritt Zhao Tao hier auf, je zweimal für zwei Stunden, das Programm hat sie im Kopf. Sie baut sich neben dem Kramladen an der Straße auf. Gut hundert Zuhörer finden sich ein. Deren Haltung ließe sich als ein erwartungsvolles Lungern beschreiben. Ihr Beifall äußert sich darin, dass sie bleiben.

Yang Wan-shan ist ohne Engagement abgezogen. Nach drei Tagen hat er die halbe Strecke nach Hause zu seiner Mutter hinter sich gebracht. Mit einer Frau ist es ja nichts geworden bei ihm – welche will schon einen heiraten, der sich nichts aus Geld macht? Der lieber auf dem Fahrrad herumstromert und die Trommel schlägt? Am Abend gibt er noch eine Vorstellung für seine Gastgeber im Dorf. Etliche Nachbarn sind gekommen, die Goldene Turteltaube flattert wieder, Yang ist ganz in seinem Element.
Am folgenden Vormittag weht der Donauwalzer durch das Haus von Festival-Chef Zhang Man-tang. „Hallo? Hier spricht Frau Wu aus Shaozhuang. Ein Radfahrer liegt bewusstlos am Straßenrand. In seiner Jacke haben wir diesen Zettel mit Ihrer Telefonnummer gefunden. Was soll nun geschehen?“
Die Zhangs fahren ins Krankenhaus. Schlaganfall – es sieht nicht gut aus für Yang. Am nächsten Tag holen sie auf dem Rückweg noch das Fahrrad ab, vielleicht braucht Freund Yang es eines Tages wieder. Tatsächlich wird er schließlich nach Hause entlassen, doch ein paar Wochen später stirbt er. Zu dem wenigen, was von ihm bleibt, gehören die Videoaufnahmen, welche die Zhangs von ihm gemacht haben. Tokotokotok. Der Fliegende Adler steht seither herrenlos in ihrem Hof.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 3/2017.

19,90€ für Ausgaben Terra Mater jährlich
Terra Mater Schreibset als Geschenk
Zugang zur Terra Mater Society