Leonardos letzte Geheimnisse

DIE GEWALTIGE EICHENHOLZTRUHE AUF DEM FUHRWERK IST VOLL MIT SCHÄTZEN VON ERSTAUNLICHEM WERT. Doch nicht Gold und Edelsteine reisen im Frühjahr 1519 mit dem jungen Adelsmann Francesco Melzi von Frankreich nach Mailand; es sind ungleich größere Kostbarkeiten. Die so gewichtige wie geheimnisvolle Kiste birgt die kühnen Ideen eines Genies, das wie ein Wolkenbruch auf die Welt herniedergefallen war: Leonardo da Vinci.
Mit Melzi, seinem begabten Schüler und treuesten Mitarbeiter, kehrt das geistige Erbe eines reichen Forscherlebens in die Heimat zurück. Heute, mehr als fünfhundert Jahre später, ist von den tausenden Seiten, auf denen der vor allem als Maler der „Mona Lisa“ berühmte Leonardo furiose Entwürfe als Baumeister, Ingenieur und Erfinder skizziert hat, kaum ein Fünftel erhalten.
Der Großteil der Sammlung wird nach Leonardo Tod (und spätestens nach dem seines Erben Melzi) schmerzhaft in alle Winde zerstreut und liegt – im besten Fall – vergessen und verkannt in Kellern, Kisten und Regalen von Bibliotheken und Museen in Europa und der Welt.
Bis diese Schätze gehoben werden, kann man das erstaunliche Wissen nur erahnen, das der große Gelehrte der Renaissance erschlossen, erworben, erarbeitet hat. Bereits das Bekannte stellt den Mann aus dem Dorf Vinci auf eine Stufe mit Einstein, Newton oder Archimedes und in die Reihe der größten Geister aller Zeiten. Dass Leonardos Gemälde „Salvator mundi“ 2017 für umgerechnet rund 380 Millionen Euro versteigert wurde, ist fast ein Ärgernis: Der aus den Fugen geratene Kunstmarkt reduziert den Mann aus Vinci naturgemäß auf den Maler und übersieht, wie vielen wissenschaftlichtechnischen Entwicklungen er den Weg bereitet hat.
Der Einfallsreichtum des mit allen physikalischen Elementen vertrauten Konstrukteurs prägt seine Zeit – mit komplexen Maschinen, futuristischen Verkehrsmitteln und gewaltigen Infrastrukturprojekten. Leonardos Visionen ahnen bereits viele Errungenschaften unseres modernen Technikzeitalters voraus: Seine bis heute zum Teil ungelösten und uninterpretierten Geheimnisse lassen es möglich erscheinen, sogar noch unsere Zukunft beeinflussen zu könnten.
Zum einen war Leonardo pragmatisch unterwegs, mit seinen Dampfkanonen, Sprengschiffen und Maschinengeschützen. Sie begründen seinen Ruhm in einer Zeit ständiger militärischer Konflikte zwischen Städten und Fürsten mit permanenten Eroberungsgelüsten. Dann war er der an Technologie interessierte Tüftler, der Druckpumpe und Spinnmaschine, Fallschirm und Spiegelteleskop entwarf. Und natürlich der Philantrop mit Fantasie, der Brücken, Bewässerungsanlagen, Kanäle und Schleusen entwarf. Mit seinem Weitblick will er der Stadt seiner Jugend, Florenz, einen Schifffahrtsweg und Hafen bauen, damit man über den Fluss Arno im lukrativen Orienthandel mitmischen kann und nicht hinter die großen Seestädte Genua und Venedig zurückfällt.
Andere Einfälle des rastlosen RenaissanceIngenieurs entwachsen erst jetzt, mithilfe moderner Technologie, dem Embryonalstadium. Die Ideenskizze eines „selbstfahrenden Karrens“ (carro semovente) aus dem Jahr 1478 etwa wird zwar schon 1932 unter Benito Mussolini – wenn auch erfolglos – nachgebaut und patriotisch als „Fiat von Leonardo“ gefeiert. Doch erst im Jahr 1975 gelingt es Historiker und Leonardo-Spezialist Carlo Pedretti, die Skizze richtig zu lesen und Steuerung und Antrieb korrekt zuzuordnen.
Eine geniale Erfindung, leider jahrhundertelang missverstanden.
Paolo Galluzzi, Direktor des Museo Galileo in Florenz, zu Leonardos selbstfahrendem Karren
In den Neunzigern programmiert US-Robotikingenieur Mark Rosheim schließlich ein am Bildschirm funktionierendes dreidimensionales Computermodell. Im Jahr 2004 endlich gelingt es dem Museum für Wissenschaftsgeschichte dank der Zusammenarbeit weiterer Kunsthistoriker, Roboterexperten und Computergrafiker, ein 1,68 mal 1,49 Meter großes Holzmodell von „Leonardos Automobil“ korrekt nachzubauen und in Fahrt zu bringen – wenn auch nur für ein paar Dutzend Meter.
„Eine geniale Erfindung“, staunt Museumsdirektor Paolo Galluzzi, die leider „jahrhundertelang missverstanden“ worden sei. Denn, so der Experte: „Die Skizze war praktisch perfekt, doch auf dem Blatt findet sich keinerlei Beschriftung, nicht einmal die geringste Anmerkung.“ Das komplexe Ineinanderwirken der verschiedenen Teile, so Galluzzi, „erklärt sich ausschließlich aus der Zeichnung“. Das hölzerne Gefährt mit dem uhrwerkähnlichen Federmechanismus ist vermutlich gerade für kurze Strecken konstruiert worden, vielleicht für eine der damals beliebten spektakulären Bühnenfantasien an den Fürstenhöfen. Denn auch im Showbiz der Renaissance setzt sich Leonardo schon mit 21 Jahren an die Spitze des technischen Fortschritts und wirkt mit seinen verwegenen Inszenierungen laut Galluzzi wie ein „Steven Spielberg seiner Epoche“.
Ingenieur und Autor Mark Rosheim versammelt in seinem Buch „Leonardos verlorene Roboter“ eine Kollektion programmierbarer Maschinen für die frühneuzeitliche Unterhaltungsindustrie, etwa jenen mechanischen Löwen, der, konstruiert für die Krönung von François I. von Frankreich (1515), selbständig geht, seine Brust öffnet und die königlichen Lilien präsentiert.
Der raffinierte Verheimlicher
Rosheim zeigt zudem auf, dass scheinbar isolierte Fragmente aus verschiedenen Manuskripten Leonardos in Wirklichkeit zusammenhängen: Bisher unverstandene Konstruktionsteile fügen sich zu funktionsfähigen Maschinen zusammen. Warum? Wie viele Erfinder ist auch Leonardo, so enthüllt der britische Biograf Charles Nicholl, ein misstrauischer Geheimniskrämer. Aus Furcht vor Ideendiebstahl tarnt er gewinnversprechende Denkansätze durch verwirrende Fragmentierung.

Klug macht das Genie auch die Erfahrung. Einer seiner Mitarbeiter, der deutsche Spiegelmacher Johannes, fällt ihm auf, weil dieser in der Werkstatt der Eisengießer „jeden Tag sehen und wissen wollte, was dort gemacht wurde, und es dann überall herumerzählte“. Offenbar lässt Leonardo Leute aus verschiedenen Fachgebieten getrennt voneinander arbeiten, um den Gesamtplan vor ihnen verbergen zu können.
In diesem Fall geht es um ein Projekt, das ins 20. Jahrhundert vorauseilt: Leonardo will die Sonnenenergie im großen Stil nutzen, etwa für Schmelzöfen. „Die durch Hohlspiegel zurückgeworfenen Strahlen“, schreibt er in sein Notizbuch, hätten einen Glanz, „der dem der Sonne an ihrem Standort gleicht“. Und er berechnet auch gleich die verfügbare Energiemenge.
Eine andere Notiz über Brennspiegel tarnt er irreführend mit dem Titel „Perspectiva“. In mehreren Skizzen auf blauem Papier gewährt Leonardo aber immerhin Einblick in seine energiewissenschaftlichen Vorstellungen: Seine Kraftstation ist eine pyramidenförmige Struktur aus vielen Facetten, die „so viel Kraft in einem einzigen Punkt versammelt“, dass Wasser „in einem Heiztank, wie sie in Färbereien benutzt werden“, zu kochen beginnt – frühe Solartechnik, wenn auch noch ohne Speichermöglichkeit.
Wie kommt Leonardo auf dieses Forschungsgebiet? Ahnt er die moderne Photovoltaik voraus? Finden sich in noch unentdeckten Schriftstücken möglicherweise gar Andeutungen zur Nutzung der gewaltigen Fusionsprozesse im Sonneninneren? „Wer zur Quelle gehen kann, der gehe nicht zum Krug“, schreibt Leonardo. Zur genaueren Erforschung der Sonne trägt er eine blaue Brille, da „das menschliche Auge nicht unverwandt in den Glanz des Sonnenkörpers blicken kann“.
In dieser abergläubischen Zeit steigern solche Schutzmaßnahmen die Aura des Leonardo ins Mysteriöse: Nach Biograf und Journalist Charles Nicholl arbeitet Leonardo in seinem Labor in der Villa Belvedere „als Magus (Hexer) oder Adept (Schüler) mit seinem langen grauen Bart, der blauen Brille und seiner geheimen Vorrichtung zum Einfangen des Sonnenlichtes“.
Das schöne Blau der Luft wird durch die Dunkelheit hervorgerufen, die dahinter ist.
Leonardo da Vinci (1452 - 1519)
Versuche in Alchemie sind damals für die Alchemisten lebensgefährlich, ebenso anatomische Studien, in denen Leonardo dem Geheimnis des Lebens nachspürt. Für die allmächtige Kirche ist das Teufelszeug, mit der Menschen Gottes Schöpfung in die Quere kommen. Ihr Heilmittel ist der Scheiterhaufen: Noch ein Grund für Leonardo, mit seinen erstaunlichen Erkenntnissen zu den Naturgesetzen vorsichtig umzugehen. „Bereits 100 Jahre vor Galilei, der das Prinzip der Erhaltung der Energie formulierte, erforschte Leonardo dieses Gebiet“, schreibt Wissenschaftsautor Thomas Ritter. „In seinen Arbeiten tauchen moderne Begriffe wie Trägheit, Moment, Leistung, Reibung, Schwerpunkt und Gleichgewicht auf.“
Leonardo studiert auch mit Leidenschaft Mechanik und Optik. Dabei entschlüsselt er eine Reihe von Naturgesetzen, etwa die Bewegungs und Hebelgesetze. Er findet heraus, dass ein wahrgenommenes Bild auf der Netzhaut verkehrt herum steht und erst im Gehirn wieder umgedreht wird.

Das mit Abstand berühmteste der nur 13 von ihm erhaltenen Gemälde wirkt wie ein Versuch, „Mona Lisa“ in 3D oder sogar in einer Art Holografie zum Leben zu erwecken wie einst Pygmalion seine Statue der Galatea: Bis an sein Lebensende übermalt Leonardo das Porträt deshalb immer wieder, bis nicht weniger als 31 hauchfeine Farbschichten übereinander liegen.
„Licht und Schatten sollten ineinander übergehen, ohne Linien oder Grenzen, nach der Art des Rauchs“, beschreibt der Künstler seine weiche Maltechnik Sfumato. Besonders gut lässt diese sich am Lächeln der Mona Lisa erkennen: Augen und Mundwinkel scheinen im Schatten zu liegen, Abgrenzungen sind kaum erkennbar. Nicht zuletzt aus dieser Unklarheit entsteht das berühmte rätselhafte Lächeln der Florentinerin.
Beherrscher des Wassers
Auch mit der Hydraulik befasst sich Leonardo intensiv. Seine Kenntnisse darin sind die Basis für Pläne zu Entwässerungs und Kanalisierungsarbeiten. Nach sorgfältigen Berechnungen legt er seinem damaligen Gönner, dem Herrscher von Mailand, Ludovico Sforza, im Jahr 1485 ein Projekt von selbst heute unerhörten Dimensionen vor: „Am Meer oder am Ufer eines großen Flusses sollten insgesamt zehn Städte mit jeweils 10.000 Häusern gebaut werden, um die Hauptstadt zu entlasten“, berichtet Thomas Ritter. „Aufgrund eines ausgeklügelten Systems von Kaminen sollten diese Städte sogar rauchfrei sein.“
Wie das? Bis heute ringen moderne Großstädte weltweit um wirksame Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung durch Smog und Feinstaub. Weiß Leonardo um die Schädlichkeit dieser Belastungen? Die Metropolen seiner Zeit sind deutlich kleiner, doch auch das Mailand der Renaissance zählt über 100.000 Einwohner, die mindestens genauso eng zusammenleben wie heute ihre 1,3 Millionen Nachfahren.
Leonardo plant seine Städte auf zwei Ebenen: die obere für den Adel, die untere für das Volk. Der Entwurf, so Thomas Ritter, „erinnert in seiner Kühnheit an die Wolkenkratzer des 20. Jahrhunderts“. Finden sich in den verschollenen Schätzen also auch verschlüsselte Antworten auf aktuelle Fragen der Überbevölkerung, des Verkehrs oder anderer Umweltprobleme?
In anderen Visionen entwirft Leonardo Bausteine für eine bessere, schönere, gerechtere Welt. Er erfindet zerlegbare Wohngebäude als Vorläufer der modernen Fertighäuser. Er arbeitet Pläne für die Trockenlegung der malariaverseuchten Pontinischen Sümpfe bei Rom aus, die erst Mitte des 20. Jahrhunderts gelingt. Eine aktuelle Gefahr für die Menschheit skizziert Leonardo bereits 1516 auf zehn Zeichnungen: Seine „Sintflut“ wirkt heute wie eine frühe Warnung vor dem Anstieg des Meeresspiegels als Folge einer unaufhaltsamen Erderwärmung. Live-Bilder als Vorlage liefern ihm Unwetter, Regenstürme und Überschwemmungen in Florenz.
Leonardo-Forscher Nicholl sieht in einigen Katastrophenszenen „den Feuerball, den Explosionspilz und den Fallout einer Wasserstoffbombe“. Die Zeichnungen „besitzen eine solche Kraft, dass sie auf dem Papier zu bersten scheinen“. Und Leonardo notierte: Bei der Explosion bleibe den Menschen zur Flucht nur so viel Zeit, „wie man braucht, um ein Ave Maria zu beten“.
Die Sammlungen (seiner Werke) sind großartig, doch den wahren Leonardo findet man eher in seinen Notizbüchern.
Charles Nicholl, Autor der Biographie „Leonardo da Vinci: The Flights Of The Mind“
Hätte der Militäringenieur Leonardo auch die größte Zerstörungskraft der Geschichte erahnt, könnte sich darüber ebenfalls etwas auf den verschollenen Seiten finden. Deshalb zählt auch Nukleartechnik zu den Feldern, auf denen manche Forscher in Leonardos verschollenem Wissensschatz zumindest Gedankenspiele vermuten.
Charles Nicholl sieht die Sache nüchterner. Für ihn sind Leonardos albtraumhafte Armageddon-Fantasien womöglich nicht aus konzentrierter Verstandesarbeit entstanden – sondern infolge einer fiebrigen Erkrankung des Genies in der Hitze eines römischen Sommers.
Perpetuum mobile
Eine Merkliste in Leonardos Notizen führt zwischen den üblichen Laborgegenständen der Zeit wie Zunderbüchse und Blasebalg auch eine „unendliche Bewegung“ an, unterlegt mit drei Reihen Hieroglyphen. Tatsächlich wagt sich der unerschrockene Universalerfinder in jungen Jahren an die Konstruktion eines Perpetuum mobile. Allerdings gibt er das ewige Sehnsuchtsprojekt einer Wundermaschine, die ohne Energiezufuhr endlos läuft, bald auf. „Oh, Ihr Erforscher der beständigen Bewegung“, spottet er. „Wie viele eitle Hirngespinste habt Ihr geschaffen bei dieser Suche! Gesellt Euch also lieber zu den Goldmachern.“
Trotzdem: Leonardo-Fans vermuten hartnäckig eine Zeitmaschine in seiner verschollenen Hinterlassenschaft, hat er Gedanken dazu doch formuliert. Immerhin kennt die Astrophysik entsprechende Phänomene – doch sollte sich Leonardo wirklich mit Reisen in Vergangenheit und Zukunft beschäftigt haben, dann höchstens als Gedankenspielerei. In seinen „Profetie“ beschreibt er etwa „etwas aus der Erde, das mit seinem Atem Städte zerstören wird“. Schon Leonardos Zuhörer an den Fürstenhöfen gruselten sich gern, wenn er solche Geschichten erzählte.
Erfolgreicher war Leonardo auf einem anderen Gebiet: Als entscheidendes Hindernis für die „selbstbewegenden Räder“ seiner Entwürfe erkennt er den Reibungsverlust. Grundlage der Reibungslehre fester Körper sind zwei nach Guillaume Amontons benannte Gesetze – die jener freilich erst 200 Jahre nach dem Genie aus Vinci ausformulierte.
Am 2. Mai 1519 stirbt Leonardo da Vinci mit 67 Jahren in den Armen seines größten Gönners und Verehrers, des französischen Königs François I. Bald nach der Beisetzung kehrt Privatsekretär Francesco Melzi mit dem kostbaren Erbe in die Heimat zurück. In Mailand wird Melzi, so Nicholl, „der beharrliche Hüter und Herausgeber jener unendlichen Menge von Schriften und Zeichnungen, die uns – vielleicht noch mehr als die Gemälde – einen dunklen Zugang zu Leonardo bieten, als wären sie selbst eine Art Gedächtnis, durchsetzt mit fragmentarischen Aufzeichnungen aus seinen alltäglichen Beschäftigungen, den Geheimnissen seiner Träume, den Höhenflügen seines Geistes“.
Nach Melzis Tod aber verschleudert dessen Sohn Orazio den einzigartigen Schatz. Kunstfreunde schmücken damit ihre Sammlungen, Händler fleddern ihn für ihre Geschäfte, Diebe stehlen sich reich – und die Welt wird ärmer. Nur zufällig kehrt ab und zu ein Kleinod wieder, so wie die beiden Notizbücher, die ein amerikanischer Romanistikprofessor 1967 in der Nationalbibliothek von Madrid aufstöberte – bei der Suche nach mittelalterlichen Balladen.
Leonardo: Die Sensationen seines Lebens
IN DIE SPANNE NUR EINES LEBENS BRACHTE LEONARDO DA VINCI zumindest drei Biografien unter: Er brillierte als Maler und Zeichner, als visionärer Stadtplaner und als Erfinder. Die Folge seiner rastlosen Vielseitigkeit war allerdings fehlende Konstanz und Konsequenz. So kam es, dass er nur einen Bruchteil seiner Ideen bis zur Umsetzung verfolgte. Eine Ausnahme bildet wohl die Malerei. Mitunter arbeitete er über Jahre an einem einzigen Werk. Insgesamt haben nur 19 Gemälde überdauert, die zweifelsfrei von ihm stammen. Und was hat Leonardo da Vinci sonst noch im Verlauf seines Lebens realisiert? Der Versuch eines Überblicks.
15. 4. 1452: Geburt in Anchiano, einem Ortsteil der toskanischen Gemeinde Vinci, als außereheliches Kind des Notars Piero da Vinci und der Magd Catarina. Die ersten fünf Jahre verbringt er bei seiner Mutter.
1457: Umzug zum Vater. Aus dessen Ehen hat Leonardo zwölf Halbgeschwister.
1469–1476: Leonardo wird Lehrling, Mitarbeiter und Modell in der Werkstatt des Renaissancekünstlers Verrocchio.
1472: Leonardo schließt seine Lehre ab; sein Vater finanziert ihm eine erste eigene Werkstatt.
1473: Aus diesem Jahr stammt eine Zeichnung vom Fluss Arno, seine älteste bis heute erhaltene Arbeit. Vermutlich hat er in dieser Studie mehrere Ansichten kombiniert.
1476: Leonardo und drei weitere Männer werden in Florenz wegen Sodomie angeklagt – Homosexualität galt damals als Verbrechen –, aber nicht verurteilt.
1481: Beginn der Arbeit für am Altarbild Anbetung der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland (davon ist nur ein Entwurf erhalten). Leonardo bewirbt sich beim Herzog von Mailand als Festungsingenieur, Waffentechniker, Architekt und Bildhauer. Er könne „auch malen“, schreibt er.
1482: Leonardo entwirft ein Reiterstandbild, das aus Bronze gegossen werden soll. Dieses wird 1493 als sieben Meter hohes Tonmodell enthüllt, das später von französischen Truppen als Zielscheibe missbraucht und zerstört wird. 1999 wird in Mailand ein Replikat präsentiert.
1485/86: Architektonische Mitarbeit am Castello Sforzesco in Mailand, Organisation der Müllabfuhr (als Folge der Pestepidemie 1484/1485). Studien zu Geometrie, Statik, Dynamik und menschlicher Anatomie.
1487: In Mailand entwickelt sich Leonardo zum führenden Künstler und Organisator von Festen und höfischen Zeremonien. Er entwirft Bühnenbilder, Kostüme und einen Badepavillon für Isabella von Aragon, die Frau des Herzogs Gian Galeazzo Sforza.
1490: Aus diesem Jahr stammt die Darstellung des Vitruvianischen Menschen: Die Zeichnung eines idealisierten Mannes und seiner Proportionen ist das bis heute am häufigsten vervielfältige Bildmotiv Leonardos.

1494–1497: Im Auftrag von Ludovico Sforza, dem Herzog von Mailand, gestaltet Leonardo „Das Abendmahl“ im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie. In Secco-Technik (in Öl) angebracht, ist das 9 × 4 Meter messende Wandgemälde heute eines der berühmtesten der Welt.
1499: Übersiedelung nach Venedig. Leonardo arbeitet als Architekt und Ingenieur und entwirft bewegliche Barrikaden zur Abwehr von Kriegsschiffen.
1500: „Salvator mundi“ entsteht – ein Ölgemälde, das Jesus Christus zeigt. Das 45 Zentimeter schmale Werk wurde im November 2017 für 450 Millionen Dollar von der Kultur- und Tourismusbehörde Abu Dhabis ersteigert.
Stets muß die Praxis auf guter Theorie beruhen.
Leonardo da Vinci (1452 - 1519)
1502: Leonardo arbeitet für Cesare Borgia, entwirft Verteidigungsanlagen, zeichnet einen detaillierten Stadtplan von Imola und plant einen Kanal, der Florenz mit der Küste verbinden soll. Entwurf einer Brücke (mit rund 360 Meter Spannweite) über das Goldene Horn in Istanbul. Das Projekt wird von Sultan Bajazet II. verworfen und 500 Jahre später in einer kleineren Variante in Ås (Norwegen) realisiert.
1503: Leonardo arbeitet zwei Jahre lang im Palazzo Vecchio in Florenz am Wandbild „Schlacht von Anghiari“. Bevor er das Werk vollenden kann, zieht er nach Mailand. Das Bild wird später übermalt. In den Folgejahren entsteht mit „Mona Lisa“ das Porträt der Florentiner Seidenhändlergattin Lisa del Giocondo. An diesem Tafelbild arbeitet Leonardo bis zu seinem Tod.
1504: Tod des Vaters; Leonardo geht nach Vinci und regelt den Nachlass.
1510: Leonardo seziert für anatomische Studien Leichen und skizziert auf 240 Blättern detailliert, was er sieht. Etwa einen Fötus im Mutterleib und ein Herz, dessen Funktion er richtig erkennt.
1515: Leonardo baut für den Krönungszug des französischen Königs François I. einen mechanischen Löwen: In seiner Brust lassen sich Klappen öffnen, um Lilien zu zeigen.
1516: König François I. bietet Leonardo das Schloss Clos Lucé an der Loire als Alterssitz an, Apanage inklusive.
2. 5. 1519: Leonardo stirbt mit 67 Jahren in Clos Lucé.
Kurioses über Leonardo
Der Zeremonienmeister: Für seine Dienstgeber kreierte Leonardo spektakuläre Bühnenshows und baute eigene Erfindungen ein – etwa einen mechanischen Löwen. Er war damit wohl einer der ersten Eventmanager.
Der Vegetarier: Seine Tierliebe machte Leonardo zum Vegetarier, aber zu einem mit Stil: Er schätzte Rezepte aus dem ersten gedruckten Kochbuch „De honesta voluptate et valetudine“.
Der Männerliebhaber: Seine Schüler und Modelle waren oft seine Liebhaber; der Berühmteste darunter war Salai.
Der Linkshänder: Er schrieb mit der linken Hand und in Spiegelschrift von rechts nach links. So blieb die Tinte seiner Schrift unverwischt.
Der zerstreute Professor: Alles beginnen und hinterfragen, nicht alles finalisieren – das war Leonardos Schwäche. Auf Konstruktionszeichnungen fand sich oft auch eine Einkaufsliste.
Das Universalgenie: Leonardo erfand auch Musikinstrumente, etwas ein Streichklavier, eine mechanische Trommel und eine Laute mit Tierkopf als Resonanzkörper.
Der Schlaflose: Leonardo soll täglich nur neunzig Minuten geschlafen haben, verteilt auf vier Einheiten.
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 5/2018.

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