Hallstadt: Das Silicon Valley der Bronzezeit

Als der Bergmeister Johann Georg Ramsauer im November 1846 nahe des Hallstätter Salzbergwerks eine Schottergrube anlegen ließ, entdeckten seine Arbeiter dicht unter der Erdoberfläche Reste eines menschlichen Skeletts sowie Metall- und Keramikobjekte, die recht altertümlich erschienen. Für Ramsauer nichts Ungewöhnliches; schon sein Vorgänger Karl Pollhammer hatte ihm erzählt, dass er hier beim Umgraben des Gemüsebeets manchmal auf Knochen, Schalen und Töpfe gestoßen war. Ungewöhnlich hingegen, dass in der Schottergrube neben dem ersten Grab ein zweites auftauchte – und am Ende des Jahres sieben freigelegt waren.
Der vielseitig interessierte Ramsauer erkannte als Erster, dass er und seine Kollegen tagtäglich auf dem Weg zum Stollen einen prähistorischen Friedhof passierten. Fortan stellte der Bergmeister Teile seiner Salinen-Mannschaft ab, um im Hochtal systematisch nach Gräbern zu suchen. Die Funde waren so sensationell, dass selbst der im nahen Bad Ischl auf Sommerfrische weilende Kaiser Franz Joseph zweimal die Ausgrabungen im Salzbergtal besuchte, mit großem Hofstaat.

Insgesamt legte Ramsauers aus Bergleuten bestehendes Team in 17 Jahren 980 Gräber frei. „Ein unfassbares Tempo“, staunt Anton Kern, Direktor der Prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien. Er selbst leitet seit 25 Jahren jeden Sommer die Forschungen am Hallstätter Gräberfeld und hält derzeit bei 110 untersuchten Gräbern. Die Sorgfalt, mit der heute jede Fundstelle freigelegt und dokumentiert wird, lässt sich mit jener vor 170 Jahren gar nicht vergleichen. Trotzdem attestiert Kern dem Bergmeister eine für damalige Verhältnisse äußerst professionelle Vorgehensweise: „Ramsauer legte beispielsweise umfangreiche Protokolle, Grabbeschreibungen, Aquarelltafeln und Gräberfeldpläne an, die uns auch heute noch wertvolle Informationen zur Struktur des Friedhofs liefern.“
Anhand der alten Pläne schätzt Kern die Größe des prähistorischen Friedhofs auf rund zwei Hektar und 4.000 bis 5.000 Gräber. Eine unglaubliche Dichte, so Kern. „Dabei gleicht kein Grab dem anderen. Und in fast jedem finden sich Grabbeilagen, die zum Teil unvergleichlich kostbar sind!“

Neben zahlreichen Schwertern, Prunkdolchen, Gefäßen und Schmuck aus Bronze wurden auch Luxusgüter gefunden, die aus ganz Europa und darüber hinaus importiert wurden: Glasschalen aus dem Adria-Raum, Goldschmuck aus Griechenland und ein Schwertgriff, dessen Elfenbein aus Afrika oder Asien stammen muss.
Organisiert wie ein Konzern
Die Frage, warum sich vor Tausenden von Jahren ausgerechnet in diesem abgeschiedenen Hochtal am Fuße des Dachsteins Menschen ansiedelten, die mit fantastischen Reichtümern bestattet wurden, stellte sich Johann Georg Ramsauer nicht. Der Hobbyarchäologe hatte als Betriebsleiter des Hallstätter Salzbergwerks ja jeden Tag mit der Quelle des Reichtums zu tun: ausgedehnte Salzlager, die noch heute abgebaut werden.
Bis in die frühe Neuzeit war Salz in Mitteleuropa ein wertvolles Handelsgut. Das weiße Gold, das als Konservierungs-, aber auch als Zahlungsmittel diente, war nur an wenigen Orten zu finden, Salzproduktion und -handel waren daher schon in prähistorischer Zeit bedeutende Wirtschaftszweige. Die salzhaltigen Quellen dürften seit jeher Tiere und in der Folge auch Menschen in das Hallstätter Hochtal gelockt haben. Funde von Steinbeilen belegen, dass die Gegend seit Beginn der Jungsteinzeit vor 7.000 Jahren regelmäßig von Menschen besucht wurde. Der erste Salzabbau im Berg lässt sich vor 3.500 Jahren – also in der Bronzezeit – nachweisen, demnach ist das Hallstätter Salzbergwerk das älteste der Welt.
Dabei gleicht kein Grab dem anderen. Und in fast jedem finden sich Grabbeilagen, die zum Teil unvergleichlich kostbar sind.
Anton Kern, Grabungsleiter
Erstaunlich, wie organisiert und technisch fortschrittlich der Abbau betrieben wurde: Der prähistorische Bergbau ähnelte in vielen Bereichen frappierend modernen „Industriekonzernen“. So war die für Massenproduktion notwendige Arbeitsteilung gang und gäbe. Anhand von Spuren, die Sehnen und Muskeln an Knochen hinterlassen, können Anthropologen heute feststellen, welche Muskelgruppen bei Lebzeiten besonders beansprucht wurden.
Die Hallstätter Männer belasteten vor allem jene Muskeln, die Schlagbewegungen ausführen – sie dürften also für den Salzabbau verantwortlich gewesen sein. Bei den Frauen waren jene Muskelgruppen an Beinen und Armen stärker ausgeprägt, die für das Tragen schwerer Lasten benötigt werden. Selbst die Skelette von Kindern weisen Abnutzungserscheinungen auf, die darauf hinweisen, dass diese jahrelang Lasten auf dem Kopf transportiert haben. Die reichsten Leute Mitteleuropas leisteten körperliche Schwerstarbeit, von Kindesbeinen an.

Die prähistorischen Bergleute dürften hervorragende Logistiker gewesen sein, brauchte der Bergbau doch einen geregelten Nachschub an Materialien, die es in dem engen, schwer zugänglichen Hochtal nicht gab. Holz für Schachteinbauten, Bronze für Pickel und Äxte, Bast für Seile mussten teilweise von weit her angeliefert werden. Dazu Nahrungsmittel, Kleidung, Geschirr und alles, was zum täglichen Leben benötigt wurde. Grabungsleiter Anton Kern: „Hallstatt muss wie eine große Firma funktioniert haben, die sich von außen beliefern lässt.“
Wie jedes moderne Unternehmen versuchte der Hallstätter Bergbau, sein Produktprogramm zu erweitern. Bei den Ausgrabungen im Salzbergtal stießen Archäologen auf quadratische Blockbaukonstruktionen aus der Bronzezeit. Im Boden dieser Bauten fanden sich massenhaft Tierknochen, vor allem von ein- bis zweijährigen Schweinen: offensichtlich Surbecken, in denen mithilfe des Salzes Schweinefleisch haltbar gemacht wurde.

Ziemlich sicher wurden die Tiere nicht vor Ort gezüchtet, sondern halb zerlegt ins Hochtal geliefert. Möglich, dass das Fleisch zur weiteren Veredelung in den Bergwerksstollen gelagert wurde, um dort zu Speck und Schinken zu reifen. Die Menge an gefundenen Knochen erlaubt den Schluss: Hier war eine Fleischindustrie tätig, die mit ihren Waren Handel betrieb.
„Silicon Valley“ der Bronzezeit
Der vielleicht faszinierendste Aspekt der prähistorischen Unternehmer in Hallstatt ist die technische Raffinesse, mit der sie nach Salz schürften. „Vor allem der bronzezeitliche Bergbau war sehr innovativ. Er schaffte es, für jeden Arbeitsschritt maßgeschneiderte Lösungen zu erfinden“, erzählt der Archäologe Hans Reschreiter, der die Ausgrabungen in den Hallstätter Bergwerken leitet.
Im Hochtal wurden für damalige Verhältnisse „Hightechwerkzeuge“ verwendet – in einem mit Holz und Bronze arbeitenden „Silicon Valley“. Ein Beispiel sind die Pickel, mit denen riesige Kammern – die größte ist 20 Meter hoch, 20 Meter breit und 250 Meter lang – in den Berg geschlagen wurden. Die Schäftung (der Stiel und der das Bronzeteil aufnehmende Kopf) wurde aus einem Stück Buchen- oder Eichenholz gefertigt. Lange rätselten die Archäologen, wie man mit dem in einem merkwürdigen Winkel montierten Pickel arbeiten konnte. Erst vor kurzem, sagt Hans Reschreiter, sei man auf die wahrscheinlichste Lösung gekommen. Mit dem Pickel wurde nicht aus der Schulter heraus von oben nach unten geschlagen, sondern er wurde wie eine Sense bewegt – eine horizontale Drehbewegung aus der Körpermitte heraus, die Kraft sparte.

Das abgeschlagene Salz wurde in Tragsäcke aus ungegerbter Rinderhaut gefüllt, die nur einen Schultergurt besaßen. Statt des zweiten Gurts war ein Balancierknüppel montiert, der, wenn man ihn losließ, dafür sorgte, dass sich die 30 Kilogramm Fülllast von allein leerte, ohne dass man den Tragsack heben musste – ebenso einfach wie genial! Eine in Einzelteile zerlegbare Holzstiege mit drehbar gelagerten Auftritten und ein aus Lindenbast hergestelltes Seil mit einer Tragkraft von mehr als einer Tonne sind weitere Funde, die den erstaunlich hohen Technisierungsgrad der Hallstätter Bergleute belegen.
Beide sind auch Beispiele für die einmalige Fundsituation: Die salzhaltige Umgebung in den Stollen konservierte alle organischen Materialien. Pickelstiele, Grubenhölzer, Leuchtspäne, Fell- und Ledermützen, Lederschuhe, Textilien, Rucksäcke aus Leder, Schnüre und Seile aus Gras und Bast bis hin zu Speiseresten und menschlichen Exkrementen: Alles, was die Bergleute vor Jahrtausenden zurückgelassen haben, hat sich bis heute erhalten.
„Dieser Betriebsabfall“, so Archäologe Hans Reschreiter, „blieb zusammen mit dem abgebauten Gestein auf dem Boden der Abbauhallen liegen und ist durch den hohen Bergdruck wieder fest mit dem umgebenden Gebirge verwachsen.“ Um die Funde aus diesen teilweise sechs Meter hohen Halden zu bergen, müssen Reschreiter und sein Team sie mit Presslufthämmern freilegen – eine ganz andere Art der Archäologie, die sonst im Feld mit feinen Spachteln und Pinseln arbeitet.

Wo ist das Dorf?
Das prähistorische Gräberfeld und die Stollen machen Hallstatt heute zu einer der aufregendsten archäologischen Fundstellen Europas und ermöglichen tiefe Einblicke in die Arbeitswelt der Bergleute. Dennoch bleiben uns die Menschen in Hallstatt merkwürdig fern. Wir wissen zum Teil bis ins Detail, was sie gegessen (zum Beispiel eine Art Ritschert, ein im Ostalpenraum noch heute üblicher Eintopf aus Gerste, Hirse, Bohnen und Fleisch) und welche (oft farbenprächtige) Kleidung sie getragen haben. Aber wir kennen keine Namen und wissen nicht, wie die Menschen gewohnt haben. Wir kennen ihre Gräber und haben keine Ahnung von ihrer Religion: Es fehlen nicht nur schriftliche Zeugnisse (erst die Römer brachten die Schrift in den Alpenraum), sondern größtenteils auch Spuren ihrer Siedlungen.
Nur aus der jüngeren Eisenzeit sind Siedlungsbefunde erhalten – weil die Bergleute, nachdem das Salzbergtal samt seiner Bergwerke durch große Erdrutsche verschüttet wurde, in höhere Regionen zogen und ihre Bauten auf der sogenannten Dammwiese in einem Hochmoor errichteten, das die Holzreste bis heute konservierte.
Dass die Menschen täglich vom Hallstätter See die 300 Höhenmeter zum Bergwerk zurücklegten, ist unwahrscheinlich. „Wir vermuten, dass die Siedlungen in der Nähe der Einstiegsschächte gewesen sein müssen“, erzählt Grabungsleiter Anton Kern. Da diese aber zumindest zweimal von Muren verschüttet wurden, müsste man durch meterhohe Gesteinsmassen graben, um Spuren zu finden – ein unmögliches Unterfangen.

Wir vermuten, dass die Siedlungen in der Nähe der Einstiegsschächte gewesen sein müssen.
Anton Kern, Grabungsleiter
Kerns Grabungsteam konzentriert seine Untersuchungen daher seit neun Jahren auf den Rand des prähistorischen Friedhofs, um vielleicht hier auf Siedlungsbefunde zu stoßen. „Theoretisch können hier Hunderte von Blockhäusern gestanden haben, bislang konnten wir aber keines nachweisen“, sagt Kern. Die Spannung unter den Archäologen war groß, als man vor fünf Jahren im Grabungsabschnitt Langmoosbach-Süd auf eine Holzkonstruktion aus der Bronzezeit stieß. Konserviert durch eine dicke Schicht Letten, ein schmierig-fetter grauer Schieferton, der in Verbindung mit Wasser ein sauerstoffarmes Milieu erzeugt, das die Verrottung des Holzes verhindert. Die Konstruktion weist Besonderheiten auf, die man vorher noch nicht gefunden hat. So sind die Holzlagen nach außen versetzt, bilden also eine schräge Wandform.
Könnte der Blockbau als Wohngebäude der Bergleute gedient haben? Die schräge Wandform und die Größe von vier mal vier Metern lassen eher nicht darauf schließen. Zudem fanden die Archäologen bei den diesjährigen Ausgrabungen innerhalb der Holzkonstruktion einen zweiten, kleineren Blockbau, der den bekannten Surbecken gleicht – vielleicht eine Art Super-Surbecken der bronzezeitlichen Fleischindustrie. „Wir wissen es nicht“, sagt Anton Kern, der ungern Vermutung aufstellt. Tierknochen und Werkzeuge am Grund der Konstruktion weisen auf ein Surbecken hin, jedoch liegen zwischen den Archäologen und dem Boden noch an die 70 Zentimeter Letten.









Bis man die Schicht abtragen kann, wird die Fundstelle vor dem Winter erst einmal wieder mit der lehmartigen Erde zugeschüttet – die beste Konservierungsmethode, bis die nächste Ausgrabungssaison im Juli 2019 beginnt. Welche Funktion die Doppelbeckenkonstruktion wirklich hatte und ob man nicht in ihrer Nähe doch noch auf Siedlungsbefunde stößt, werden die nächsten Jahre zeigen. Anton Kern jedenfalls ist optimistisch, dass man dem Bergarbeiterdorf doch noch auf die Spur kommt: „Hallstatt“, sagt er, „ist immer für Überraschungen gut!“
Das Kreuz mit den Kelten
Wer Hallstatt sagt und die Kelten meint, macht es sich zu einfach. Vor allem populärwissenschaftliche Werke sagen gerne, dass die prähistorischen Bewohner Hallstatts Kelten waren. Doch der platten Gleichsetzung „Hallstatt =Kelten“ mag der Ausgrabungsleiter in Hallstatt, Dr. Anton Kern, nicht zustimmen. Schon der Begriff „Kelten“ ist problematisch, wird er doch je nach Fachgebiet anders ausgelegt.
Waren Kelten jene Menschen, die keltisch gesprochen haben, wie die Sprachwissenschaftler meinen? Oder jene, die laut Archäologen eine ähnliche materielle Kultur besaßen? Oder gar jene mit den gleichen Gebräuchen und Glaubensvorstellungen, wie Ethnologen behaupten? An eine große, geschlossene Volksgruppe mag keines der Fachgebiete glauben. Als Archäologe hält sich Anton Kern an die materielle Kultur: „Die Kelten waren verschiedene Stämme oder Clans, die eine ähnliche Alltagskultur aufwiesen.“
Theoretisch können hier Hunderte von Blockhäusern gestanden haben, bislang konnten wir aber keines nachweisen
Anton Kern, Grabungsleiter

Diese entwickelte sich allmählich über Jahrhunderte, hatte je nach Region unterschiedliche Einflüsse und Ausprägungen und trat in der Latènezeit (die jüngere Eisenzeit, ca. 400 v. Chr. bis 15 v. Chr.) am deutlichsten hervor. Die ältere Eisenzeit, zu der die meisten Funde am Gräberfeld in Hallstatt gehören und die deshalb auch Hallstattzeit genannt wird (ca. 800–400 v. Chr.), möchte Kern noch nicht keltisch nennen. „Die Träger der Hallstattkultur waren nicht Kelten, aber eine der wichtigen Komponenten, aus denen die Kelten dann entwachsen sind.“ Die jüngsten Gräber am prähistorischen Friedhof (also jene, die um 400. v. Chr. angelegt worden sind) gehören dann schon zur Keltenzeit. Und ganz eindeutig wird es für jene Bergleute, die um 200 v. Chr. auf der höher gelegenen Dammwiese in Hallstatt gelebt haben. „Das waren“, sagt Anton Kern, „gestandene Kelten.“
Diese Geschichte erschien erstmals im Terra Mater Magazin 6/2018.

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