Pompeji: Der zweite Blick in die Vergangenheit

Grinsend sinkt Massimo Osanna in seinen Chefsessel. Er soll jetzt gleich ein paar Fragen zum Thema Pompeji beantworten. Was er liebt: Schwärmen von den überraschenden Funden seiner Archäologen. Erzählen, welche Neuigkeiten sie über das wahre Schicksal der Stadt herausgefunden haben. Und welch große Ideen er selbst hat für die Zukunft der Ruinenstadt aus der Antike.
Doch noch bevor der Direktor der Ausgrabungsstätte Pompeji ausholen kann, rauscht eine Mitarbeiterin ins Zimmer und drückt ihm einen gepolsterten Briefumschlag in die Hand. Osanna langt hinein und zieht einen faustgroßen Kalkbrocken heraus: Er ist ein Teil eines bemalten Wandverputzes, eines Freskos. Auch ein anonymes Bekennerschreiben steckt im Kuvert. Der Absender bittet um Entschuldigung. Dafür, dass er vor vielen Jahren einen Bruchteil der Weltgeschichte von einer pompejanischen Hauswand geschlagen hat. Und dafür, dass er das Souvenir nicht schon längst an seinen angestammten Platzretourniert hat.
„Passiert in letzter Zeit häufig“, sagt Osanna, legt den Umschlag beiseite und den Brocken vor sich. „Wir werden das Stück genau untersuchen. Wir werden seine Form digital erfassen, die Farben analysieren, und vielleicht können wir ermitteln, aus welchem Haus der Stadt es stammt.“

So geht es neuerdings zu am Fuße des Vesuv: Die Stadt Pompeji, am heutigen Golf von Neapel gelegen und im Jahre 79 durch einen Vulkanausbruch zerstört, wird endlich bis ins Detail und nach allen Regeln der modernen Wissenschaft erforscht und konserviert. Damit endet jene düstere Epoche, in der die Ruinenstadt Opfer wurde von Nachlässigkeit, Gier, Unfähigkeit, Korruption und sogar Bombenangriffen.
Bei den aktuellen Ausgrabungen arbeiten Archäologen, Biologen, Geologen, Vulkanologen und Kunsthistoriker zusammen. Der Fotograf Patrick Zachmann, von dem die Bilder auf diesen Seiten stammen, durfte den Entdeckern monatelang über die Schulter schauen. So konnte er dokumentieren, wie die Experten mit modernsten Methoden alte Funde untersuchten und wie sie neue Fresken, Schmuckstücke und Skelette freilegten. Und wie sie damit unser Wissen um das Leben in der Antike erweitern. Denn der Vulkanausbruch hat eine lebendige Stadt konserviert wie Bernstein ein urzeitliches Insekt. Asche und Bimsstein machten aus dem antiken Pompeji eine Zeitkapsel, die jetzt 2.000 Jahre alte Geheimnisse preisgibt.

Verdrängte Gefahr
Ungefähr 20.000 Menschen lebten zur Hochblüte in Pompeji. Geschützt durch eine mächtige Stadtmauer, blühte der Handel, pulsierte südländisches Leben in den Gassen: Im Vorbeigehen holten sich die Pompejaner gesalzenen Fisch mit Brot oder gebackenen Käse von den rund 150 über die Stadtverteilten Fast-Food-Läden, dazu tranken sie gewürzten Wein. Am großzügig angelegten Forum, umrahmt von Amtsgebäuden und Tempeln, flanierten tagsüber Lehrer und Juristen umher und hielten Ausschau nach Klienten.
Weniger prominent platziert waren die zahlreichen Bordelle der Stadt. Hinweise, auf Fassaden gekritzelt, wiesen den Weg: Hic habitat felicitas– hier wohnt das Glück –, lautet eine der Inschriften. Daneben prangt ein stilisierter Phallus, damit wirklich jeder kapierte, was gemeint ist.
Sechs öffentliche Bäder gab es in Pompeji, und 42 Brunnen. Frisches Wasser kam durch ein Aquädukt von den Hängen des rund zehn Kilometer entfernten, 1.900 Meter hohen Vesuv. Dass dieser Berg ein Vulkan war, konnten die Anrainer leicht verdrängen – schließlich hatte es seit drei Jahrhunderten keine Eruption mehr gegeben.
Also ging die Party weiter. Die Reichen und Schönen schmückten ihre Villen mit berückend fein gearbeiteten Fresken. Beliebte Motive waren etwa Porträts. Oder kleine Vögel, die heute noch wirken, als könnten sie gleich davonfliegen.

Ein weiteres beliebtes Statussymbol waren Mosaike, gerne im Eingangsbereich der Villenplatziert. Eines, das später geborgen wurde, zeigt Alexander den Großen in einer Schlacht gegen die Perser. Es ist fast 14 Quadratmeter groß und bestand, als es noch komplett war, aus über einer Million Steinchen. Andere Mosaike dienten als Wandschmuck. Auf den schönsten davon haben die Künstler 30 Steinchen pro Quadratzentimeter zusammengepuzzelt. Die Darstellungen sehen schon aus zwei Meter Entfernung aus wie mit feinen Pinseln gemalt.
All der Luxus war natürlich nichtig, als im Jahr 79 der Vulkan ausbrach. Der römische Advokat und Autor Plinius der Jüngere beobachtete die Katastrophe aus Misenum, einem Ort, 30 Kilometer entfernt vom Kraterrand. Jahre später notierte er über den Ausbruch am 24. August:
Ungefähr 20.000 Menschen lebten vor rund 2.000 Jahren zur Hochblüte in Pompeji. Die Handelsbeziehungen der Stadt reichten bis Indien, ihr Vermögen steckten die Kaufleute in Immobilien und Kunst. All die Pracht war mit einem Schlag vorbei, als im Jahr 79 der Vulkan Vesuv explodierte.
„Eine Wolke erhob sich (…), ihre Gestalt dürfte wohl am ehesten einer Pinie ähnlich gewesen sein. Denn sie wuchs wie mit einem Riesenstamm empor und teilte sich dann in mehrere Äste.“
Giuseppe Mastrolorenzo, der leitende Wissenschaftler am Osservatorio Vesuviano in Neapel, findet die Beschreibung des Plinius glaubwürdig. Mit Kollegen hat er die Eruption rekonstruiert: „Der Vulkan spuckte pro Sekunde rund 100.000 Tonnen Gestein und Lava, das Material stieg über 30 Kilometer hoch in die Atmosphäre.“

Der Untergang
In Pompeji prasseln im Jahr 79 daumennagelgroße Bimsbrocken auf Häuser und Straßen. In einem Gebäude, nicht weit vom Forum entfernt, sind Künstler gerade dabei, ein Fresko zu renovieren. Die Konturen ihres Motivs haben sie schon in den feuchten Kalk geritzt, die Tiegel mit den Pigmenten und Pinsel stehen griffbereit. Aber jetzt lassen sie alles liegen und stehen. Wahrscheinlich rennen sie um ihr Leben.
Schnell bildet sich eine flächendeckende Schuttschicht, pro Stunde wird sie um zehn Zentimeter dicker. In Misenum, so erzählt Plinius, binden sich die Menschen Pölster auf den Kopf und stolpern davon.
Auch in Pompeji läuft eine Frau auf die Straße. Zum Schutz vor Staub und Asche hält sie sich ein Stück Stoff vor den Mund. Doch im losen Bims-Schutt kommt sie nicht weit. Daneben sinken zwei Gestalten, innig umschlungen, zu Boden. Bald sind auch sie von Bims bedeckt.
In einem Haus im nördlich gelegenen Villenviertel kauern vier Frauen und fünf Kinder. Bimssammelt sich auf dem Dach, bis dieses unter der Last zusammenkracht und alle neun Menschen erschlägt. Vor der Tür des Hauses stirbt ein Mann im Ascheregen. Hat er einen Fluchtweg für die Eingeschlossenen gesucht?
Als die Eruption des Vesuv an Energie verlor, fiel die 30 Kilometer hohe Staub- und Gaswolke über dem Vulkan in sich zusammen. Wenig später raste eine 300 Grad heiße Staublawine auf Pompeji zu und vernichtete alles Leben in der Stadt.
Zehn Stunden lang spuckt der Vulkan Gestein, Asche und Gase in den Himmel. „Dann kam weniger Magma nach oben“, erklärt Vulkanologe Mastrolorenzo. Plinius’ Pinie sackte zusammen. Gestein und giftige Gase stürzen aus der Stratosphäre auf die Erde, treffen auf die Hänge des Berges und rasen als 300 Grad heißer und bis zu 300 Stundenkilometer schneller Wirbelsturm auf Pompeji zu. Kurz darauf steigt wieder eine Gaswolke über dem Vulkan auf, wieder regnet Bims auf die Stadt – und dann fegt ein zweiter Sturm die Hänge hinunter. Sechsmal wiederholt sich dieser Zyklus. „Der vierte Sturm war der Killer“, sagt der neapolitanische Vulkanologe Claudio Scarpati, der die Ablagerungen in Pompeji Schicht für Schicht studiert hat. „Wir konnten keine einzige Spur von Leben entdecken, die danach entstanden wäre.“
Nach 24 Stunden endet der Ausbruch. Der Vulkan sinkt in die geleerte Magmakammer in seinem Untergrund, er misst jetzt nur noch 1.300Meter. Dafür ist Pompeji unter einer zehn Meter dicken Schuttschicht begraben.
Erst Mitte des 18. Jahrhunderts dringen Schaufeln in die verschüttete Stadt vor. Raubgräber auf der Suche nach antiken Schätzen wühlen sich durch die verborgenen Ruinen. Sie graben Tunnel, zerstören, was ihnen unnütz erscheint. Münzen, Schmuck, Silbergeschirr und Statuen aber tragen sie davon. Als der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe im März 1787 auf seiner italienischen Reise Pompeji besucht, deprimiert ihn der „wüste Zustand einer erst durch Stein und Asche bedeckten, dann aber durch die Ausgrabenden geplünderten Stadt“.



Schutzlos
Immerhin einige Artefakte lassen die Behörden wegsperren: Plastiken von Fruchtbarkeitsgöttern mit grotesk großen Penissen oder überaus explizite Fresken, mutmaßlich Wandschmuck aus Bordellen und Kneipen, landen im gut gesicherten Gabinetto Segreto. Wer die Stücke sehen will, braucht eine amtliche Genehmigung. Die holt sich der deutsche Gelehrte Karl Otfried Müller im Jahr 1830. Um zu umschreiben, was er sieht, prägt er den Begriff „Pornografie“.
In Pompeji wird derweil weitergegraben. Die Ausgräber finden die Pinsel und die Farbtiegel. Sie entdecken frisch versiegelte Weinkrüge und Überreste von Granatäpfeln. Sie beginnen, jene Hohlräume auszugießen, die erkaltender Schutt und Asche um die Körper der Verstorbenen gebildet hatten. So erfährt die Nachwelt von der Frau mit dem Stofftuch vor dem Mund und von den zwei Umschlungenen. Die Ausgräber nennen sie „die zwei Jungfrauen“.
1916 entdecken Archäologen die heute sogenannte Gladiatorenschule. Fotos von damals zeigen stolze Männer mit Spaten in der Hand, im Hintergrund eine Wand, auf die fünf geflügelte Kriegsgöttinnen gemalt sind. Jede mit einem Speer in der einen und einem Schild in der anderen Hand. Ein Kunstschatz, höchst erhaltenswert. Doch im September 1943 erreicht der Zweite Weltkrieg die Ruinen. Um Neapel zu erobern und Nachschubwege in den Süden zu kappen, schickten die Alliierten Bombenflugzeuge in die Region. 160 Sprengsätze treffen Pompeji, auch die Gladiatorenschule. Nach dem Krieg werden die Schäden notdürftig ausgebessert, allerdings mit minderwertigem Stahlbeton, der die Erosion des verbliebenen Gebäudes nur noch beschleunigt.

Unverdrossen graben die Archäologen weiter. Doch gemessen an modernen Maßstäben dokumentieren und konservieren sie ihre Funde recht nachlässig. Der beginnende Verfall des Amphitheaters wird kurzerhand mit dick aufgetragenen Betonschichten kaschiert. Ab den 1990er-Jahren streunen herrenlose Hunde über das Areal. Touristen schlagen sich ihre Souvenirs aus unbewachten Wänden. Im Jahr 2010 reicht ein heftiges Gewitter, um die Gladiatorenschule einstürzen zu lassen. Von den einst ausgegrabenen fünf Kriegsgöttinnen ist heute nur noch eine erhalten. Und selbst der hat jemand das Gesicht herausgeschlagen.
Immerhin rüttelte dieser Mauerfall die Weltöffentlichkeit auf. Die Regierung in Rom und die EU investierten ab 2014 rund 104 Millionen Euro in die Rettung der Ruinen. Seither ist vieles geschehen: Die alten Funde werden aufgearbeitet und erneut untersucht. Dabei entpuppten sich etwa die beiden „Jungfrauen“ als Männer. Im Nordosten der Stadt hat Direktor Massimo Osanna neue Ausgrabungen veranlasst. Eigentlich nur, um die steile Böschung zwischen ausgegrabenen und noch verschütten Bereichen wetterfest zu machen und neue Schäden zu verhindern. Doch selbst bei diesem bescheidenen Unterfangen entdeckten die Archäologen neue Wunder: Fresken, Schmuckstücke, einen Fast-Food-Laden. Die erschlagenen Frauen und Kinder.
Zum ersten Mal ging Pompeji im Asche- und Steinhagel des Vulkans zugrunde. 1.700 Jahre später erweckten Ausgräber die Stadt zu neuem Leben – verschuldeten damit aber ihren zweiten, schleichenden Untergang: Einmal freigelegt, begannen Häuser, Tempel und Thermen rasch zu verfallen.
Weil sie jetzt sorgfältig vorgehen, entgeht den Archäologen nicht einmal eine zarte Kohleinschrift an einer Hauswand. „Hier hat er sich völlig überfressen“, höhnte ein antiker Graffiti-Künstler, der sein Werk auch noch datierte: Es war der 17. Oktober. Der Vulkan muss also später im Jahr explodiert sein, als in der Überlieferung des Plinius angegeben wird. „Das erklärt endlich, warum wir jungen Wein und frische Herbstfrüchte gefunden haben. Und warum viele der Opfer so warm angezogen waren“, sagt Osanna.
Bis heute sind zwei Drittel der 66 Hektar großen Stadt ausgegraben. Und der Rest? Den will der leitende Archäologe Francesco Muscolino späteren Generationen überlassen. „Die werden noch bessere Instrumente und Methoden haben als wir.“ Für ihn ist schon die Aufarbeitung des bisher Entdeckten lohnend genug.
Sein Chef Osanna wiederum will noch mehr Touristen in die Stadt locken. Neue Besucherzentren an den Eingängen sollen dem Status des Weltkulturerbes gerecht werden, vielleicht wäre sogar eine Einschienenbahn am Areal möglich. „Ich will Pompeji in die Köpfe möglichst vieler Menschen bringen“, sagt er. „Nur dann wird es ihnen ein Anliegen sein, dieses einzigartige Geschenk der Vergangenheit zu bewahren.“ Deshalb auch seine offensive Öffentlichkeitsarbeit: Sobald die Archäologen etwas Neues finden, erfährt die Welt davon. Auf @massimo_osanna, dem persönlichen Instagram-Kanal des Chefs.
Mittlerweile schlendern durchschnittlich 15.000 Besucher pro Tag durch die Gassen Pompejis, ein Drittel mehr als noch vor ein paar Jahren. Ihre Eintrittsgelder fließen in die Konservierung und Erforschung der Stadt. Gut so, sagt Osanna zum Abschied, denn „es ist unsere Pflicht, diese tote Stadt am Leben zu erhalten“.
Und wer daheim noch Teile alter Fresken hat, der möge sie ihm doch bitte schicken.

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