Der Fluch der Schatzinsel

EIN STRAND, ÜBERSÄT MIT GRÄSSLICH ZU-GERICHTETEN LEICHEN SAMT IHREN ABGESCHLAGENEN KÖPFEN. Auf Rumfässern hockende Piraten, die sich betrinken. Dazu andere, die Kisten voller Gold und Schmuck bewachen, mit großen Augen glotzend. Im Hintergrund formatfüllend die übermenschliche Gestalt ihres Kapitäns, eine Pistole im Anschlag.
So martialisch illustriert ein alter Stich jenes Gemetzel, das sich um 1820 auf der Kokosinsel zugetragen haben soll, einem Eiland knapp 500 Kilometer vor der Pazifikküste Costa Ricas. Der Seeräuber Benito Bonito, auch bekannt als „Dom Pedro mit dem blutigen Schwert“, nutzte die Insel als versteckten Hafen und ließ dort angeblich Schätze im Wert von Millionen Dollar vergraben. An jenem Abend, den der Stich illustriert, meuterte Bonitos Crew. Sie wollte einen größeren Anteil an der Beute – und es kam zu einem mörderischen Aufstand, der 34 Männer das Leben kostete. Dom Pedro aber überlebte, auch in der Mär. Die Existenz des gebürtigen Spaniers – oder vielleicht auch Portugiesen – Benito Bonito ist historisch nicht belegt: Wahrscheinlicher hat die Überlieferung ihn zusammengesetzt aus den Schicksalen vieler räuberischer Freibeuter und Piraten. Und er ist auch nicht der Einzige, der auf der dicht bewaldeten Kokosinsel Reichtümer versteckt haben soll. Der schottische Kapitän William Thompson vergrub hier angeblich den Kirchenschatz von Lima – und damit neben mehreren hundert Kilogramm Edelmetall auch eine überlebensgroße Marienstatue aus purem Gold, besetzt mit 1.684 Edelsteinen. Allein deren Gesamtschätzwert liegt – je nach Fantasie – zwischen 220 Millionen und drei Milliarden Dollar.
Die Isla del Coco wurde dank all dieser Geschichten zum Symbol für ein Phänomen, das seit Jahrhunderten die menschliche Fantasie beflügelt: die Schatzinsel. Möglich auch, dass das Eiland –mit knapp 25 Quadratkilometern bloß ein Viertel von Sylt – das Vorbild für den gleichnamigen Romanklassiker des schottischen Autors Robert Louis Stevenson abgab. (Obwohl Stevenson zeit-lebens eine Menge Inseln besucht hatte, die wohl alle irgendwie in die Handlung mit eingeflossen sind.) Sicher jedoch ist die Kokosinsel ein Sinnbild für ein Grundproblem unseres Daseins: An Illusionen lässt es sich trefflich zugrunde gehen.
Der Seeräuber Benito Bonito ist nicht der Einzige, der auf der Kokosinsel vor Costa Rica unermessliche Reichtümer versteckt haben soll. Der schottische Kapitän William Thompson vergrub hier angeblich den Kirchenschatz von Lima, inklusive einer Marienstatue aus purem Gold im Wert von bis zu drei Milliarden Dollar.
Jede Geschichte wurde mit jedem Weitererzählen immer phantastischer
Eine davon beginnt im Dezember 1880. Das Auswandererschiff „Highflyer“ nimmt Kurs auf Honolulu, über Kap Hoorn. Mit an Bord: der 23-jährige August Gissler aus Remscheid. Äußerlich hat Gissler das Zeug für die Hauptrolle in einem Heldenepos: fast zwei Meter groß, blaue Augen, durchdringender Blick, roter Vollbart. Ein zeitgenössischer Journalist vergleicht den Hünen später gar mit Michelangelos Moses-Statue.
Von Fernweh gepackt, will der Fabrikantensohn Gissler dem langweiligen, großbürgerlichen Alltag entkommen. Das gelingt ihm spektakulärer als erhofft: Auf der Überfahrt lernt er den jungen Portugiesen Manoel Cabral kennen, der ihm das Tagebuch seines verstorbenen Großvaters zeigt. Dieser war angeblich mit dem Piraten Bonito auf Kaperfahrt gegangen und Augenzeuge geworden, wie Teile von dessen Beute auf einer Insel namens La Palma im Südpazifik vergraben wurden. Gissler versteht nicht alles, wovon Cabral in einer für Gissler fremden Sprache schwadroniert, aber er notiert alles auf Punkt und Beistrich. Nutzlose Notizen, solange sich die Insel nicht identifizieren lässt – doch wer weiß…
Sieben Jahre vergehen, während derer August Gissler auf einer Plantage bei Honolulu arbeitet. Dann wird durch eine erneute Zufallsbegegnung die Fährte wieder frisch: Ein anderer deutscher Auswanderer namens Bartels macht ihn mit einem alten Matrosen bekannt, Old Mac, der im Besitz einer Schatzkarte ist. Gisslers Überzeugungstalent muss beträchtlich gewesen sein: Old Mac erlaubt ihm, einen Blick auf die Karte zu werfen. Darauf verzeichnet: die Isla del Coco. Zu Gisslers Erstaunen deckt sich die Inselskizze mit den Angaben von Manoel Cabrals Großvater über La Palma.
Besonders folgende Passage aus dessen Tagebuch weckt wilde Hoffnungen in ihm: „Im Jahre 1821 haben wir einen Schatz von ungeheurem Wert vergraben. Hinterher pflanzten wir darüber eine Palme und nahmen Kompasspeilungen, die diese Stelle mit Nordost bis Ost,1/2Ost von dem östlichen Berg und 10 Grad östlich von dem westlichen Berg zeigen.“ Auf der Karte ist dieser Ort mit zwei sich kreuzenden Peilungslinien markiert, neben denen die Worte tierra alta stehen, Hochland. Laut Old Mac, der Gissler nun sogar das Dokument übergibt, soll der Schatz unter einem Felsvorsprung in zwei Meter Tiefe liegen.
Gisslers Euphorie kennt kein Halten mehr. Mit Bartels und dessen Sohn bricht er 1888 Richtung Kokosinsel auf – um dort ernüchtert festzustellen, dass er nicht der Einzige ist, der hier Schätze vermutet. In der costaricanischen Hafenstadt Punta Arenas trifft Gissler auf drei Kanadier, die gerade von der Suche auf der Isla del Coco zurückgekehrt sind – mit leeren Händen. Kurioserweise sind sie im Besitz einer Schatzkarte eines anderen Kapitäns, die von ungeahnten
Reichtümern auf dem Eiland kündet. Eigentlich hätte Gissler sogar in Deutschland vom Mythos der Insel erfahren können: 1872 war in der beliebten Zeitschrift Die Gartenlaube ein Artikel über den „65-Millionen-Schatz auf der Cocosinsel“ erschienen.
Doch all das ficht Gissler ebenso wenig an wie der Ausstieg seines Weggefährten Bartels. Vorerst verschlägt es Gissler ins chilenische Valparaíso, wo er sich das Geld für die Überfahrt auf die Kokosinsel verdienen wird. Auf dem Weg dorthin sieht er die Isla del Coco zum ersten Mal mit eigenen Augen, in Nebel gehüllt und aus der Ferne. In Chile lernt Gissler den nächsten Bruder im Geiste kennen, einen Kapitän einer amerikanischen Walfanggesellschaft, der 1875 ohne großen Erfolg die Kokosinsel durchstöbert hat. Immerhin: Ein Matrose hatte damals einen mit Goldmünzen gefüllten Lederbeutel gefunden.
Im Jahre 1821 haben wir einen Schatz von ungeheurem Wert vergraben. Hinterher pflanzten wir darüber eine Palme und nahmen Kompasspeilungen, die diese Stelle mit Nordost bis Ost, 1/2 Ost von dem östlichen Berg und 10 Grad östlich von dem westlichen Berg zeigen.
Tagebucheintragung des Matrosen Old Mac zum Schatz auf der Kokosinsel
Für Gissler ein Ansporn, seine Bemühungen zu intensivieren: Er gründet ein Schatzsuchersyndikat und verkauft innerhalb von zwei Monaten Aktien für 3.000 Dollar. Genug, um eine 350-Tonnen-Brigg zu chartern, auf der ihn 13 Teilnehmer begleiten – unbezahlt, nur mitGarantie auf einen Anteil des Schatzes.
Als die Glücksritter im Februar 1889 auf der Isla del Coco landen, betreten diese ein karibisches Paradies: mit labyrinthischem Regenwald bewachsene Klippen, hunderte Höhlen und Grotten, zahllose Kokospalmen und zig Wasserfälle. Doch nur der Anblick ist traumhaft. Das Klima auf der Insel ist drückend schwül, zehn Monate im Jahr regnet es, teilweise in Form heftiger Wolkenbrüche. Von einem Basislager aus erkunden die Männer die Insel. Bald finden sie jene Inschriften, die dutzende Schiffsbesatzungen vor ihnen hinterlassen haben, aber keinerlei Hinweise auf die Bande von Benito Bonito. Doch Gissler bleibt optimistisch: Zu eindeutig scheinen die Hinweise auf den Schatz auf Old Macs Karte; vor allem entsprechen zwei Vorgebirgsgipfel offenbar den speziellen Markierungspunkten. Per Kompass ermittelt Gissler eine Stelle mit einem kleinen Palmenwald: Hatten die Piraten nicht an der Grabungsstelle eine Palme gepflanzt?
Allerdings findet sich der benannte „westliche Berg“ nicht, weshalb die Schatzsucher besser passende Palmengruppen suchen und sich dabei wochenlang im Dauerregen durch das Erdreich wühlen. Erfolglos: Auch rätselhafte Inschriften auf Felswänden an einem Flussufer lassen sich nicht dechiffrieren und liefern selbst nach Monaten keine Hinweise auf Schatzverstecke.
Bald stellt sich zudem ein dringlicheres Problem ein: Hunger. Die Männer sind mehr mit Nahrungsbeschaffung denn Schatzsuchen beschäftigt und verwahrlosen zusehends. Vom Schiff, das sie wieder abholen soll, ist nichts zu
sehen; erst im Oktober 1889 geht ein anderes Schiff vor Anker und bringt sie in die Zivilisation zurück.
Gissler lässt sich von diesem Desaster nicht entmutigen, er organisiert von den Aktionären seines Syndikats neues Geld und kehrt 1892 mit einer besser geplanten Expedition zurück. Mit Hilfe einer amtlichen Karte glaubt er, das Versteck endlich bestimmen zu können. Vier Wochen lang hebt man Schächte an einem Kiesstrand aus, die mit jeder Flut wieder volllaufen, und findet – wieder nichts.
Der Wahnsinn um die Kokosinsel findet auch in den frühen 1930er-Jahren kein Ende, diesmal scheitern Autorennfahrer Malcolm Campbell und Hollywood-Star Errol Flynn. Ein Berliner wiederum vertraut einer Schatzkarte aus dem Nachlass eines Walfängers. Seine Metalldetektoren schlagen aus – und der Glückliche ist um einige alte Küchengeräte reicher.
Das Heer der Glücksritter reißt nicht ab
Andere Glücksritter tauchen auf, verlieren die Geduld, verschwinden wieder. Nur Gissler lässt nicht locker. Er hat in der Zwischenzeit mehr vom Gerücht des Kirchenschatzes von Lima erfahren.Und kennt längst die Geschichte des Briten John Keating, der dank einer anderen Karte angeblich Teile dieses Schatzes gefunden hat. 1892 zahlt Gissler üppige 700 Dollar für diese Karte, das damalige Jahresgehalt eines Richters. Aber vielleicht eine lohnende Investition: Das Dokument bezeichnet eine Stelle von „drei mit Goldmünzen gefüllten Behältern im Wert von fünf Millionen Dollar“. Gissler stellt 1893 in den USA eine zehnköpfige Expedition auf die Beine, gräbt an der besagten Stelle – und findet wieder nichts. Die Angaben auf der Karte? Offensichtlich Humbug.
Gissler Ehrgeiz hat sich zur Obsession gewandelt. In Costa Rica beantragt er eine Konzession zur Gründung einer Kolonie auf der Kokosinsel; danach fährt er zurück nach Deutschland, um sich Verstärkung zu holen. Er gründet erneut eine Aktiengesellschaft, überredet 13 Familien, mit ihm auf der Insel zu siedeln, heiratet.
Drei Jahre lang mühen sich die Kolonisten, das Eiland urbar zu machen. Ein Sägewerk und Blockhütten werden errichtet, Gemüse, Tabak, Kaffee und Bananen gepflanzt. Man trotzt Feuerameisen und Ratten – und gräbt nebenbei kilometerlange Tunnel, um endlich den Schatz zu finden. Gisslers Arbeit und neue Gerüchte ziehen weitere Schatzsucher an. Um den Zustrom zu lenken, ernennt der Präsident von Costa Rica am11.November 1897 August Gissler zum Gouverneur der Kokosinsel.
Alle Expeditionen scheitern, nur Gissler gibt nicht auf: Weiter gräbt er Schacht um Schacht, deren Spuren noch heute zu sehen sind. 1907 gibt er einem Reporter der „New York Times“ ein Interview. Kein Wort verliert er über den Schatz, rühmt vielmehr die „reichhaltige Erde“, die „großartigen Wälder“ und das „hervorragende Klima“. Und gibt zu, dass er einen Aufstand der Siedler unter Androhung von Waffengewalt niederschlagen musste. Zu dem Zeitpunkt sind er und seine Frau längst die einzigen Inselbewohner.
1908 resignieren auch sie. Gisslers einzige Ausbeute in all den Jahren: sechs Goldmünzen und die Überreste eines goldenen Handschuhs. 1935 stirbt Gissler verarmt in New York: Er hatte das Glück gesucht – und dabei den Verstand verloren. Der Wahnsinn findet indes kein Ende. In den frühen 1930er-Jahren reisen etwa der Autorennfahrer Malcolm Campbell und der Hollywood-Star Errol Flynn auf die Insel. Der Berliner Wolfgang Lietz hat – wie sollte es anders sein – im Nachlass eines Walfängers eine Schatzkarte entdeckt und gründet einen Schatzsucherverein (Cocos e.V.), der die Insel mit Metalldetektoren durchstöbert. Sie finden jedoch nur alte Küchengeräte.
Die menschlichen Invasoren gefährden längst den tatsächlichen Schatz der Insel: den einzigen tropischen Regenwald im Ostpazifik. 1978 stellt Costa Rica das Eiland deshalb unter Naturschutz, der Strom der Schatzsucher versiegt.
Was bleibt? Die Kokosinsel ist mit ihrer Ansammlung an historisch inspirierten Mythen, obskuren Dokumenten und verzweifelten Jägern der Prototyp aller Schatzinseln. Nur eine reicht noch ein wenig heran: Oak Island an der Ostküste von Nova Scotia, Kanada. Als drei junge Männer 1795 diese Insel erkunden, stoßen sie auf eine Senke im Boden, ihrer Meinung nach künstlich angelegt. Und in der Tat finden sie auch offensichtlich von Menschen hinterlassene Spuren. Die Scharen folgender Schatzsucher – auch der spätere US-Präsident Franklin Delano Roosevelt gehört einem solchen Konsortium an – müssen jedoch wiedererfolglos abziehen.
Geld verdienen andere. Zum Thema Oak Island etwa an die 50 Buchautoren, die das Phänomen ausschlachten. Und der History Channel: Der widmet einer Gruppe moderner Schatzjäger die Doku-Serie „The Curse of Oak Island“, die inzwischen in die sechste Staffel geht. Den höchsten Profit mit Geschichten über Piraten und verborgene Reichtümer erzielte bislang Walt Disney Pictures: Die „Fluch der Karibik“-Filme spielten 4,5 Milliarden Dollar ein.
So gesehen hätte sich August Gissler ein Beispiel an einem Zeitgenossen nehmen sollen, dem er wohl sogar persönlich begegnet ist: Allein mit Feder und Papier kreierte Robert Louis Stevenson die erfolgreichste Schatzinsel aller Zeiten.

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