Mooslechners Merkwürdigkeiten: Professor Dunbars Erkenntnis

WÄHREND WIR SCHWEIGEND DASTEHEN, BEFÜLLT MEIN GEHIRN DIE PEINLICHE LEERE mit einem spontanen Gedanken an den britischen Anthropologen und Primatenforscher Robin Dunbar. Ihm zufolge können wir nicht mehr als maximal 150 enge soziale Beziehungen pflegen. Mich interessierte aber etwas anderes an seiner Arbeit.
(Bevor Sie nun weiterlesen, muss ich klarstellen, dass ich glücklich verheiratet bin.
Andernfalls wäre dieses kleine Erlebnis im Büro der Anfang einer viel größeren Geschichte, die ich nun zu erzählen versuchen möchte.)
Als ich also die Glastür öffne und mich dem Schreibtisch der Kollegin nähere, passiert
etwas: als ob jemand die Herrschaft über meine Sinne und Handlungen übernommen hätte. Ich strecke ihr zum Gruß meine Hand entgegen. Reflexartig tut sie es mir gleich,
unsere Handflächen treffen sich. Im selben Moment wissen wir beide, dass wir eine
Grenze überschritten haben. Mein Blick sucht heimlich nach Desinfektionslösung. Wir plaudern. Ich verlasse das Büro. Auf dem Weg zu einer Besprechung wasche ich mir die Hände. Hat sie es mir gleichgetan?
Mein Gehirn hatte recht, die Aufmerksamkeit auf den Primatenforscher zu lenken. Das Ende der Menschheit offenbart sich in meinem Büro, und ich bin auserwählt, die Geschichte zu erzählen. Das Virus will uns ein für alle Mal vom Planeten tilgen. Der Plan: uns auf Distanz halten, um die Partnersuche zu verunmöglichen.
Das Ende der Menschheit offenbart sich in meinem Büro, und ich bin auserwählt, die Geschichte zu erzählen.
Markus Mooslechner, Terra Mater
Nach Robin Dunbar funktioniert diese nämlich so: Zuerst suchen wir mit den Augen. Wie im Supermarkt, wenn wir das 50 Meter lange Regal nach Milch abscannen. Hat unser Blick fokussiert, sehen wir etwas genauer hin. Auf das Etikett etwa, wegen der Inhaltsstoffe. Bei der Milch interessiert uns der Fettgehalt, beim Menschen Weltanschauung oder
Interessen. Danach wird es abenteuerlich. Es folgt das gegenseitige Beschnüffeln. Wir wollen uns ein Bild vom Immunsystem des anderen machen. Um uns dabei möglichst
nahezukommen, wurde das Tanzen erfunden. Der beste Tänzer hat keine Chance, wenn er nicht gut riecht. Die Natur sucht einen Immun-Gegenspieler für uns. Entsteht daraus Nachwuchs, folgt maximale Widerstandskraft. Wer glaubt, mit Parfum könnte man hier tricksen, irrt: Wir finden jene Gerüche angenehm, die unseren eigenen, natürlichen
Körpergeruch maximal unterstreichen. (Darum ist es hoffnungslos, seiner Angebeteten ein Parfum zu schenken. Nur so nebenbei.)
Haben wir unseren immunologischen Gegenspieler erschnüffelt, geht es munter weiter: Es darf ein wenig geküsst werden. Jetzt geht es darum, herauszufinden, ob die attraktive Hülle auch einen attraktiven Kern hat. Eine Seelenschau, in der Dunbar zufolge in nur zehn Sekunden rund 80 Millionen Bakterien ihre Heimat wechseln. Birgt die Hülle nun auch einen attraktiven Kern, darf aus evolutionärer Sicht in einem nächsten Schritt die
Handbremse gelöst werden.
All das ist seit Anfang März 2020 verboten. Drei Millionen Jahre nach Lucy, einem unserer ältesten Vorfahren, ist damit die Episode unserer Spezies zu Ende. Good night, and good luck.

Zu inspiriert, um zu lesen? Markus Mooslechners Kolumne gibt's auch zum Reinhören.

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